Monday, December 4, 2023

Flüchtlinge in Deutschland: Wo ist die Grenze?

Frankfurter Allgemeine Zeitung Flüchtlinge in Deutschland: Wo ist die Grenze? Artikel von Oliver Georgi • 6 Std. Bundespolizisten halten Autos an der Kontrollstelle Wegscheid an. Vor ein paar Wochen wusste Jürgen Bockstedt manchmal nicht mehr, wo ihm der Kopf stand, aber jetzt reicht die Zeit sogar für einen entspannten Kaffee aus dem Bundeswehr-Kanister. Hier in Wegscheid an der österreichischen Grenze, gegenüber vom Kontrollpunkt, den die Bundespolizei an der Bundesstraße 388 aufgebaut hat, liegt die berühmteste Wiese Bayerns unter einer dünnen Schneedecke. Über diese Wiese zogen im Herbst 2015 in einem langen Treck die Flüchtlinge aus Ungarn. Die Bilder gingen um die Welt. Sie stehen für die warmherzige Willkommenskultur der Deutschen oder für den Kontrollverlust in der europäischen und deutschen Migrationspolitik. Je nach Sichtweise. Hinter der Wiese liegt dunkel der Bayerische Wald, auch durch den stapften damals die Flüchtlinge, verzweifelt und erschöpft. Aber da patrouilliert die Bundespolizei nur noch selten. „Lohnt sich kaum, die Schlepper schicken die fast nur noch über die Straßen“, sagt Bockstedt, ein zugewandter, fröhlicher Mann. Er ist bei der Bundespolizei in Passau für die Pressebegleitung zuständig, und da hatte er in den letzten Monaten gut zu tun. Im Sommer und Herbst sind die Flüchtlingszahlen auch in Bayern wieder sprunghaft gestiegen. 501 illegale Einreisen waren es noch im Juni, aber schon 1138 im August und fast 2400 im September, fast viermal so viele wie im Jahr davor. Nicht nur die große Politik in Brüssel und Berlin, auch Jürgen Bockstedt im kleinen Passau fragte sich, ob es jetzt wieder so werde wie 2015. Ob wieder ein Kontrollverlust drohe. „Für die Schleuser ist das ein Schlag“ Der Kontrollpunkt der Bundespolizei in Wegscheid in Bayerischen Wald Doch seit Anfang November ist kaum noch was los. „Wie abgeschnitten“ sei der Zustrom, sagt Bockstedts Kollege Daniel Giblis. Auch heute stehen sich die Beamten die Beine in den Bauch, und die schneefeuchte Kälte kriecht dabei in die Knochen. Manchmal wird ein einheimisches Auto angehalten, servus, Führerschein, alles klar, weiterfahren. Auch an der Kontrollstelle Rottal an der Autobahn 94, knapp 100 Kilometer weiter südlich: keine Schlepper mit Geflüchteten. Bei Pocking an der A3: auch keine, nur rumänische Sprinter-Fahrer ohne Führerschein und altersschwache Lastwagen. Die Papiere kann die Bundespolizei bequem in einem großen beheizten Zelt überprüfen, das vom Flüchtlingsherbst 2015 stehen geblieben ist. Woher der plötzliche Einbruch bei den Zahlen kommt, können Bockstedt und sein Kollege Giblis nur mutmaßen. Einerseits ist die Flucht im kalten Winter noch gefährlicher, vor allem die übers Mittelmeer. Andererseits hat die Polizei in Serbien, das auf der Balkanroute zum Hauptdrehkreuz für die Migration nach Süddeutschland geworden ist, in den letzten Wochen hart durchgegriffen. Das habe viele für eine Weile abgeschreckt, glaubt Bockstedt. Viel wichtiger seien aber die schärferen Grenzkontrollen. An der Grenze zu Österreich kontrollieren Bundes- und bayerische Grenzpolizei schon seit dem Herbst 2015, seither wird die Regelung jeweils für ein halbes Jahr verlängert. Seit die Bun­des­regierung im Oktober auch an den Grenzen zu Polen, Tschechien und der Schweiz stationäre Kontrollen bei der EU angemeldet hat, werden alle bayerischen Grenzen überwacht – trotz der Freizügigkeit, die das Schengenabkommen eigentlich gewährt. Die Staatsregierung hat zusätzliche Beamte für die Grenzpolizei versprochen, und auch die Schleierfahndung wurde an den Grenzen verstärkt. Damit können Beamte Menschen ohne konkreten Grund überprüfen. Kritiker halten das für rechtlich fragwürdig, Bockstedt hält es für notwendig. „Für die Schleuser ist das ein Schlag. Die haben gemerkt, dass sie nicht mehr so einfach durchkommen.