Monday, October 30, 2023
Interview : Berlins Regierender Bürgermeister zur Flüchtlingspolitik: „Die Zeit der offenen Arme ist vorbei“
Handelsblatt
Interview : Berlins Regierender Bürgermeister zur Flüchtlingspolitik: „Die Zeit der offenen Arme ist vorbei“
Artikel von Delhaes, Daniel Neuerer, Dietmar •
2 Std.
Der CDU-Politiker Kai Wegner spricht über die Sicherheitslage in Berlin, die Herausforderungen der Migration und seine Forderungen an den Bund in der Asylfrage.
Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner (CDU) hat angesichts der deutschlandweiten antiisraelischen Demonstrationen Fehler bei der Integration von Migranten eingeräumt. „Wir werden neu und anders über Integration reden müssen. Denn in der Tat bricht da etwas auf, was Zweifel an den Erfolgen mancher Integrationsbemühungen aufkommen lässt“, sagte Wegner dem Handelsblatt.
Gerade junge Leute, die oftmals in Berlin geboren seien und einen deutschen Pass hätten, ließen sich von Terroristen instrumentalisieren, obwohl sie den jahrzehntealten Konflikt im Nahen Osten nie persönlich erlebt haben. „Da ist etwas bei der Integration schiefgelaufen.“
Lesen Sie hier das komplette Interview:
Herr Wegner, wie sicher ist Berlin in diesen Tagen?
Berlin ist gut aufgestellt. Wir haben eine starke Polizei, die den vollen Rückhalt des Berliner Senats hat.
In Berlin gab es Anti-Israel-Demonstrationen und Attacken gegen jüdisches Leben. Besteht die Gefahr, dass es zu Terroranschlägen kommt?
Wir erleben seit vielen Jahren eine angespannte Lage in Deutschland. Und sie hat sich seit dem brutalen Hamas-Angriff auf Israel noch einmal verschärft. Der schreckliche Konflikt in Nahost, angezettelt von den Hamas-Terroristen, hat leider Gottes auch Auswirkungen auf die Straßen Berlins. Und gleichzeitig sehen wir, dass der Großteil der Menschen mit arabischen Wurzeln sich Frieden wünscht.
Sind Sie sicher? Kritiker sagen, die Integrationspolitik in Berlin sei gescheitert.
Wir werden neu und anders über Integration reden müssen. Denn in der Tat bricht da etwas auf, was Zweifel an den Erfolgen mancher Integrationsbemühungen aufkommen lässt. Gerade junge Leute, die oftmals in Berlin geboren sind und einen deutschen Pass haben, lassen sich von Terroristen instrumentalisieren, obwohl sie den jahrzehntealten Konflikt im Nahen Osten nie persönlich erlebt haben. Da ist etwas bei der Integration schiefgelaufen.
Jeder muss wissen: Wir respektieren unser Gegenüber. Es ist egal, woher jemand kommt, es ist egal, an wen oder was jemand glaubt. Diese Werte müssen wir vermitteln und notfalls mit Rechtsstaat und Justiz konsequent durchsetzen.
Wie wichtig ist es da, dass die Ministerpräsidenten und der Bundeskanzler sich am 6. November auf eine neue Migrationspolitik verständigen?
Wir Ministerpräsidenten sind uns einig: So, wie es derzeit läuft, kann es nicht weitergehen. Wir Länder und vor allem die Kommunen leisten enorm viel für die Humanität, damit jeder Ankommende ein Dach über dem Kopf hat. Aber wir sind längst an der Belastungsgrenze, teilweise sogar schon darüber hinaus.
Müssen Flüchtlinge bald wieder in Turnhallen untergebracht werden?
Das ist eine absolut rote Linie für mich. Ich werde alles daransetzen, um dies zu verhindern. Dafür muss aber der massive Zustrom an Flüchtlingen begrenzt werden. Jetzt ist es am Bundeskanzler, den Vorschlägen der Länder zu folgen und die Migration zu steuern. Wir müssen zu geordneten Verfahren zurückfinden.
Mit welcher zentralen Maßnahme wollen Sie schaffen, dass nicht mehr so viele Menschen nach Deutschland kommen?
Es steht außer Frage, dass wir Kriegsflüchtlinge aufnehmen. Europa muss die Menschen aber gerecht verteilen. Das Gleiche gilt beim Thema Asyl. Und wir brauchen ein klares Zeichen, damit sich Menschen ohne triftigen Grund gar nicht erst auf den Weg machen. Ich erwarte, dass auch der Kanzler öffentlich ein solch klares Signal sendet. Es muss deutlich werden, dass Deutschland nicht jeden aufnehmen kann.
„Es geht auch darum, Europa zusammenzuhalten“
Müssen die Grenzen mit „physischer Gewalt“ gesichert werden, wie es Jens Spahn fordert?
Natürlich müssen die Grenzen gesichert werden. Ich erwarte von der Bundesregierung, diesen Weg jetzt zusammen mit den europäischen Partnern zu gehen. Es geht doch um zweierlei: um Akzeptanz bei den Menschen in Deutschland für das Grundrecht auf Asyl. Und es geht darum, Europa zusammenzuhalten.
