Monday, September 2, 2024

Mund abputzen, weiterwursteln – so reagieren die Ampelparteien auf das katastrophale Wahlergebnis im Osten

Neue Zürcher Zeitung Deutschland Mund abputzen, weiterwursteln – so reagieren die Ampelparteien auf das katastrophale Wahlergebnis im Osten Artikel von Marco Seliger, Berlin • 1 Std. • 5 Minuten Lesezeit Auch die Partei des deutschen Bundeskanzlers wurde in Ostdeutschland abgestraft. Selten in der bundesdeutschen Geschichte hat es eine Wahl gegeben, in deren Folge die verantwortlichen Politiker derartige rhetorische Verrenkungen, Auslassungen und Volten vollführt haben wie am Sonntag in Sachsen und Thüringen. Das dürfte in erster Linie am Wahlergebnis liegen. Es brachte in beiden ostdeutschen Bundesländern eine satte Mehrheit rechts der Mitte, könnte nun aber in Regierungen mit knappen Mehrheiten links der Mitte münden. Zugleich sind die Wahlergebnisse eine Abstrafung der Ampelregierung in Berlin. Auf Einsicht lassen deren Reaktionen aber nicht schliessen. So erklärte Kevin Kühnert, Generalsekretär der Sozialdemokraten, seine Partei müsse Politik mehr erklären, nicht nur in Wahlkämpfen. Er machte damit deutlich, wo er das Problem der Berliner Ampelregierung sieht: nicht in den politischen Inhalten, sondern in deren unzureichender Vermittlung. Bundeskanzler Olaf Scholz sprach zwar von bitteren Wahlergebnissen – «auch für uns». Doch seine Partei, die SPD, habe zusammengehalten und gemeinsam einen guten und klaren Wahlkampf geführt. Das habe sich gelohnt. Die düsteren Prognosen in Bezug auf die SPD seien nicht eingetreten. Auch Ricarda Lang, Co-Vorsitzende der Grünen, wollte in den Ergebnissen keinen Auftrag der Wähler für eine andere Politik in Berlin sehen. Auf die Frage, ob die Migrationspolitik gescheitert sei, erwiderte sie, dies sei nicht das Thema, das die Menschen am meisten umgetrieben habe. Es sei vielmehr die zunehmende Instabilität gewesen. Umfragen in beiden Bundesländern belegen allerdings, dass die ungesteuerte und illegale Einwanderung die Wähler mit Abstand am meisten bewegte. CDU eingekeilt von drei linken Parteien Auf Länderebene bemühten sich die Politiker, nun mögliche Regierungsbündnisse zu begründen, die sie oder ihre Partei zuvor ausgeschlossen hatten. In Thüringen, mit 2,1 Millionen Einwohnern eines der bevölkerungsärmsten Bundesländer Deutschlands, sprach Mario Voigt, der Spitzenkandidat der Christlichdemokraten, von der CDU «als stärkster Kraft der politischen Mitte». Sie habe den Auftrag, die Regierung zu bilden – obwohl die AfD mit weitem Abstand der Wahlsieger ist. Allerdings braucht Voigt für eine stabile parlamentarische Mehrheit das linkspopulistische Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), die Linkspartei und die SPD. Er wäre damit eingekeilt von drei linken Parteien, unter denen eine ist, mit der er gar nicht regieren kann, wenn er sich an die Linie seiner Partei hält. In der CDU gilt ein Parteitagsbeschluss, wonach eine Zusammenarbeit mit der AfD und der Linkspartei mit den eigenen Werten unvereinbar ist. Auf entsprechende Fragen danach antwortete Voigt am Wahlabend, die «Ampel» in Berlin sei abgestraft worden und es sei nun sein Auftrag, in Thüringen das verlorene Vertrauen in die Politik zurückzugewinnen. Wie er das machen will mit einer Partei, die für die CDU inakzeptable Bedingungen stellt, darauf ging er nicht ein. Sahra Wagenknecht macht ein Bündnis davon abhängig, dass die beteiligten Parteien den Waffenlieferungen an die Ukraine und der geplanten Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen und Marschflugkörper in Deutschland abschwören. Die CDU hat mehrfach deutlich gemacht, dass eine solche Abkehr von ihrer Sicherheitspolitik nicht infrage kommt. Doch auch innerhalb der Wagenknecht-Partei gab es Reaktionen, die verschieden interpretierbar sind. Während die gleichnamige Gründerin wiederholte, mit keiner Partei zusammenzuarbeiten, die eine Raketenstationierung und die Militärhilfe für die Ukraine unterstütze, hörten sich die Parteivertreter vor Ort weniger kategorisch an. So erklärte Katja Wolf, Spitzenkandidatin des BSW in Thüringen, Wagenknecht werde bei den Koalitionsverhandlungen in Erfurt gar nicht mit am Tisch sitzen. «Geht nicht um irgendwelche Parteiprogramme» Auch in Sachsen wollen die konservativen Christlichdemokraten