Monday, September 6, 2021
Corona-Infektion in Schulen: Sie kriegen es nicht geregelt
Corona-Infektion in Schulen: Sie kriegen es nicht geregelt
Christian Parth vor 14 Min.
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Die Corona-Inzidenz an Schulen steigt gerade in Nordrhein-Westfalen rasant. Es fehlt an Luftfiltern und vor allem einem Plan, wer in Quarantäne muss und wer nicht.
Schüler in Bonn© Thilo Schmuelgen/Reuters Schüler in Bonn
Wenn es um die Gesundheit ihres Kindes geht, will Tanja W. keine Experimente machen. Seit knapp drei Wochen schickt sie ihren Sohn, 14 Jahre alt und schwerer Asthmatiker, nicht mehr in die Schule. Der Junge ist bislang erst einmal geimpft, und bevor er nicht die volle Immunisierung besitzt, also zweite Spritze plus zwei Wochen, wird er am Präsenzunterricht nicht mehr teilnehmen. "Er ist vorerkrankt und meine Pflicht als Mutter ist es, die Gesundheit meines Kindes zu schützen", sagt die 43-Jährige. "Auch er fühlt sich zu Hause sicherer." Das Jugendamt hat sie vorsichtshalber schon kontaktiert. "Mein Kind befindet sich im zivilen Ungehorsam", habe sie der Behörde mitgeteilt. Natürlich wolle auch sie, dass ihr Kind lerne, aber nicht unter den aktuellen Bedingungen.
Tanja W. wohnt in Iserlohn im Märkischen Kreis und dort liegt die Corona-Inzidenz der 5- bis 14-Jährigen bei derzeit knapp 400. Seit dem Schulstart vor drei Wochen sind die Zahlen dort geradezu explodiert, wie in vielen Orten in Nordrhein-Westfalen. Wuppertal meldete am 31. August 2021 in der Gruppe der 5- bis 9-Jährigen eine Inzidenz von 785, bei den 10- bis 14-Jährigen waren es sogar 832. Auch andere Kommunen verzeichnen in diesen Altersgruppen Werte von stellenweise weit über 500. Auch bei der Gesamtinzidenz liegt NRW aktuell an der Spitze im bundesdeutschen Ranking: Das bevölkerungsreichste Bundesland kommt auf 119, danach folgt Hessen mit 103.
Tanja W. wirft der Landesregierung von Armin Laschet (CDU) vor, sich nicht ausreichend auf ein Szenario vorbereitet zu haben, das viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler exakt so vorhergesehen haben. Steigende Zahlen zum Schulstart, aber spätestens bis Herbst. Doch passiert sei nichts, sagt W. Auch Luftfilter gebe es noch immer nicht in der Schule ihres Sohnes. Deshalb fordert sie nun eine Aussetzung der Präsenzpflicht im Unterricht. W. hat eine Facebook-Gruppe gegründet, 400 Mitglieder sind es inzwischen. "Ich lasse mich nicht zwingen, bei einer Pandemie mit einem potenziell tödlichen Virus mein vorerkranktes Kind in die Schule zu schicken."
Dass die NRW-Landesregierung der Forderung von W. und ihren Mitstreitenden folgen wird, ist unwahrscheinlich. Im Gegenteil. Ministerpräsident Laschet hat neben dem Wahlkampf schon genug mit den Kindern zu tun, die unfreiwillig zu Hause in Isolation stecken. Und mit den politischen Gegnern, die ihn und sein Führungspersonal nun deshalb hart attackieren.
Allein in NRW befinden sich derzeit etwa 30.000 Schülerinnen und Schüler in Quarantäne, aber nur rund 6.500 von ihnen wurden positiv getestet. Kaum hat die Schule begonnen, tobt erneut der wohlbekannte Corona-Streit zwischen Team Vorsicht und Team Lockerung. Irgendwo dazwischen steckt die NRW-Landesregierung. Und vor allem: Sie steckt im Chaos. Denn einheitliche Regeln darüber, wer genau zu Hause bleiben muss, gibt es nicht.
Das Land hatte zwar per Erlass das Kleeblatt-Modell verfügt. Demnach müssen nur noch das positiv getestete Kind und die direkten Sitznachbarn in Quarantäne. Allerdings – anders als von vielen Expertinnen und Experten gefordert und in anderen Ländern gängige Praxis – nach wie vor für 14 Tage. Um das Chaos perfekt zu machen, gilt: Die letzte Entscheidung treffen die Gesundheitsämter. Einige davon konnten mit der Anweisung der Düsseldorfer Landesregierung offenbar wenig anfangen. Immer wieder wurden von den Behörden ganze Klassen isoliert, die Kontaktverfolgung vielerorts den Schulen überlassen. In Köln etwa wurden ganze Klassenverbände in eine Vorabquarantäne gesteckt, weil die Ergebnisse der Pool-Testungen erst nach vier Tagen übermittelt wurden, hatte der Kölner Stadt-Anzeiger berichtet. Seine Behörde sei derzeit "an der Grenze zur Überlastung", räumte der Leiter des Kölner Gesundheitsamts in einem Gespräch mit der Zeitung ein.
Eltern- und Lehrerverbände sind fassungslos. Sie werfen Bund und Ländern vor, Eltern, Schüler und Lehrer trotz der Erfahrungen aus den vergangenen Monaten, trotz der vehementen Forderung, den Präsenzunterricht unbedingt durchzuziehen, erneut im Stich zu lassen. "Wenn Zehntausende Kinder von den Gesundheitsämtern zum Teil wahllos in Quarantäne geschickt werden, droht die nächste Bildungskatastrophe", sagt Sven Christoffer, Vorsitzender des Verbands lehrer nrw. "In vielen Schulen stehen die Lehrkräfte vor fragmentierten Klassen, und zu Hause sitzen Kinder 14 Tage in Quarantäne, ohne die Möglichkeit, sich freizutesten. Das ist widersinnig."
