Monday, September 2, 2024

Emotionen statt Einsicht: Nur einer bei den Grünen hat die fatale Lage erkannt

FOCUS online Kommentar von Carsten Fiedler - Emotionen statt Einsicht: Nur einer bei den Grünen hat die fatale Lage erkannt Artikel von Von Carsten Fiedler • 5 Std. • 4 Minuten Lesezeit Nach ihrem Debakel bei den Wahlen in Thüringen und Sachsen zeigen sich die Grünen angefasst. Eigentlich wäre jetzt die Zeit für Demut und politische Korrekturen. Aber nichts davon ist zu erwarten. Nur einer hat die prekäre Lage erkannt. Die Grünen erlebten bei den Wahlen in Thüringen und Sachsen den von vielen in der Partei befürchteten Albtraum: Aus dem Landtag in Erfurt flog die Öko-Partei in hohem Bogen raus (3,2 Prozent der Stimmen, minus 2 Prozent). In Dresden könnte sie mit 5,1 Prozent weiterhin knapp im Parlament vertreten sein, fuhr aber ein sattes Minus von mehr als drei Prozent ein. Neben der Linkspartei und der bis unter die Schwelle der Wahrnehmbarkeit abgestraften FDP gehören die Grünen klar zu den Verlierern dieses historischen Wahlabends. Wie erwartet ging von den Ost-Wahlen ein klares Signal der Wut und des Zorns der Menschen auf die Ampel aus – und insbesondere auf die Grünen, die als die moralisch-ideologisch treibende Kraft der Regierung in Berlin wahrgenommen werden. Bei den Grünen gibt es große Emotionen – aber keine Einsicht Eigentlich sollte also spätestens jetzt der Moment sein für Demut, Innehalten und das Einräumen von Irrtümern. Dafür, die eigenen Glaubensgrundsätze, etwa in der Einwanderungspolitik, auf den Prüfstand zu stellen. Doch davon fehlte bei den Grünen am Wahlabend weiterhin jede Spur. Mit Tränen reagierte in Thüringen Grünen-Spitzenkandidatin Madeleine Henfling auf das starke Abschneiden der AfD. „Wir überlassen den Faschisten nicht einfach so das Land und die Straße“, sagte sie. Der Grünen-Spitzenkandidat und bisherige Umweltminister Bernhard Stengele sekundierte düster: „Wenn wir nicht drin sind, hat die AfD vermutlich die Sperrminorität. Das wird dann noch schwieriger werden.“ Große Emotionen – aber keine Einsicht darüber, dass es in Teilen der Republik eine regelrechte Anti-Grünen-Stimmung gibt, weil die Partei das Sicherheitsbedürfnis der Menschen offenbar massiv unterschätzt hat. Grünen-Chef Omid Nouripour gab zwar in schon oft gehörten Floskeln im ZDF den streitenden Ampel-Partnern in Berlin eine Mitverantwortung an den Wahlergebnissen. Nouripour sieht keine Notwendigkeit für einen klaren Kurswechsel Zugleich machte er aber auch deutlich: Auch nach der klaren Wahl-Klatsche und dem mutmaßlich islamistischen Messer-Attentat von Solingen eine Woche zuvor sehen die Grünen beim Thema Migration keine Notwendigkeit für einen klaren Kurswechsel: „Wir sind die einzige Partei, die vor und nach den Wahlen das gleiche sagen. Wir stehen zu unseren Positionen bei Migration und Ukraine“, erklärte Nouripour. Die CDU, die Druck macht bei einer weiteren Verschärfung des Asylrechts, habe nun die große Verantwortung, „die europäische Asyl- und Sicherheitspolitik nicht zu zersägen." Nouripour sagte weiter, er sehe nach dem AfD-Erfolg in Thüringen und Sachsen viele Menschen, die jetzt Angst hätten. Er nannte Leute aus der Kultur, Menschen mit Migrationshintergrund oder Leute, die auf Veranstaltungen wie den Christopher Street Day gehen: „Die haben Angst.“ Es sei jetzt die Stunde, diesen Leuten beizustehen. Ricarda Lang sagt nur: „Nein. Das war nicht das Thema“ Unterstützung bekam Nouripour am Wochenende auch von Wirtschaftsminister und Vizekanzler Robert Habeck: „Das Grundrecht auf Asyl gehört aus guten Gründen zum Kernbestand dieser Republik.“ Die Gründungsmütter und -väter des Asylrechts hätten gewusst, was sie tun, betonte Habeck. Die Union wisse das „zunehmend nicht", erklärte der Vizekanzler mit Blick auf die anstehenden Gespräche von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) mit der Union am Dienstag. Scholz will dann sowohl mit der größten Oppositionskraft als auch mit den Vertretern der Länder über die weiteren Schritte in der Asyl- und Migrationspolitik beraten. Grünen-Chefin Ricarda Lang bezeichnete den Wahlerfolg der AfD in Thüringen sichtlich aufgewühlt als „historische Zäsur“. Immerhin räumte sie ein, die Grünen hätten als Regierungspartei in Berlin stark an Vertrauen verloren. Ob die grüne Migrationspolitik mit diesem Wählervotum nicht gescheitert sei, will eine TV-Reporterin von ihr wissen. Langs Antwort: „Nein. Das war nicht das Thema, das die Menschen am meisten interessiert hat“. Habeck hat erkannt, wie sich die Stimmung für die Grünen dreht Stattdessen warf sie dem sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU) und CDU-Bundeschef Friedrich Merz vor, im Wahlkampf das „Feindbild Grüne“ gepflegt zu haben: „Wenn immer wieder ein Gegeneinander aufgemacht wird und Vorurteile gestärkt werden, dann sägen Demokraten an dem Ast, auf dem sie selbst sitzen. Und dieser Ast ist die demokratische Kultur.“ Die schwachen Ergebnisse der Grünen bei beiden Ost-Wahlen – sie müssten der Partei eigentlich einen Schub geben, ihre Positionen bei den Themen Migration und Innere Sicherheit zu überdenken. Viel zu lange hat die Partei die Hilferufe aus Ländern und Kommunen sowie Anzeichen der Überlastung in großen Teilen der Bevölkerung übersehen, vielleicht sogar bewusst ignoriert. Politische Beobachter gehen davon aus, dass sich die Grünen von Teilen ihrer Einwanderungs- und Gesellschaftspolitik werden verabschieden müssen, wenn die Partei wieder mehrheitsfähig werden will. Bei den nächsten Landtagswahlen und spätestens der nächsten Bundestagswahl droht ansonsten die bittere Quittung. Robert Habeck hat das erkannt: Er will die Grünen in beiden Fragen stärker an der politischen Mitte ausrichten. Doch die Wahl-Klatsche in Thüringen und Sachsen ist auch für den möglichen Grünen-Kanzlerkandidaten zunächst einmal ein herber Rückschlag. Neue parteiinterne Flügelkämpfe zwischen Realos und Fundis sind nach diesem Debakel absehbar.