Sunday, September 22, 2024

Schluss mit der weltfremden Flüchtlingspolitik: Könnte Italiens Albanien-Deal ein Vorbild sein?

Berliner Zeitung Schluss mit der weltfremden Flüchtlingspolitik: Könnte Italiens Albanien-Deal ein Vorbild sein? Artikel von Kurt Gerhardt • 2 Std. • 4 Minuten Lesezeit Deutsche Polizeibeamte stehen an der Grenze zwischen Deutschland und Frankreich. Bundesinnenministerin Faeser hat Kontrollen zu den westlichen und nördlichen deutschen Nachbarstaaten beginnend ab dem 16. September angeordnet. Dies ist ein Open-Source-Beitrag. Der Berliner Verlag gibt allen Interessierten die Möglichkeit, Texte mit inhaltlicher Relevanz und professionellen Qualitätsstandards anzubieten. Die AfD hat – das muss man ihr bei aller Unwählbarkeit lassen – der deutschen Flüchtlingspolitik ihre Weltfremdheit und Naivität ausgetrieben. Mit welcher Ahnungslosigkeit Migrationspolitik bisher betrieben wurde bzw. wird, lässt sich am Fall der vielen Migranten aus Westafrika erkennen. Ich selbst habe viele Jahre als Entwicklungshelfer im westafrikanischen Niger gearbeitet. Ich weiß aus eigener Anschauung, wie verzerrt das vorherrschende mediale Bild hierzulande ist. Diesen medialen Darstellungen zufolge handelt es sich bei den Flüchtlingen um Menschen, die vor größter Not und vor Verfolgung aus ihrer Heimat fliehen. Das ist falsch. In Westafrika gibt es seit Jahren keine Hungersnöte, und Corona hatte dort viel geringere Auswirkungen als bei uns, das berichten mir zumindest afrikanische Freunde vor Ort. Von systematischer politischer Verfolgung, von der die Genfer Flüchtlingskonvention ausgeht, kann auch keine Rede sein. Die weitaus meisten Migranten entstammen den ganz normalen afrikanischen Verhältnissen, gekennzeichnet vor allem durch andauernden niedrigen Lebensstandard und wirtschaftlichen Stillstand. Andererseits nehmen vor allem die jungen Leute dort natürlich wahr, wie es im Rest der Welt aussieht, zumal in den Industrieländern. Das erfahren sie nicht nur aus Fernsehen und Internet, sondern auch aus Telefongesprächen mit Altersgenossen, die es schon nach Europa geschafft haben. Trotz des offensichtlichen Wohlstandsgefälles gilt hierzulande aber bei vielen offenbar schon die Erwähnung der schlichten Tatsache, dass die meisten afrikanischen Migranten Wirtschaftsflüchtlinge sind, als unmoralisch. Zudem wird der Eindruck, alle Flüchtlinge kämen aus größtem Elend, von Medien gern verstärkt. Katastrophen sind eben ein dankbarerer Stoff als Normalität. Zu welchen Wahrnehmungsverzerrungen eine solche Haltung führt, zeigt der von Medien häufig berichtete Fall unbegleiteter Flüchtlingskinder in Lagern etwa auf der griechischen Insel Lesbos. Berichtet wird fast ausschließlich über das angebliche Versagen europäischer Regierungen, diese Kinder angemessen zu versorgen. Eine zweiseitige kritische Beleuchtung dieser Zustände gibt es kaum. So gut wie nie geht es um die Frage, wie es möglich ist, dass minderjährige afrikanische Kinder in die Fluchtboote kommen, deren Besitzer ja viel Geld für die Überfahrt fordern. Viele Eltern scheuen sich offenbar nicht, ihre Kinder Schleusern zu übergeben und sie damit bewusst der Todesgefahr auszusetzen. Ihr offensichtliches – und realistisches – Kalkül ist: Wenn die Kinder erst einmal in Europa sind, werden sie selbst irgendwann nachkommen können. Und wenn im negativen Fall die Kinder auf See umkommen, wird es Allah gewesen sein, der es so gewollt hat – von dieser Haltung berichten mir zumindest immer wieder afrikanische Freunde. Es ist bezeichnend für unsere Weltfremdheit, dass die Frage nach diesen verantwortungslosen Eltern so gut wie nie gestellt wird. Über die Rettungsschiffe, die von europäischen Hilfsorganisationen geschickt werden, damit sie schiffbrüchige Flüchtlinge aufnehmen, ist schon viel gemutmaßt worden, bis hin zu angeblichen Absprachen zwischen Rettern und Menschen, die erst deswegen die gefährliche Überfahrt wagen, weil sie von den Rettungsschiffen wissen. Solche Zusammenhänge völlig zu negieren, gehört ebenfalls in die Abteilung