Wednesday, September 18, 2024
„Trump ist über dieses System hereingebrochen wie ein Tsunami“
WELT
„Trump ist über dieses System hereingebrochen wie ein Tsunami“
Artikel von Lara Jäkel • 37 Mio. • 6 Minuten Lesezeit
Im US-Wahlkampf ist die Stimmung vergiftet wie selten zuvor. Die Spaltung zwischen Demokraten und Republikanern zieht sich durch jeden Teil der Gesellschaft. Donald Trump sei Symptom und Verstärker dieser Entwicklungen, meint USA-Experte Stephan Bierling – doch der Ursprung liege anderswo.
Die Vereinigten Staaten sind in einem Ausmaß zerstritten und verfeindet wie seit dem Bürgerkrieg nicht mehr. Als Hauptursache dafür gilt die parteipolitische Polarisierung, die mittlerweile alle Akteure und Institutionen des Landes erfasst hat. Stephan Bierling, Leiter der Professur für Internationale Politik und transatlantische Beziehungen, erklärt im Interview, warum das politische System der USA immer weniger funktioniert – und warnt vor dramatischen Folgen für die Demokratie weltweit.
WELT: Herr Bierling, Ihr neues Buch heißt „Die Unvereinigten Staaten“ – warum?
Stephan Bierling: Der Titel ist Ausdruck der parteipolitischen Polarisierung, die sich in den letzten 40 Jahren in das amerikanische politische System eingefräst hat und heute jeden Teil der Gesellschaft durchdringt. Die Amerikaner sind, parteipolitisch gesehen, weniger vereinigt als zu jedem anderen Zeitpunkt in ihrer Geschichte.
WELT: Wie ist es dazu gekommen?
Bierling: Nach einer Phase großer Einheit begannen sich in den 1960er-Jahren zwei Amerikas herauszubilden: ein konservatives, das an traditionellen Werten wie Religion und Familie festhalten will – und ein liberales, progressiveres Amerika. Das schlug sich auch in der Politik nieder. Überparteiliche Zusammenarbeit im Kongress war lange selbstverständlich; noch in den 1970er-Jahren war ein Republikaner aus Massachusetts deutlich linker als ein Demokrat aus Texas. Seitdem haben sich die Parteien neu sortiert und wurden ideologisch homogener. 1994 verabschiedeten die Republikaner im Repräsentantenhaus erstmals ein gemeinsames nationales Wahlprogramm und attackierten die Demokraten frontal – mit Erfolg. Beide Parteien setzten seitdem stärker auf spalterische Themen wie Abtreibung oder Waffenrechte, um Wähler zu mobilisieren.
WELT: Mit welchen Folgen?
Bierling: Die Parteien und ihre Anhänger sortierten sich entlang ideologischer Linien. Bald waren alle Konservativen bei den Republikanern und alle Progressiven bei den Demokraten. Diese abgeschotteten Parteizirkel radikalisierten sich weiter, weil sie sich nicht mehr mit anderen Ideen und Argumenten auseinandersetzen mussten. Inzwischen ist überparteiliche Zusammenarbeit kaum noch möglich, die Parteien stehen sich wie feindliche Stämme gegenüber. Das lähmt das politische System und verlagert Konflikte in andere gesellschaftliche Bereiche wie das Gerichtswesen oder die Einzelstaaten. Ohne ein Verständnis für diese Spaltung im Land ist auch das Phänomen Donald Trump nicht zu erklären.
WELT: Trump ist also das Symptom dieser Entwicklung, nicht die Ursache?
Bierling: Trump ist Symptom, Profiteur und Verstärker dieser Entwicklung. Natürlich hat er den Keil noch weiter hineingetrieben durch seine hetzerische Rhetorik, die in der Lüge von der gestohlenen Wahl und dem Sturm auf das Kapitol gipfelte. Aber ohne die schon dagewesene parteipolitische Polarisierung hätte er weder eine so auf ihn eingeschworene Gefolgschaft um sich scharen noch die Republikanische Partei übernehmen können. Trump ist über dieses System, das schon waidwund war, hereingebrochen wie ein Tsunami. Und er hat mit seinem animalischen Instinkt für Stimmungen zunächst die Republikanische Partei und dann die ganzen USA gekapert.
WELT: Funktioniert die Gewaltenteilung noch, die den US-Präsidenten in seinem Amt begrenzen soll?
Biereling: Die Verfassungsväter hatten von einer Sache panische Angst: der Anhäufung von Macht. Darum war der Präsident historisch gesehen eine schwache Figur, die vom Kongress, der Justiz und den Grundrechten in der Verfassung kontrolliert werden sollte. Im Laufe der Zeit wurde die Rolle allmählich gestärkt – vor allem unter Franklin D. Roosevelt während der Wirtschaftskrise oder George W. Bush nach dem 11. September. Die Grundlage dieser neuen Vollmachten war das Vertrauen, dass der Präsident verantwortungsbewusst damit umgehen würde. Aber Trump ist ein autoritär denkender Mensch. Er hat einmal gesagt, Artikel 2 der Verfassung – in dem die Kompetenzen des Präsidenten festgelegt sind – gebe ihm die Möglichkeit, alles zu tun, was er will. Da würden sich die Verfassungsväter im Grab umdrehen. Genau das war es, was sie durch ihre Konstruktion verhindern wollten.
WELT: Hängt die Demokratie der USA also vom nächsten Wahlergebnis ab?