“ Doch lange, fürchtet Bockstedt, werde diese Abschreckung nicht anhalten. Nach seiner Erfahrung werden die Zahlen im Frühjahr wieder deutlich steigen. Denn das Kontrollregime, auf das Bayern gerade so stolz ist, hat enge Grenzen. Allein der Grenzabschnitt, für den Bockstedt und seine Kollegen zuständig sind, ist 110 Kilometer lang und oft schwer zugänglich wie im Bayerischen Wald. Da reichen die 550 Beamten der Passauer Bundespolizei nicht mal annähernd. Neben den großen Kontrollstellen an Autobahnen und Bundesstraßen, an denen Beamte rund um die Uhr Wache schieben, sind kleinere Kon­trollpunkte wie in Wegscheid nur stundenweise besetzt. Für die Schlepper ist das praktisch: Sie schicken Vorauskommandos, um die Lage zu checken. Wenn die Luft rein ist, kommt der Sprinter. Wie es in diesem Sprinter aussieht, das raubt selbst Jürgen Bockstedt, der in seinem Polizistenleben schon viel gesehen hat, noch den Atem: 40 verängstigte Menschen, eingepfercht auf einer kleinen Ladefläche inmitten von Kot, Urin und Erbrochenem. Oder neulich der kleine Nissan, der im Graben landete, weil der Schleuser bei der Kontrolle die Nerven verloren hatte. Wie durch ein Wunder wurde niemand schwer verletzt. Bis zu 5000 Euro zahlen die Flüchtlinge ihrem Schlepper, aber von dem Geld bekommt der meist nur einen kleinen Teil, der Rest geht an die Bosse im Hintergrund. Das macht rücksichtslos. Die Schlepper würde immer aggressiver, sagt Bockstedt. „Die Kriterien haben sich nicht geändert“ Kennt die Forderungen nach „schlankeren“ Asylverfahren zur Genüge: der Leiter der Bamf-Außenstelle in Deggendorf, Hans Kirchinger Der Polizist steckt in einem Dilemma: Er fühlt mit den Geflüchteten mit. Als er 2015, mitten in der Flüchtlingskrise, Vater wurde, konnte er die verängstigten Kinder in den Unterkünften kaum sehen, so sehr nahm es ihn mit. Und trotzdem weiß er, dass nicht jeder bleiben kann, und muss mit seinen Beamten objektiv sein, wenn der nächste Sprinter an der Grenze steht. Wer dort Asyl verlangt, den muss die Bundespolizei ins Land lassen und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) übergeben, weil laut Gesetz jedes Asylgesuch geprüft werden muss. Die Beamten prüfen meist noch an der Grenze, ob ein Migrant schon in einem anderen EU-Land Asyl beantragt hat. Oft landen diese Fälle dann aber trotzdem in deutschen Erstaufnahmeeinrichtungen, weil EU-Länder wie Italien, Bulgarien oder Ungarn nicht alle Flüchtlinge zurücknehmen oder weil nicht genügend Abschiebezellen vorhanden sind. Nur wer an der Grenze kein Asyl ersucht und weder Ausweis, Aufenthaltstitel oder Visum hat, kann sofort zurückgewiesen werden. Bis Ende September hat die Bundespolizei in Bayern nach eigenen Angaben von 22.400 Migranten mehr als 8100 an der Grenze zurückgeschickt, für 853 Menschen wurde Abschiebehaft angeordnet. Flüchtlingshelfer finden das zu viel und unterstellen den Beamten, sie würden Asylgesuche wissentlich ignorieren. Eine Frechheit, findet Jürgen Bockstedt in Wegscheid. „Es ist Quatsch, dass wir jetzt mehr Menschen abweisen oder Asylgesuche ignorieren. Die Kriterien bei uns haben sich nicht geändert.