Friday, December 30, 2022
Pelé war Kämpfer, Genie, Siegertyp und Zirkusnummer in einem
Berliner Zeitung
Pelé war Kämpfer, Genie, Siegertyp und Zirkusnummer in einem
Artikel von Matti Lieske • Gestern um 20:43
Diesen jungen Burschen könne man auf keinen Fall mit zur Fußballweltmeisterschaft nach Schweden nehmen, urteilte João Carvalhaes, der Psychologe der brasilianischen Nationalmannschaft. Viel zu infantil für eine solch gewichtige Aufgabe sei der 17-jährige Angreifer. Die Szenen nach dem Finale der WM 1958 gaben dem Professor in gewisser Weise recht. Da heulte der Jüngling so herzzerreißend, dass seine Tränen fast das Rasunda-Stadion in Stockholm unter Wasser gesetzt hätten, und ein Teamkollege nach dem anderen kam vorbei und tätschelte ihm den Kopf wie einem kleinen Kind. Zuvor allerdings hatte das Nesthäkchen die brasilianische Seleção mit seinen Toren, Dribblings und Pässen zum ersten WM-Titel ihrer Geschichte geführt. Sein Name: Edson Arantes do Nascimento, genannt Pelé.
Obwohl er schon ein Jahr zuvor als 16-Jähriger in Brasiliens Team debütiert und bei seinem ersten Einsatz vor 160.000 Zuschauern im Maracanã von Rio de Janeiro gegen Argentinien gleich ein Tor geschossen hatte, kannten ihn vor dem Turnier in Schweden nur wenige Europäer. Schließlich gab es damals kaum Berichte, geschweige denn Bilder aus Ligen anderer Länder, interkontinentale Vergleiche waren selten, die Weltmeisterschaft war die exklusive Bühne, auf der sich die besten Fußballer der Welt einem globalen Publikum präsentierten. Und Pelé hielt die Welt von dem Moment an in Atem, als er beim dritten Gruppenspiel der Brasilianer gegen die UdSSR erstmals zum Einsatz kam und beim 2:0 gleich in der zweiten Minute den Pfosten traf. Er könne der beste Fußballer der Welt werden, hatte sein Entdecker gesagt, als er den 15-jährigen Pelé zwei Jahre zuvor beim FC Santos vorgestellt hatte, und in Schweden wurde deutlich, dass der Mann kein bisschen übertrieben hatte.
Mit seiner geschmeidigen Leichtigkeit, seiner Eleganz, dem perfekten Timing beim Dribbling, seiner Ballbehandlung und Körperbeherrschung, Spielübersicht, Athletik und Kaltblütigkeit beim Torschuss wirkte Pelé, als sei er aus einer anderen Fußballgalaxie auf die Erde gekommen. Die Fußballfans kannten Alfredo di Stefano, sie kannten Ferenç Puskas, Fritz Walter, den Franzosen Raymond Kopa, Uwe Seeler, den Schweden Niels Liedholm, den Argentinier Nestor Rossi, alles begnadete Spieler auf ihre Art, doch einen wie Pelé, der alle Tugenden in sich vereinigte, hatten sie noch nie gesehen.
Der Brasilianer war Kämpfer, Genie, Siegertyp und Zirkusnummer in einem, er konnte dem Ball jede Flugkurve geben, die ihm beliebte, Freistöße, Elfmeter, lange Pässe, kurze Pässe, Kabinettstückchen aller Art, nichts war ihm fremd, und alles, was er beherrschte, setzte er auch ein. Wer sich eine Eintrittskarte für ein Spiel mit Pelé kaufte, wurde nie enttäuscht. Und anders etwa als der trickreiche Garrincha besaß er ein großes taktisches Verständnis. Dem krummbeinigen Rechtsaußen, vom Senhor Carvalhaes ebenfalls abgelehnt – wegen Dummheit –, versuchte der Trainer Vicente Feola sein System 1958 gar nicht erst zu erklären, sondern ließ ihn einfach auf seinem rechten Flügel herumtoben. Pelé jedoch hatte das brasilianische 4–2–4, das die Gegner überforderte, sofort im Blut.
Bei der WM 1958 avancierte der fast immer freundliche Brasilianer mit dem strahlenden Lächeln zum Inbegriff des schönen Fußballs, und er hob nicht nur die Seleção auf eine neue Stufe, sondern auch den FC Santos, seinen Klub. Der tourte fortan im Stile des Basketball-Showteams der Harlem Globetrotters durch die Länder der Welt und sorgte überall für volle Stadien, nur weil Pelé auf dem Platz stand. In Deutschland spielte das mit brasilianischen Nationalspielern gespickte Santos Anfang der 1960er-Jahre gegen Spitzenklubs wie den Hamburger SV, Schalke 04, Borussia Dortmund, Bayern München, VfB Stuttgart und ging meist als Sieger vom Platz, bei 1860 München sogar mit 9:1, drei Tore schoss die „Schwarze Perle“, wie man den ersten Superstar des Weltfußballs damals in Brasilien und anderswo ungeniert nannte.
Pelé war aber auch das letzte Fußballidol Brasiliens, das ganz seinem Volk gehörte. 18 Jahre lang spielte er in Santos, gewann Titel um Titel mit dem Klub. Seine weit über tausend Tore schoss er vorzugsweise in der Heimat, und er widerstand allen noch so verlockenden Angeboten der reichen Klubs aus Italien und Spanien. Schließlich konnte er auch in Brasilien eine Menge Geld verdienen. Vor allem mit zahlreichen Werbeverträgen aller Art, auch auf diesem Gebiet war er ein Pionier, der neue Maßstäbe für jene setzte, die ihm folgten.
