Sunday, September 22, 2024
Niedergang der deutschen Industrie: USA auf der Suche nach stärkeren Partnern?
Berliner Zeitung
Niedergang der deutschen Industrie: USA auf der Suche nach stärkeren Partnern?
Artikel von Simon Zeise • 3 Std. • 4 Minuten Lesezeit
Die Hiobsbotschaften für die deutsche Wirtschaft reißen nicht ab. Wegen der zunehmend schlechteren Produktionsbedingungen haben Unternehmen wie BASF angekündigt, Standorte ins Ausland zu verlagern.
Der Chemiekonzern Covestro droht, aus Abu Dhabi übernommen zu werden, die Commerzbank wird wohl von der italienischen Unicredit geschluckt. Selbst VW, das Herz der deutschen Industrie, hat angekündigt, Werkschließungen in Deutschland in Betracht zu ziehen.
„Die harten Daten zur Industrieproduktion deuten darauf hin, dass die deutsche Industrie den stärksten Abschwung in der Geschichte der Bundesrepublik erlebt“, schreibt Robin Winkler, Chefvolkswirt der Konjunkturabteilung Deutsche Bank Research, in einer aktuellen Studie. Die jüngste Entwicklung der Industrieproduktion sei historisch präzedenzlos. Zwar sei der aktuelle Abschwung weniger stark als die Rezessionen nach der Finanzkrise 2008 und der Corona-Pandemie 2020. „Dennoch ist der aktuelle Einbruch tiefer und länger als die großen Strukturkrisen des 20. Jahrhunderts“, schreibt Winkler.
„Während der Abschwung Anfang der 1990er-Jahre eine Besonderheit darstellte, da die ostdeutsche Industrie nach der Wiedervereinigung dem Wettbewerbsdruck erlag, wies der Abschwung Anfang der 1980er-Jahre deutliche Parallelen zu heute auf: Ein starker Energieschock und der zunehmende globale Wettbewerb stellten die deutsche Schwerindustrie vor existenzielle Herausforderungen.“ Doch droht die Krise dieses Mal schlimmer zu werden. In den 1980ern sei der Wirtschaftseinbruch milder ausgefallen: 1982 habe die Produktion nach drei Jahren nur noch zehn bis 15 Prozent unter dem Höchststand gelegen. Davon ist unter der Wirtschaftspolitik der Ampelregierung nicht auszugehen.
Müssen wir uns also auf einen langanhaltenden Niedergang in Deutschland einstellen? Maartje Wijffelaars, Finanzanalystin bei der niederländischen Rabobank, glaubt nicht daran, dass die Bundesregierung das Ruder noch rumreißen wird. „Wenn sie nicht bereit ist, wirklich umfassend zu investieren, zu reformieren, die Energiewende zu beschleunigen, die digitale Transformation zu beschleunigen, massiv in die Infrastruktur und in Forschung und Entwicklung zu investieren, dann wird sie den Kurs nicht ändern“, sagt die Ökonomin im Gespräch mit der Berliner Zeitung.
„Deutschland hat qualifizierte Menschen, es gibt innovative Kapazitäten.“ Aber man müsse den Kontext berücksichtigen. „Bei allem Respekt: Die deutsche Regierung scheint nicht willig, etwas zu ändern. Sie scheint mehr daran interessiert zu sein, die Schuldenbremse einzuhalten und das Haushaltsdefizit zu begrenzen. Dabei braucht Deutschland großangelegte Investitionen“, so Wijffelaars. Laut Prognosen der EU-Kommission und des Internationalen Währungsfonds wird Deutschland im nächsten Jahr bei der Investitionstätigkeit unter den EU-Staaten den vorletzten Platz belegen.
Der Bundesverband der deutschen Industrie (BDI) warnt: „Rund ein Fünftel der industriellen Wertschöpfung in Deutschland ist bedroht.“ Um auch in Zukunft international wettbewerbsfähig zu sein, seien private und öffentliche Mehrinvestitionen in Höhe von 1,4 Billionen Euro bis 2030 nötig. Laut dem Institut für Makroökonomik und Konjunkturforschung (IMK) müssen in Deutschland in den nächsten zehn Jahren 600 Milliarden Euro in die marode Infrastruktur investiert werden. Der Einsturz der Carolabrücke in Dresden dürfte nur ein Vorgeschmack sein, wenn die Regierung weiter auf ihrer Sparpolitik besteht.