“ Es ist auch nicht so, als warteten er und seine Kollegen nur darauf, dass die Politiker in Berlin endlich die Grenzen dichtmachen oder gleich das Individualrecht auf Asyl abschaffen, wie es mancher schon gefordert hat. „Das Asylrecht abzuschaffen, wäre unmenschlich, außerdem würde es für uns an der Grenze nichts ändern“, sagt Bockstedt. „Die Menschen würden sich trotzdem auf den Weg machen, und die Schlepper verschwinden auch nicht plötzlich.“ So oder ähnlich sehen es in Passau eigentlich alle, mit denen man über Mi­gration spricht. Und sie klagen über eine Überlastung, an der sie selbst kaum etwas ändern können. Raimund Kneidinger zum Beispiel, der Landrat von der CSU. Er sagt, die Verwaltungen in seinen Kommunen seien schon jetzt „extrem gefordert“, so könne es nicht mehr weitergehen: „Die Belastungsgrenze ist erreicht.“ Allein 2000 Ukrainer leben mittlerweile im Landkreis, fast alle sind in Privatunterkünften untergebracht. Auch die staatlichen Unterkünfte für Asylsuchende seien an der Kapazitätsgrenze, sagt Kneidinger, und die Notunterkunft ebenfalls voll belegt. „Wir können nicht mehr, und wir wollen nicht vor der Situation stehen, dass wir wieder Turnhallen konfiszieren müssen.“ Auch der Passauer Oberbürgermeister Jürgen Dupper, ein jovialer SPD-Mann, den so leicht nichts aus der Ruhe bringt, wird deutlich: „Die Kommunen müssen ausbaden, was Europa verbockt.“ Rund 1000 anerkannte Flüchtlinge leben derzeit in der Stadt, vor Kurzem hat der Stadtrat ein neues Containerdorf für 50 weitere Menschen beschlossen, weil es kaum noch Platz gibt. Noch sei die Lage entspannt, sagt Dupper. „Trotzdem gibt es in der Stadt immer mehr Druck im Kessel.“ Statt immer mehr Binnengrenzen zu kontrollieren, solle Europa lieber seine Außengrenzen rigider schützen, fordert er – vielleicht auch mit Asylverfahren außerhalb der EU. Passau hat das Personal in seinem Ausländeramt seit den Nullerjahren verdreifacht. Trotzdem muss Dupper seinen Bürgern immer wieder erklären, warum manche Verfahren Monate oder sogar Jahre dauern. Oder wieso bestens inte­grierte Migranten, die längst erfolgreich im Job sind, abgeschoben werden, manche Straftäter aber immer noch bleiben dürfen. Deutschland könne 200.000 Migranten oder sogar mehr pro Jahr aufnehmen, meint Dupper, die Zahl sei nicht das Pro­blem. „Dafür brauchen wir aber dringend verlässlichere und schlankere Asylverfahren.“ Auch die Pässe der Geflüchteten werden in Deggendorf erkennungsdienstlich behandelt. Schlankere Verfahren: Hans Kirchinger weiß nicht, wie oft er diese Forderung schon gehört hat. Umso genervter ist der Leiter der Bamf-Außenstelle im Ankerzentrum in Deggendorf, wenn man ihn danach fragt. Als ob ausgerechnet er daran etwas ändern könnte. Das Ankerzentrum nebenan ist eines von sieben in Bayern, in denen die Migranten nach ihrer Ankunft aufgenommen werden. Im Amt bei Kirchingerkommt dann die ganze Prozedur: Personalien klären, Fingerabdrücke abnehmen, Dokumente prüfen, auf säumige Asylbewerber warten und die Nerven behalten angesichts eines Wartezimmers, das eigentlich immer voll ist mit „Kunden“, wie Kirchinger sie nennt. Eben hat ein Beamter die Daten eines jungen Mannes aus Syrien aufgenommen, zum Glück hatte eine arabische