Thursday, December 7, 2023

Jetzt riskiert Deutschland auch noch seine Milliarden-Hilfen aus Brüssel

WELT Jetzt riskiert Deutschland auch noch seine Milliarden-Hilfen aus Brüssel Artikel von Karsten Seibel • 5 Std. Deutschland stehen gut 26 Milliarden Euro aus dem EU-Wiederaufbaufonds zu – abgerufen wurde nur ein Bruchteil. Denn die Mittel für Energiewende bis E-Mobilität fließen erst, wenn bestimmte Ziele erreicht wurden. Doch der Ehrgeiz dazu fehlt, kritisiert der Bundesrechnungshof. Seit drei Wochen suchen die Ampel-Koalitionäre nach Milliarden. Sie müssen jene Finanzlücke schließen, die das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Schuldenbremse gerissen hat. Allein im Bundeshaushalt 2024 fehlen laut Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) 17 Milliarden Euro. Hinzu kommen jene 60 Milliarden, die bis 2027 wegen des Urteils nicht mehr für Investitionen und Subventionen im Klima- und Transformationsfonds (KTF) zur Verfügung stehen. Da sollte man eigentlich davon ausgehen, dass es für die Bundesregierung mehr denn je auf jede Milliarde ankommt. Ein gewaltiger Geldtopf, der genutzt werden könnte, steht in Brüssel: der wegen der Corona-Pandemie im Sommer 2020 eingerichtete Wiederaufbaufonds, genauer gesagt die sogenannte Aufbau- und Resilienzfazilität (ARF). Mit dem Geld sollen die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Pandemie gemildert werden. Es gibt Darlehen, aber für die Mitgliedstaaten interessant sind vor allem die Zuschüsse – also Geld, das anders als ein Darlehen nicht zurückgezahlt werden muss. Insgesamt liegen bis zum Jahr 2026 knapp 340 Milliarden Euro an Zuschüssen für die 27 Mitgliedstaaten bereit. Deutschland stehen aus dem Topf gut 26 Milliarden Euro zu. Das sind mehr als 50 Milliarden Euro weniger, als Deutschland einzahlt – genauer gesagt, als die deutschen Rückzahlungsverpflichtungen aus den dafür aufgenommenen EU-Anleihen betragen. Doch auch das Geld, das dem Nettozahler Deutschland aus dem Fonds zusteht, kommt nur sehr zögerlich an. Bislang wurden lediglich 2,25 Milliarden Euro überwiesen, also nicht einmal ein Zehntel der möglichen Summe. Weitere vier Milliarden Euro kommen demnächst hinzu. Im Vergleich zu Ländern wie Italien und Spanien, wo bereits mehr als die Hälfte der Mittel flossen, ist das wenig – und das, obwohl die beiden Südländer insgesamt sehr viel mehr Mittel erhalten sollen. Jetzt schlägt der Bundesrechnungshof Alarm. Er sieht „EU-Zahlungen aus dem Wiederaufbaufonds in Milliardenhöhe gefährdet“. Die Experten der obersten Bundesbehörde verweisen in einem aktuellen Bericht darauf, dass der Bund die Mittel erst abrufen könne, wenn bestimmte Investitionen in erneuerbare Energien, die Elektromobilität oder die Digitalisierung der Verwaltung tatsächlich getätigt wurden. Auch klimafreundliches Bauen und Tabletts für Lehrer sollen letztlich darüber bezahlt werden. Aus Sicht des Rechnungshofs lässt die Bundesregierung bislang den notwendigen Ehrgeiz vermissen, die Vorgaben zu erfüllen. Sie habe es versäumt, die verantwortlichen Stellen für die Umsetzung der Zukunftsprojekte stärker in die Pflicht zu nehmen, wie es in dem Bericht heißt. Zeit für die Umsetzung ist nur bis Ende August 2026 Ein Meilenstein kann schon der Erlass einer Vorschrift oder die Veröffentlichung einer Ausschreibung sein. Ziele sind eine bestimmte Zahl installierter Ladesäulen oder Anschlüsse an das Breitbandnetz. Wird ein Meilenstein oder ein Ziel verfehlt, kann die EU-Kommission Mittel einbehalten. Bis Ende August 2026 muss alles umgesetzt sein. „Andernfalls verfallen für Deutschland vorgesehen EU-Mittel“, wie es weiter heißt. Die Haushaltskontrolleure des Rechnungshofs befürchten also, dass mit den EU-Zuschüssen am Ende keine Lücken geschlossen werden, sondern sogar neue Lücken entstehen. Denn die Projekte werden zum Teil schon seit dem Jahr 2020 mit Mitteln aus dem Bundeshaushalt bezahlt – der Bund geht also in Vorleistung. „Damit stehen diese Mittel auch der Höhe nach fest, und zwar unabhängig davon, ob die Maßnahmen später erfolgreich umgesetzt wurden“, heißt es in dem Bericht. Wenn die staatlichen Stellen in Deutschland ihre Meilensteine und Ziele verfehlten, könne der Bund seine Ausgaben nicht vollständig refinanzieren. Sprich, er bekommt die Kosten nicht aus dem großen EU-Topf erstattet. Der Rechnungshof fordert deshalb eine stärkere Kontrolle. Die Bundesregierung solle es machen wie die EU, auch den zuständigen Ministerien klarmachen, dass es auch Geld aus dem Bundeshaushalt erst gibt, wenn die Meilensteine und Ziele erreicht wurden. „Hierzu könnte sie zum Beispiel für die Maßnahmen Haushaltssperren errichten und die Mittel schrittweise freigeben.“ Auch der Haushaltsgesetzgeber, also die Abgeordneten des Bundestages, müssten regelmäßig über den Stand der Umsetzung informiert werden. Im Bundesfinanzministerium (BMF) sieht man das Haushaltsrisiko durchaus. Eine andere Möglichkeit als die Vorfinanzierung gebe es jedoch nicht. Durch Haushaltssperren bestehe die Gefahr, „die Umsetzung der Maßnahmen zu verlangsamen und auch dadurch das Erreichen der Meilensteine und Ziele zu gefährden“, wie es in der Stellungnahme des Ministeriums auf die Rechnungshofprüfung heißt. Der Rechnungshof lässt diesen Einwand in seiner „Abschließenden Würdigung“ des Sachverhalts allerdings nicht gelten. „Anders als das BMF erwartet der Bundesrechnungshof, dass sich die Risiken für den Bundeshaushalt verringern, wenn Aufgaben- und Finanzverantwortung zusammengeführt werden. Wenn auch der Bund seine Mittelfreigabe an Zwischenziele knüpft, hätten „die Ressorts einen Anreiz, ihre Maßnahmen zügig und erfolgreich umzusetzen“. Die Bundesregierung sollte ein besonderes Interesse haben, dass die EU-Mittel am Ende vollständig abgerufen werden können, die gesamten gut 26 Milliarden Euro. Diese schafften schließlich auch im Bundeshaushalt zusätzliche finanzielle Spielräume. Spielräume, die man in diesen Tagen dringender sucht und braucht denn je.