offenbar ein Bündnis mit linken Parteien eingehen. Der amtierende Ministerpräsident Michael Kretschmer gewann die Wahl knapp vor der AfD, die beiden Parteien verfügen zusammen über gut zwei Drittel der Stimmen. Im Wahlkampf hatte Kretschmer erklärt, mit den Grünen nicht mehr koalieren zu wollen. Daher ist er nun auf die SPD und die Wagenknecht-Partei als Mehrheitsbeschaffer angewiesen. Wie schwer sich Kretschmer damit tut, hat er bereits am Wahlabend deutlich gemacht. Das BSW sei eine Partei, die «nicht aus der demokratischen Mitte heraus kommt», sagte er. Die schlechteste aller Varianten sei es allerdings, gar keine Regierung zu bilden. Es gehe zuerst um das Land, «nicht um irgendwelche Parteiprogramme». Diesen Ton hatte er auch im Wahlkampf angeschlagen. Dort hatte er mitunter ähnlich argumentiert wie die Russland-Freunde von AfD und BSW und dies mit der Verantwortung für Sachsen begründet. Der CDU-Parteichef Friedrich Merz hatte diesen Botschaften entgegen seinen politischen Überzeugungen nicht widersprochen. Merz hat sich bisher nicht öffentlich zum Ergebnis in Ostdeutschland geäussert. Sein unionsinterner Rivale Markus Söder, Vorsitzender der Christlichsozialen, bezeichnete das Abschneiden der AfD als einen Einschnitt in die deutsche Nachkriegsgeschichte. Keine Demut, keine Einsicht Bundesfinanzminister Christian Lindner von den Liberalen meldete sich lediglich bei X zu Wort. Niemand solle sich täuschen, schrieb er, «denn wir geben unseren Kampf für liberale Werte nicht auf». Schon morgen gehe es weiter. Die FDP hatte in beiden Bundesländern mit Ergebnissen unter zwei Prozent eine beispiellose Abfuhr erteilt bekommen. Für die SPD ist die schlechte Kommunikation schuld am für sie katastrophalen Wahlergebnis in Sachsen und Thüringen. Für die Grünen ist es die Instabilität im Osten, und die FDP will weitermachen wie bisher. Man kann die Reaktionen der Regierungsparteien daher auch so zusammenfassen: Mund abputzen, weiterwursteln. Mit Blick auf die Bundestagswahl dürfte dies der AfD und der Wagenknecht-Partei in die Hände spielen. Björn Höcke, Spitzenkandidat der AfD in Thüringen, warnte zwar am Abend davor, seine Partei nicht an der Regierung zu beteiligen. Wenn man die AfD, wie er sagte, wieder nicht mitnehme und die «dämliche Extremismuskeule weiter schwingt», dann bedeute das Instabilität in Thüringen. Doch zugleich kann sich die in Teilen rechtsradikale Partei weiter als Opfer stilisieren. Der AfD-Bundesvorsitzende Tino Chrupalla sprach von Wählertäuschung, wenn seine Partei nicht an der Regierung in Thüringen und Sachsen beteiligt werde. «Die anderen Parteien sind gesichert undemokratisch, wenn sie uns mit der Aussage ausschliessen, wir seien gesichert rechtsextrem», sagte er. Wirtschaftsweise warnt vor Stillstand Auffällig ist, dass in der Politik bisher kaum über Regierungsmodelle jenseits einer stabilen Mehrheit diskutiert wurde. Es ist die Wirtschaftsweise Monika Schnitzer, die das Thema in die Debatte brachte. Sie sagte, es müsse zügig Klarheit geschaffen werden, wie es nun weitergehe, inklusive der Optionen einer Minderheitsregierung oder gar von Neuwahlen, mutmasslich im Bund. Schnitzer, Chefin des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland, warnte vor Stillstand. Gerade für die Wirtschaft sei Unsicherheit Gift. Die Unternehmen würden Investitionspläne verzögern oder ganz aufgeben, mit negativen Auswirkungen auf das Wachstum. Auch andere Wirtschaftsexperten warnten vor ernsthaften Folgen der Wahlergebnisse für das Wirtschaftswachstum und die ostdeutschen Standorte. Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, sagte, vor allem die AfD stehe für Protektionismus und eine Abschottung von Europa, für weniger Zuwanderung von Fachkräften und eine geringere Offenheit und Vielfalt. Er halte es daher für sehr wahrscheinlich, dass die Wahlergebnisse zu einer Abwanderung von Unternehmen und auch Fachkräften und damit zu einem Anstieg der Insolvenzen führen werde. Ähnlich äusserte sich Ralf Wintergerst, Präsident des Digitalverbands Bitkom. Deutschland müsse ein Land bleiben, das für Weltoffenheit und Innovationsfreude stehe, sagte er. Diese Werte würden weder AfD noch BSW vertreten. Die geplanten Chip-Fabriken in Sachsen könnten ohne Fachkräfte aus dem Ausland nicht betrieben werden.