Besonders hohe Energiepreise und eine geringe Verbrauchernachfrage haben die deutschen Hersteller getroffen. „Europa wird immer weniger wettbewerbsfähig, vor allem Deutschland“, sagte der Vorstandsvorsitzende von Covestro, Markus Steilemann, bei der jüngsten Bilanzvorlage gegenüber der Financial Times. Der deutschen Wirtschaft drohe die Deindustrialisierung.
Adnoc – die Abu Dhabi National Oil Company – ist auf der Suche nach Übernahmen. Der Konzern aus den Vereinigten Arabischen Emiraten hat dafür ein 50-köpfiges Team unter Führung des deutschen Bankers Klaus Fröhlich zusammengestellt. Covestro soll für rund 14,4 Milliarden Euro gekauft werden. Es wäre der erste Dax-Konzern, der von einem Golfstaat übernommen wird. Adnoc verspricht sich dadurch, einen Fuß nach Europa zu setzen und über das große Kundennetzwerk zu verfügen. In Abu Dhabi versteht man etwas von gezielter Wirtschaftspolitik.
„Deutschland braucht eine große Strategie“, sagt die Rabobank-Finanzanalystin Wijffelaars der Berliner Zeitung. „Über viele Jahre hatte Deutschland den Vorteil, dass es geringe Lohnkosten gab, doch das ist vorbei.“ Die Lösung liege jedoch nicht darin, das Lohnniveau zu senken, denn dann würde die ohnehin geringe Kaufkraft weiter geschwächt. Laut Berechnungen des Manager Magazins ist Deutschland gerade aus dem Club der Top-20-Staaten mit der höchsten Kaufkraftparität geflogen.
„Deutschland muss sich viel mehr darauf konzentrieren, das Produktivitätswachstum zu steigern“, sagt Wijffelaars. Vorbilder könne man in anderen europäischen Industriestaaten sehen. Italien habe es zum Beispiel fertiggebracht, durch umfassende Steuervergünstigungen trotz der gestiegenen Zinsen einen Bauboom zu entfachen, erklärt die niederländische Ökonomin. Wo ein Wille ist, ist also auch ein Weg.
Die Sturheit, mit der die Bundesregierung den Kurs in Richtung Rezession hält, findet man mittlerweile auch auf der anderen Seite des Atlantiks sonderbar. In dem Aufsatz „Deutschland ist bei weitem nicht so wichtig, wie die USA denken“ für das Debattenorgan Foreign Policy (FP) werden weitreichende sicherheitspolitische Schlussfolgerungen aus der deutschen ökonomischen Orientierungslosigkeit gezogen: „Angesichts der derzeitigen Wirtschaftskraft Deutschlands passiert in der EU nie etwas ohne Deutschland. Doch auch mit Deutschland passiert immer wieder nicht viel“, heißt es.
So wie Berlin Forderungen nach einem substanziellen militärischen Aufrüstungskurs widerstanden habe, so habe es auch immer wieder die Bemühungen zunichtegemacht, die EU in eine wirklich föderale Institution mit echtem fiskalischen und geopolitischen Gewicht zu verwandeln. „Insbesondere angesichts der aktuellen Lage der deutschen Politik gleicht die Aussicht auf eine echte deutsche Führungsrolle auf der europäischen und globalen Bühne dem Warten auf Godot im gleichnamigen Stück“, heißt es in dem FP-Bericht.
Die Erwartungen der Amerikaner in die Bundesregierung würden oft enttäuscht. Deshalb sei es eine bessere Strategie, einfach „um Deutschland herumzuarbeiten, um in den von Russland bedrohten Nato-Regionen militärische Macht aufzubauen“. Das gelte nicht nur für die USA, sondern auch für die EU. „Länder, die von Deutschlands Kompromisslosigkeit frustriert sind, sollten über die Bildung von Koalitionen der Willigen nachdenken, möglicherweise unter dem Deckmantel einer sogenannten verstärkten Zusammenarbeit, um Projekte von gemeinsamem Interesse voranzutreiben und Deutschland de facto hinter sich zu lassen“, heißt es in dem FP-Beitrag.
Die USA sollten auf eine strategischere deutsche Führung hoffen als auf die derzeitige „Ansammlung von Buchhaltern, die die meisten einflussreichen Positionen in Berlin besetzen“.