Für die Europäer hatte das den Nachteil, dass sie ihn, abgesehen von den Shows mit Santos und seltenen Länderspielen, nur bei Weltmeisterschaften sahen. Und das nach 1958 nur sehr eingeschränkt. 1962 bei der erfolgreichen Titelverteidigung in Chile verletzte er sich schon im zweiten Spiel des Turniers, 1966 in England, wurde er im dritten Gruppenmatch von den Portugiesen regelrecht gejagt und aus der Partie getreten. Auswechslungen gab es nicht, Brasilien schied in der Vorrunde aus.
Der Kreis für Pelé schloss sich erst bei der WM 1970 in Mexiko, als er noch einmal ein vollständiges Turnier in bester Verfassung durchspielen konnte, das gesamte Repertoire seiner Fußballkunst vorführte und das beste brasilianische Team aller Zeiten zum dritten Titel dirigierte. Längst galt er als Spieler des Jahrhunderts, doch sein glänzender Ruf auf internationaler Ebene hatte vor der WM in der Heimat ein wenig gelitten. Mangels echter Herausforderungen in Brasiliens Liga war er etwas bequem und selbstzufrieden geworden. Weniger höflich drückte es der damalige Nationaltrainer João Saldanha aus, der den großen Pelé „alt und fett“ nannte. Erst als kurz vor der WM sein alter Nationalmannschaftskollege Mario Zagallo die Seleção übernahm, hatte Pelé seinen Platz im Kader sicher und wurde rechtzeitig fit, um als erster Spieler drei WM-Titel zu gewinnen.
Für ihn selbst war es nicht nur der Höhepunkt seiner Karriere im kanariengelben Trikot, sondern auch der Schlusspunkt. Erst 31-jährig trat er 1971 aus der Seleção zurück und ließ nach dem bewegenden Abschiedsspiel, natürlich im Maracanã, auch seine Vereinslaufbahn in Santos langsam ausklingen. Die Rückkehr ins Nationalteam zur WM 1974 in Deutschland lehnte er ab und erklärte im selben Jahr seine Karriere für beendet. Nichts deutete zu jenem Zeitpunkt darauf hin, dass noch eine große Mission auf ihn wartete: die Revolutionierung des Fußballs in den USA.
Dort waren ein paar Geschäftsleute gerade dabei, den Schul- und Collegesport in eine schillernde Profiliga zu überführen, die NASL, und die Verantwortlichen bei Cosmos New York, die Musikmanager Ahmed und Nesuhi Ertegun von Warner Brothers, beschlossen, dass bei diesem Projekt Pelé das ideale Zugpferd wäre. Der Brasilianer war zuerst skeptisch bis abweisend, doch einer Sache hatte der Sohn armer Eltern aus Tres Coraçoes noch nie widerstehen können, einem dicken Bündel schöner Dollars. Außerdem hatte er bei unglücklichen Geschäften viel Geld verloren, und so nahm er schließlich die sechs Millionen Dollar für zwei Jahre bei Cosmos New York gern mit.
Vor allem dank Pelés Ankunft im Sommer 1975 blühte die NASL auf, und seine Präsenz rückte nicht nur den Fußball ins Bewusstsein der Nordamerikaner, sondern beförderte ihn auch mitten in die Popkultur. Im Gefolge von Pelé kamen viele europäische Stars wie George Best, Johan Cruyff, Eusebio, Geoff Hurst, Bobby Moore oder Giorgio Chinaglia in die Liga, und vor allem Cosmos New York mit Pelé, Franz Beckenbauer, Giorgio Chinaglia und Carlos Alberto erreichte einen Glamourfaktor, auf den die meist noch sehr bieder geführten europäischen Teams voller Neid blickten. Legendär die Auftritte der Cosmos-Truppe im legendären Studio 54.
Pelé, der nie ein Kind von Traurigkeit war, gefiel das Leben als umschwärmter Superstar im hippen New York, doch vom Fußball hatte er mit 37 endgültig genug und ging zurück nach Brasilien. Fortan betätigte er sich als erfolgreicher Geschäftsmann, nervte diverse Nationaltrainer mit besserwisserischen Kritiken in Zeitungskolumnen und als TV-Experte und verstrickte sich in einen albernen Streit mit Diego Maradona über die Frage, wer denn nun der größte Fußballer aller Zeiten sei. 1995 wurde Pelé dann Sportminister und versprach die Reinigung des brasilianischen Fußballs von der grassierenden Korruption. Doch nach anfänglichen kämpferischen Tönen gegen Brasiliens Fußball-Paten João Havelange und Ricardo Teixeira verliefen die Bestrebungen bald im Sande.
Sein Ruf litt zudem, als einige seiner Maßnahmen verdächtig deutlich den Geschäften seiner eigenen Firmen zuträglich waren. Nach dem Ende seines Ausflugs in die Politik 1998 wandte er sich wieder erfolgreich seiner liebsten Beschäftigung seit Karriereende zu: der Vermarktung, Präsentation und Glorifizierung der Marke Pelé. Am Donnerstag ist Edson Arnates do Nascimento im Alter von 82 Jahren an Krebs gestorben.