Die Bundesregierung hat jetzt gerade ein Abschiebepaket verabschiedet. Ist das ein Hebel?
Ich finde es gut, dass die Bundesregierung erkannt hat, dass endlich etwas passieren muss. Aber es ist nur ein Anfang. Wir Länder müssen auch in der Praxis abschieben können. Deshalb ist es wichtig, dass Deutschland Abkommen mit den Herkunftsländern schließt.
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Der Sonderbeauftragte der Bundesregierung müht sich, aber hat bisher wenig erreicht.
Der Bundeskanzler wäre gut beraten, die Verhandlungen über Rückführungsabkommen zur Chefsache zu erklären und selbst aktiv zu werden. Die Flüchtlingspolitik ist das Topthema. Die Menschen wollen Lösungen.
Auch weil sonst die AfD noch stärker wird?
Ich werde mein politisches Handeln nicht an Parteien wie der AfD ausrichten. Aber ich nehme eine Stimmung im Land wahr, die ganz klar gegen die Flüchtlingspolitik der Ampel gerichtet ist. Die Erwartungshaltung an die Politik ist klar: Die Menschen wollen, dass dieses Problem gelöst wird.
Das heißt, es muss am 6. November eine Einigung zwischen Bund und Ländern geben?
Der Kanzler hat die große Chance, bei der Ministerpräsidentenkonferenz Pflöcke einzuschlagen. Es muss einen Kurswechsel in der Asylpolitik geben. Dann werden die Menschen auch wieder in die politische Mitte zurückfinden.
„Wir müssen Anreize senken, etwa die Sozialleistungen“
Wenn wir Sie aber richtig verstehen, dann gibt es keine kurzfristige Lösung. Ist es dann von CDU und CSU verantwortlich, Erwartungen zu schüren, deren Nichterfüllung die Menschen weiter enttäuschen und in die Arme der Populisten treiben wird?
Wir als CDU und CSU haben dem Bundeskanzler im Bundestag angeboten, eine echte Asylwende zu unterstützen. Aber natürlich ist der Weg dahin komplex und wird nicht durch eine Maßnahme allein gelöst. Aber am Anfang von allem muss das Signal stehen: Deutschland kann nicht alle Menschen aufnehmen.
Wie soll das konkret aussehen?
Wir müssen Anreize senken, etwa die Sozialleistungen. Auch eine bundesweit einheitliche Bezahlkarte für das Nötige zum Leben muss jetzt kommen, damit die Flüchtlinge Bargeld nicht mehr in ihre Heimat schicken können. Ich verstehe nicht, warum das ungerecht sein soll. Die Ministerpräsidenten sind alle dafür.
Bund und Länder sind sich nicht einmal einig, wie sie die Flüchtlingskosten aufteilen wollen. Was, wenn es Anfang November keine Einigung gibt?
Ich kann nur alle warnen: Es geht um die Akzeptanz unserer Flüchtlingspolitik und unseres wirklich sehr liberalen Asylsystems. Es geht um Europa. Und ich gehe noch einen Schritt weiter: Es geht um den Glauben der Menschen an staatliche Institutionen, an unsere Demokratie. Deswegen muss der Bundeskanzler jetzt handeln und notfalls seinen Finanzminister per Richtlinienkompetenz anweisen, ein Pro-Kopf-Abrechnungssystem zu ermöglichen, das zu einer echten Unterstützung der Anstrengungen von Ländern und Kommunen führt.
Und auch in Richtung meiner eigenen Partei sage ich: Dieses Thema eignet sich nicht, um sich zu profilieren. Es eignet sich schon gar nicht für parteitaktische Spielchen.
„Obergrenze ist ein Begriff, den ich mir nicht zu eigen mache“
Das alles klingt nicht, als würde der vom Kanzler angekündigte „Deutschlandpakt“ geschlossen.
Ich hoffe, dass der Bundeskanzler auf die Forderungen von uns Ministerpräsidenten eingeht. Aber auch das ist nur ein Schritt. Danach werden wir die Asylgesetzgebung und vieles mehr im Schulterschluss von Bundesregierung und Opposition im Bundestag ändern müssen. Erst dann haben wir einen Deutschlandpakt. Und nur so gewinnen wir Vertrauen zurück.
Was wollen Sie im Asylrecht ändern?
Die Ministerpräsidenten wollen Asylverfahren innerhalb von drei Monaten durchführen. Dazu müssen die Vorprüfungen im besten Fall bereits im Herkunftsland beginnen, damit wirklich nur diejenigen deutschen Boden betreten, die unsere Hilfe benötigen. Auch muss Europa viel stärker gemeinsam handeln. Wir brauchen endlich eine Reform des europäischen Asylrechts mit Transitzentren an den europäischen Außengrenzen.
Brauchen wir eine Flüchtlingsobergrenze?
Obergrenze ist ein Begriff, den ich mir nicht zu eigen mache. Wir sollten die aufnehmen, die eine Bleibeperspektive haben, und ihnen dann auch Arbeit geben und sie integrieren. Alle anderen können wir nicht aufnehmen. Die Zeit der offenen Arme ist vorbei.
Vielen Dank für das Interview, Herr Wegner.