Bierling: Die Wahl am 5. November ist die wichtigste Wahl in meinen Lebzeiten. Weil nicht nur die Demokratie in Amerika zur Disposition steht, sondern auch die westliche internationale Ordnung, von der Deutschland in den letzten 75 Jahren am allermeisten profitiert hat. Sollte Trump gewinnen, wird das ein Härtetest für die Demokratie. Er würde eine zweite Amtszeit völlig anders angehen als 2016.
WELT: Inwiefern?
Bierling: Damals hatte er keinerlei Regierungsprogramm und kannte niemanden, mit denen er die wichtigen Posten hätte besetzen können. Er hatte Berater wie General Kelly, General Mattis oder General McMaster um sich, die ihn eingenordet haben. Aber je selbstsicherer Trump wurde, desto autoritärer wurde er auch. Er hat alle diese Generäle entlassen und nur noch Ja-Sager um sich platziert. In einer zweiten Amtszeit müssten wir mit jemandem rechnen, der viel besser vorbereitet ist und mit vielen absoluten Loyalisten den Regierungsapparat übernehmen würde. Er würde versuchen, über die anderen Institutionen hinweg zu regieren – das wäre der erste Schritt hin zur Diktatur. Dass das Verfassungsgericht ihm wenige Hürden in den Weg legen würde, hat es mit dem Urteil vor einige Wochen gezeigt, in dem es die Immunität des Präsidenten ausgeweitet hat.
WELT: Das politische System der USA steht in diesem Kontext immer wieder in der Kritik, auch, weil es Donald Trump 2016 zum Präsidenten machte, obwohl er nicht die Mehrheit der Stimmen im Land bekam. Zu Recht?
Bierling: Das amerikanische Wahlsystem ist erst mit der Polarisierung ein Problem geworden, weil die Parteien es zum Instrument ihrer Rivalität gemacht haben. Lange hat die Politikwissenschaft argumentiert, dass Zweiparteiensysteme zur Mäßigung zwingen, weil die Parteien ganz unterschiedliche Gruppen ansprechen müssen. Das war auch die längste Zeit der Fall. Historisch gesehen waren die meisten Staaten in den USA Swing States – konnten also prinzipiell von beiden Parteien gewonnen werden. Weil sich die Wähler inzwischen entlang der Parteilinien sortiert haben, sind es heute nur noch sieben Staaten. Auf die konzentrieren sich alle Wahlkampfausgaben, Kandidatenauftritte und Fernsehwerbespots. Das ist eine starke Reduzierung einer allgemeinen, für die Nation verbindlichen Wahl.
WELT: Wie erfolgversprechend sind Reformvorschläge, etwa eine proportionale Vergabe der Wahlmänner?
Bierling: Prinzipiell ist das möglich, weil in der Verfassung nicht festgeschrieben ist, wie die einzelnen Staaten ihre Wahlleute vergeben. Aber der Bundesstaat, der das als erster einführt, würde die Position der ihn dominierenden Partei schwächen, wenn es nicht alle anderen Bundesstaaten gleichzeitig auch einführen – was nicht passieren wird. Überhaupt scheint das amerikanische Wahlsystem nicht wirklich reformierbar, weil solche Verfassungs- und Gesetzesänderungen innerhalb des Kongresses nicht mehrheitsfähig sind. Im Moment profitieren die Republikaner von dem System, es könnte aber genauso gut die Demokraten bevorteilen. Reformen gibt es allenfalls durch Gerichtsurteile und Referenden auf Einzelstaatsebene.
WELT: Kann sich das Land von diesem Ausmaß der Polarisierung überhaupt erholen? Gibt es eine Chance auf „Wiedervereinigung“ der Staaten?
Bierling: Ich glaube, es gibt gute Chancen. Sollte Trump die Wahl verlieren, wäre das für die Republikaner eine dramatische Entwicklung. Sie haben schon die Zwischenwahl 2018 verloren, dann die Präsidentschaftswahl 2020, dann die Zwischenwahl 2022. Bei einer erneuten Niederlage dürfte Trump Geschichte sein, und die Partei muss sich neu aufstellen. Außerdem sehen wir bei einigen Themen, die die Nation sehr gespalten haben – etwa Abtreibung –, eine gewisse Annäherung zwischen den Parteien. Als der Supreme Court das bundesweit garantierte Abtreibungsrecht kippte und den Staaten zuwies, haben sich auch viele republikanische Frauen gegen diesen Schritt ausgesprochen. Und auf einmal ruderte Trump zurück. Da ist also eine Tendenz in Richtung Mitte zu erkennen. Die größte Hoffnung liegt aber in der demografischen Veränderung der USA.
WELT: Wieso?
Bierling: Die parteipolitische Spaltung war ein Projekt der weißen, intellektuellen Eliten, weil sie damit ihre vor allem weißen Wähler am besten mobilisieren konnten – auf beiden Seiten. Doch Minderheiten, insbesondere Hispanics und Asien-Amerikaner, werden demografisch eine immer größere Rolle spielen. Diese Gruppen haben in der Regel andere Sorgen als die Eliten. Die wollen einen guten Job, gesicherte Lebensumstände, eine Familie aufbauen. Für sie sind diese ideologischen Debatten, egal ob von rechts oder links, weit weg. Um solche Gruppen anzusprechen, müssen die Parteien praktische, lebensnahe Lösungen anbieten und wieder überparteilicher denken.
Lara Jäkel ist Redakteurin im Ressort Außenpolitik. Für WELT berichtet sie unter anderem über die US-Präsidentschaftswahl 2024.