Dolmetscherin Zeit: Name, Herkunft, Pass, Fluchtroute. Wollen Sie Asyl beantragen, dann hier unterschreiben, danke. Der nächste Termin ist in einigen Wochen die Asylanhörung, bei der entschieden wird, ob der Mann bleiben darf. Bis dahin muss er warten, also geht es jetzt wieder rüber in die Unterkunft, wo sie alle warten, Tag für Tag. Die meisten, die hier herkommen, sind Syrer, Afghanen, Iraker und Afrikaner. Seit einer Weile beantragen zwar auch immer mehr Türken Asyl in Deutschland, aber die werden in Deggendorf an andere Bamf-Stellen weitergeleitet. Die Ämter teilen sich die Nationalitäten auf, je nach Arbeitsbelastung. Und die ist überall hoch. 2022 dauerte die Bearbeitung eines Asylantrags im Bundesschnitt fast acht Monate. In Deggendorf seien sie schneller, sagt Kirchinger stolz, in seinem schleppenden niederbayerischen Dialekt. Oft nur drei Monate, je nach Nationalität des Antragstellers. „Bei Syrern gehen die Verfahren meist relativ schnell, weil bei ihnen klar ist, dass sie wahrscheinlich Asyl erhalten und sie meistens Ausweisdokumente besitzen. Ohne Papiere wird die Identitätsfeststellung für uns deutlich aufwendiger.“ Im Raum nebenan wurde gerade ein Aserbaidschaner angehört, ohne Papiere, weil der Schlepper ihm vielleicht geraten hat, sie wegzuwerfen. Schon die Feststellung und Überprüfung der Personalien dauert deshalb Stunden. Und selbst bei dem jungen Syrer kann es noch knifflig werden, denn in Italien wurden seine Fingerabdrücke abgenommen, „nur für die Weiterreise“, wie man ihm versichert habe. Wenn der Abdruck in der Eurodac-Datei ist, gilt das als Registrierung und Kirchinger müsste den Syrer eigentlich abschieben. So will es das Dublin-System. Dafür müsste Italien den Mann aber auch zurücknehmen. Und es müsste alles glattgehen bei der Rückführung. Am Ende werde er also wahrscheinlich hier bleiben, sagt Kirchinger lakonisch. Schlankere Asylverfahren? Wenn das so einfach wäre Oder die Leute, deren Asylantrag abgelehnt wurde und die eigentlich ins Flugzeug nach Hause gesetzt werden sollen, aber dann verweigert das Zielland die Landeerlaubnis. Dann geht die ganze Prozedur weiter, und man braucht weiter einen Platz in der Abschiebehaft. Mit solchen Problemen, von denen sie im fernen Berlin immer nur reden, hat Kirchinger in seinem Amt jeden Tag hautnah zu tun. Also von wegen schlankere Verfahren, dieses Schwarze-Peter-Spiel kann er nicht mehr hören. Ursprünglich war die Außenstelle mal für 20.000 Antragsteller pro Monat ausgelegt, mittlerweile bearbeiten seine Beamten fast doppelt so viele Fälle. Trotzdem legt er viel Wert darauf, dass seine Beamten mit größter Sorgfalt arbeiten. „An der Anhörung beim BAMF hängt das ganze Schicksal eines Menschen. Das kann man nicht hoch genug werten.“ Ja, auch in seinem Amt seien sie „ziemlich am Limit“, sagt Kirchinger dann. Das liege aber nicht nur an der großen Arbeitsbelastung, sondern auch an fehlendem Wohnraum für die Flüchtlinge. „Wenn selbst anerkannte Asylbewerber noch in den Unterkünften bleiben müssen, weil sie keine bezahlbare Wohnung finden und damit nicht nur den Platz für die nächsten Neuankömmlinge blockieren, sondern selbst auch immer frustrierter über ihre neue Heimat werden, dann ist das ein gesamtgesellschaftliches Problem.“ Er hätte auch sagen können: ein gesamteuropä­isches, das auch nur Europa lösen kann. Doch darauf warten Hans Kirchinger, Jürgen Bockstedt und die anderen schon lange.