Monday, September 27, 2021
Die verzagte Wahl: Deutschland hat sich entschieden, bloß nicht zu viel auf einmal zu wagen
stern
Die verzagte Wahl: Deutschland hat sich entschieden, bloß nicht zu viel auf einmal zu wagen
Florian Gless vor 4 Std.
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Deutschland hat die Mitte gewählt. So sehr, dass sich dort auch schon fast alles mittelt. Dieses Wahlergebnis ist verzagt, eine Entscheidung gegen zu viel Aufbruch. Dabei steht das Land vor enormen Herausforderungen.
"Es ging eben nicht um die wichtigen, die großen Themen, die insbesondere den Jüngeren große Sorgen machen", meint stern-Chefredakteur Florian Gless© Picture Alliance/Arne Dedert/ "Es ging eben nicht um die wichtigen, die großen Themen, die insbesondere den Jüngeren große Sorgen machen", meint stern-Chefredakteur Florian Gless
Immerhin: Die AfD ist nicht mehr die größte Oppositionspartei. Egal, mit wem man gestern Abend in der Hauptstadt sprach: Eine große Koalition gilt als ausgeschlossen. Die will niemand. Damit wird eine der beiden bisherigen Regierungsparteien künftig die Opposition anführen, eine der beiden – ehemaligen – Volksparteien. Damit ist sie wiederhergestellt, die gewohnte bundesrepublikanische Ordnung.
Deutschland hat Mitte gewählt. So sehr, dass sich dort auch schon fast alles mittelt. Die Zeiten von mehr als 30 Prozent scheinen vorbei. Die Linke bei fünf, die AfD irgendwo bei zehn, die restlichen 85 Prozent teilen die bürgerlich Etablierten unter sich auf. An den Rändern wächst hier nichts. Damit unterscheidet sich Deutschland von vielen anderen Ländern, auch in der Nachbarschaft. Und das ist gut so.
Aber dieses Wahlergebnis ist verzagt. Das Land steht vor enormen Herausforderungen, es braucht Weichenstellungen in der Energiepolitik, beim Klima, bei der Rente und der Pflege. Wir hängen in der Digitalisierung hinterher, beim Impfen, bei der Bundeswehr. Deutschland ist drauf und dran, den Anschluss an die Zukunft zu verpassen.
Das englische Wirtschaftsmagazin "Economist" hat den Merkel-Jahren eine verheerende Bilanz geschrieben: Deutschland sehe zwar aus wie ein surrendes Luxusauto, aber unter der Motorhaube seien die Zeichen des jahrelangen Nichtstuns unübersehbar. (Auch der stern hat in seiner achtteiligen Serie "Neustart Deutschland" auf diese Missstände hingewiesen.)
Es ging nicht um die wichtigen, die großen Themen
Wie wichtig war diese Wahl, um keine Zeit mehr zu verlieren! Und wie absurd im Verhältnis dazu der Wahlkampf. Das Hochwasser im Ahrtal und in der Eifel hätte ein Geschenk sein können für die Grünen. Eindringlicher hätten die Auswirkungen der real existierenden Klimakrise nicht gezeigt werden können: Liebe Leute, so sieht's aus! Wenige Tage lang hatte wirklich jede und jeder Deutsche begriffen, wie ernst die Lage ist. Aber Annalena Baerbock beschwerte sich lieber über nicht heulende Sirenen, offenbar aus Sorge, mit zu viel Klimaalarm für Irritation zu sorgen, dort, in der bürgerlichen Mitte.
Trotzdem hinterließ die Flut eine historische Fußnote, indem sie Armin Laschet, einen guten Ministerpräsidenten, in den persönlichen Sympathiewerten zum lachenden Dritten machte.
Olaf Scholz lächelte derweil sybillinisch und durchtrainiert über seine Parteilinke hinweg. Wer so staatstragend zwischen Washington, Paris und Finanzministerium tänzelt, ist absolut wählbar auch für enttäuschte CDU-Anhänger. Am Ende waren es 1,2 Millionen, die von dort nach hier wanderten. Wer weiß, ob es nicht noch mehr geworden wären ohne den CDU-Staatsanwalt aus Osnabrück, der mit seiner Durchsuchung zwar mehrere Wochen, aber auf keinen Fall bis nach der Wahl warten konnte.
Unterm Strich: Es ging eben nicht um die wichtigen, die großen Themen, die insbesondere den Jüngeren große Sorgen machen. Und zwar zu Recht! Der einzige, dem es immer wieder gelingt, den Blick dorthin zu lenken, durfte kein Kanzlerkandidat werden. Robert Habeck ist ein Mann.
Das Land hat sich entschieden, bloß nicht zu viel auf einmal zu wagen. Ein hoher SPD-Mann sagt, man dürfe den Menschen nicht zu viel Aufbruch zumuten, das mache ihnen Angst. Er scheint Recht zu haben: Die Wählerinnen und Wähler haben die meisten Stimmen einem Mann gegeben, der so richtig für nichts steht ("nicht zu viel zumuten"). Auf Platz zwei haben sie einen Mann gewählt, dessen Partei viele trotz allem noch immer für die einzige halten, die weiß, wie's geht. Und dann haben sie ihre Stimmen gesplittet (mit dem Ergebnis, dass wir das größte Parlament nach den Chinesen haben) und den Dritt- und Viertplatzierten die Macht des Königsmachers verliehen. Baerbock, Habeck und Lindner werden nun entscheiden, wer Kanzler wird. Jetzt übernehmen die Kellner den Laden. Die Zeit, die es braucht, um damit zurecht zu kommen, wird uns an anderer Stelle fehlen.