Weltfremdheit. Angesichts der verfahrenen Flüchtlingspolitik muss Ausgangspunkt aller Überlegungen sein, dass die Entscheidung, wer in unser Land kommt, ausschließlich bei unseren demokratisch legitimierten Institutionen liegt, die für diese Entscheidungen zuständig sind. Das ist zurzeit nur zum Teil so. Denn wenn Flüchtlinge übers Mittelmeer oder auf anderen Wegen illegal nach Deutschland kommen, unter Umständen auch mithilfe europäischer Wohlfahrtsorganisationen, auch Kirchen, dann haben faktisch sie über ihren Aufenthaltsort entschieden, nicht hiesige Behörden. Hier müssen Zuständigkeiten wieder geradegerückt werden. Um aus der misslichen Lage herauszukommen, will die Bundesregierung illegal Eingereiste nun konsequenter als bisher zurückschicken. Angesichts der bisherigen Erfahrungen mit gescheiterten Abschiebungsversuchen sind Zweifel angebracht, dass das im erhofften Maße gelingen wird. Diese Zweifel gelten auch vertraglichen – und kostenträchtigen – Vereinbarungen mit Drittländern wie Tunesien, die bei der Abwehr illegaler Migration mitwirken sollen. So oder so ist diese Lösungsmethode aus zwei Gründen schon im Ansatz falsch. Erstens müssen wir unsere Probleme selbst in den Griff kriegen. Wenn wir, gegen Bezahlung, anderen Ländern Verantwortung dafür übertragen, geben wir Kontrolle aus der Hand. Das gilt umso mehr für viele Herkunfts- und Drittstaaten, die nicht zu den besonders zuverlässigen gehören. Zweitens müssen Maßnahmen früher ansetzen, und zwar an unseren Grenzen. Denn wenn Menschen, die kein Aufenthaltsrecht bei uns haben, erst mal hier sind, ist es in aller Regel zu spät. Illegale Migranten erst gar nicht ins Land zu lassen, ist der entscheidende Punkt. Die Verstärkung der Grenzkontrollen ist also ein richtiger Weg. Allerdings muss für alle, auch für Schiffbrüchige, immer und überall gelten: Wer in akuter Lebensgefahr ist, muss gerettet werden. Auch dann, wenn diese Gefahr bewusst dadurch herbeigeführt wird, dass für die Fahrt übers Meer untaugliche oder überladene Boote benutzt werden. Mit hohen Zäunen und Videoüberwachung steht ein italienisches Ankunftslager für Flüchtlinge in der Hafenstadt Shengjin, Albanien. Das Abkommen von Italien und Albanien wird von den Oppositionen in beiden Ländern sowie Menschenrechtsorganisationen scharf kritisiert. Aber was kommt danach, was soll mit aufgegriffenen Flüchtlingen geschehen, die keinen Aufenthaltsanspruch haben? Beim Beantworten dieser Frage ist zu bedenken, dass diese, um ihr Ziel zu erreichen, nicht nur Gefahren in Kauf nehmen, sondern auch Recht brechen, indem sie in andere Länder eindringen – meist ohne Personaldokumente, die sie vorher vernichtet haben, um Behörden in die Irre zu führen. Die wirkungsvollste Möglichkeit wäre, dem italienischen Beispiel in Albanien zu folgen und die illegal Eingereisten in überwachte Aufnahmezentren zu bringen, in denen sie in jeder Hinsicht gut versorgt würden. In diesen Zentren würden die Voraussetzungen für ein geordnetes Migrationsverfahren geschaffen. Wer zum Beispiel keine Papiere hat, besorgt sie sich von dort aus in seinem Heimatland; dabei kann man helfen. Eine solche strenge und konsequente Regelung spräche sich in fluchtwilligen Kreisen vermutlich schnell herum, mit der Folge, dass sie zu einem Nachlassen der illegalen Migration führen würde und damit auch zu einem Ende des elenden Sterbens so vieler Menschen auf der Flucht. Kurt Gerhardt ist Journalist, zuletzt war er Leiter des WDR/NDR-Hörfunkstudios in Brüssel. Er war Landesdirektor des Deutschen Entwicklungsdienstes im Niger/Westafrika und gehört zu den Initiatoren des „Bonner Aufrufs für eine andere Entwicklungspolitik“. Außerdem ist er Mitbegründer des Projekts „Makaranta“ zur Förderung der Grundbildung in Afrika Das ist ein Beitrag, der im Rahmen unserer Open-Source-Initiative eingereicht wurde. Mit Open Source gibt der Berliner Verlag allen Interessierten die Möglichkeit, Texte mit inhaltlicher Relevanz und professionellen Qualitätsstandards anzubieten. Ausgewählte Beiträge werden veröffentlicht und honoriert.