Der Landeselternverband spricht von "Wirrwarr", auch der Philologen Verband NRW zeigt sich entsetzt. "Wieder einmal müssen Schülerinnen und Schüler sowie Lehrkräfte das uneinheitliche und undifferenzierte Vorgehen der Politik und die unterschiedliche Handhabung der Quarantäneregelungen durch die regionalen Gesundheitsämter ausbaden. Das kann und darf nicht sein", sagte die Vorsitzende Sabine Mistler. Dass Präsenz- und Distanzunterricht erneut parallel oder versetzt abgehalten werden müssten, "hält auf Dauer niemand durch". Eine Neuregelung der Quarantäne sei dringend erforderlich.
In Düsseldorf tobt nun politischer Zank. Die SPD ließ am Donnerstag kurzerhand den Landtag einberufen. Sondersitzung unter der Überschrift: "Schutz unserer Kinder und Jugendlichen in NRW sichern – Kontrollverlust in der Pandemie beenden!" SPD-Fraktionschef Thomas Kutschaty folgte den Forderungen der Verbände: sofortige Neuregelung der Quarantänerichtlinien, weg vom Kleeblatt-Modell und Verkürzung der Isolierung. Bei einer positiven Testung müsse die ganze Klasse in Quarantäne, aber wie bei Reiserückkehrern mit der Option, sich nach fünf Tagen freizutesten.
Immer wieder griff Kutschaty Laschet persönlich an. Der verließ schließlich den Saal. "Es ist fahrlässig, was hier passiert", sagte Kutschaty und warnte davor, dass "Tausende Kinder" an Long Covid erkranken könnten. Josefine Paul von den Grünen warf der Landesregierung Verantwortungslosigkeit vor. "Beenden Sie das Quarantänechaos, das sie schon wieder angerichtet haben." Die CDU konterte mit Statistik. Im Verhältnis zur Gesamtschülerzahl von 1,8 Millionen in NRW sei die Zahl der in Quarantäne befindlichen Schülerinnen und Schüler gering, ebenso wie die Wahrscheinlichkeit, dass sie schwer erkranken würden. NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) lobte das "herausragende Testsystem" in NRW. Nur damit sei es überhaupt möglich gewesen, all die positiven Fälle zu identifizieren und Infektionsketten zu unterbrechen. Laumann betonte, dass die Sieben-Tage-Inzidenz allein nicht mehr der Leitindikator für die Bewertung des Infektionsgeschehen sein dürfe. Einen neuen gibt es offiziell jedoch auch noch nicht.
Allerdings warnen Wissenschaftler davor, die hohen Inzidenzen einfach hinzunehmen. "Die Durchseuchung der Kinder mit dem Coronavirus hat begonnen. Die Infektion wird um sich greifen", sagt Reinhold Förster, Immunologe von der Medizinischen Hochschule Hannover, im Gespräch mit ZEIT ONLINE. Es sei falsch, das einfach laufen zu lassen. "Wir wissen immer noch zu wenig über Long Covid. Aber wir dürfen nicht das Risiko eingehen, Kinder einem Leben mit Dauerkopfschmerzen, mangelndem Geschmacksempfinden oder chronischer Fatigue zu überlassen." Allerdings weiß auch Förster kein Rezept, wie eine Quarantäne idealerweise geregelt werden sollte. "Es ist eine sehr schwierige ethische Abwägung zwischen Infektionsrisiko einerseits und den Folgen sozialer Isolation andererseits." Da man mit der Existenz des Coronavirus auch künftig werde leben müssen, könne nur das Impfen aus diesem Dilemma führen.
Jörg Dötsch, Chef der Kölner Unikinderklinik, warnt trotz der Zahlen vor allzu großer Besorgnis. "Das ist nicht überraschend, wir hatten das genauso erwartet." Auch er führt die hohen Inzidenzen zumindest teilweise auf die ausgiebigen Testungen zurück. Schwere Erkrankungen aber seien selten, sagt er. Derzeit würden deutschlandweit wöchentlich zwischen zehn und 15 Kinder wegen einer Covid-Erkrankung als stationäre Aufnahme an das Register der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie gemeldet. Ein einziges Kind musste im August intensivmedizinisch behandelt werden. Besonders gefährdet seien Kinder mit Vorerkrankungen wie Down-Syndrom und Adipositas.
Gemeinsam mit der Stadt Köln will Dötsch zeitnah einen Modellversuch starten, bei dem die Quarantäne für die meisten Schülerinnen und Schüler ganz wegfallen würde. Demnach soll nur noch das infizierte Kind isoliert, die übrige Klasse mit regelmäßigen Lolli-PCR-Tests überwacht werden. "Wir haben kein Interesse daran, die Infektion frei laufen zu lassen, sondern sie mit einem Höchstmaß an Sicherheit zu kontrollieren."
Wann, wie und ob die NRW-Landesregierung ihre Quarantäneregelung anpassen wird, bleibt indes unklar. Die zuständige Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) hat längst selbst bekundet, mit der aktuellen Lösung unzufrieden zu sein. Dennoch blieb die Sondersitzung des Landtags nach zweistündiger Debatte ohne Ergebnis. Der Antrag der SPD, umgehend neue und landesweit einheitliche Quarantäneregelungen an den Schulen zu schaffen, wurde abgelehnt. Diesen Triumph wollte man den Sozialdemokraten offenbar nicht gönnen.