Sunday, September 1, 2024
Kretschmer wollte die Grünen loswerden – und hat nun eine Option
WELT
Kretschmer wollte die Grünen loswerden – und hat nun eine Option
Artikel von Sebastian Beug • 2 Std. • 4 Minuten Lesezeit
Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer steht wie kein anderer CDU-Politiker für eine andere Ukraine-Politik. In seinem Bundesland zahlte sich das aus. Der 49-Jährige kann voraussichtlich Ministerpräsident bleiben. Das BSW könnte in einer Koalition die Grünen ersetzen.
Michael Kretschmer (CDU) regiert seit 2017 in Sachsen, seit 2019 in einer Koalition mit SPD und den Grünen
Von der wichtigsten Wahl seit 34 Jahren sprach Michael Kretschmer bei seiner Stimmabgabe am Sonntag. Am Ende war es für Sachsens Ministerpräsident nicht nur die wichtigste Wahl im Freistaat, sondern auch die wichtigste Wahl seiner politischen Karriere. Wie auch immer das Endergebnis ausfällt, Kretschmer wird wohl Ministerpräsident bleiben.
Laut den Hochrechnungen liefern sich CDU und AfD ein Kopf-an-Kopf-Rennen um Platz eins. ARD und ZDF sehen die CDU in Sachsen bei 31,8 und 31,5 Prozent, die AfD bei 30,8 und 30,4. Sollten sich diese Ergebnisse im Laufe des Abends bestätigen, wäre es Kretschmer gelungen, die AfD auf Platz zwei zu verweisen.
„Ich finde, wir haben allen Grund zum Feiern“, sagte Kretschmer am Wahlabend im Lichte der ersten Ergebnisse vor seinen Anhängern in Dresden. Zwar hat die sächsische Union im Vergleich zu ihrem bisher schlechtesten Ergebnis 2019 (32,1 Prozent) knapp verloren. Doch Kretschmer hat die CDU in Sachsen voraussichtlich wieder zur Nummer eins gemacht – bei den vergangenen Europa- und Bundestagswahlen entschieden sich die meisten Wähler noch mit Abstand für die AfD. Diese Trendwende ist ein Verdienst Kretschmers.
Er wagte sich immer wieder auf das Feld der Außenpolitik, sprach sich für eine Kürzung der Waffenlieferungen an die Ukraine aus und machte sich für Friedensgespräche stark. Zu den Positionen der Bundespartei war das ein Widerspruch, den auszuhalten sich angesichts des Wahlergebnisses für die CDU aber offenbar ausgezahlt hat. Die Ukraine-Politik war ausweislich von Umfragen neben Sicherheit und Migration eines der wichtigsten Themen im Wahlkampf.
Dazu kommt der Amtsbonus: Kretschmer regiert seit 2017 in Dresden. Er stellte sich als Ministerpräsident den Montagsdemonstranten und Kritikern der Corona-Maßnahmen, gilt als nahbar. Das rechnen ihm viele Bürger an. Bei einer Direktwahl hätten ihn laut ZDF-Politbarometer 68 Prozent der Sachsen direkt im Amt bestätigt.
Kenia ist abgewählt
Die weiteren Ergebnisse in Kürze: Für die Ampel-Koalition bleibt das große Debakel in Sachsen aus. Die SPD kommt laut Hochrechnungen auf rund 7,5 Prozent, auch die Grünen dürften die Fünf-Prozent-Hürde in Sachsen übersprungen haben. Die FDP war bisher nicht im Landtag zu vertreten und hatte dementsprechend wenig zu verlieren. Das BSW kommt aus dem Stand auf etwa 12 Prozent und marginalisiert die Linkspartei. Sie könnte mit rund vier Prozent erstmals in Ostdeutschland an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern.
Doch die Linke profitiert von einem Detail im sächsischen Wahlrecht. Die Grundmandatsklausel sichert auch Parteien den Einzug in den Landtag, die weniger als fünf Prozent der Stimmen erhalten, aber zwei Direktmandate gewinnen. In zwei Wahlkreisen in Leipzig erhielten Kandidaten der Linkspartei laut vorläufigem Ergebnis die meisten Stimmen und sicherten ihrer Partei damit das Überleben in der parlamentarischen Opposition.
Mit diesem Wahlergebnis wird die Regierungsbildung dem bisherigen Ministerpräsidenten Kretschmer zufallen. Bisher regiert Kretschmer in einer Kenia-Koalition mit SPD und den Grünen. Durch den Einzug der Linkspartei über die Grundmandatsklausel und des BSW über den Stimmenanteil verschieben sich die Verhältnisse im Landtag – Kenia hat keine Mehrheit mehr. Doch Kretschmer könnte in einem Bündnis aus CDU, SPD und BSW weiterregieren.
Ohnehin hatte Kretschmer vor der Wahl erklärt, die Grünen am liebsten loswerden zu wollen. Die Partei spielt außer in den Großstädten Leipzig und Dresden kaum eine Rolle. Grüne Politik geht in den Augen vieler Sachsen an ihrer Lebensrealität vorbei. Auch Kretschmer sprach vor rund einem Jahr etwas verächtlich davon, dass er „diese Leute“ nicht wirklich leiden könne – seine eigenen Koalitionspartner.
Schnittmengen zwischen CDU und BSW – trotz Zank zwischen Kretschmer und Wagenknecht
Mit dem BSW hat Kretschmer nun eine Alternative im Landtag sitzen. Eine Koalition haben weder CDU noch BSW ausgeschlossen und Gemeinsamkeiten gibt es durchaus, etwa in der Ukraine-Politik. Beide Parteien sprachen sich im Wahlkampf auch dafür aus, flächendeckend eine Bezahlkarte für Asylbewerber einzuführen.
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Vor der Wahl krachte es allerdings zwischen Kretschmer und BSW-Gründerin Wagenknecht. Sie kündigte an, mögliche Koalitionen an die Bedingung zu knüpfen, keine weitreichenden US-Raketen in Deutschland zu stationieren. Er sprach darauf von einer Einmischung wie aus dem „Politbüro“ in Berlin. Am Wahlabend formulierte Kretschmer erste Bedingungen Richtung Wagenknecht – ohne sie allerdings beim Namen zu nennen. „Es heißt nicht ohne Grund, die sächsische Union“, sagte Kretschmer. „Für uns kommt immer zuerst das Land. Jeder, der in Zukunft hier mitmachen will, muss das als Erstes unterschreiben.“
Sachsens BSW-Spitzenkandidatin Sabine Zimmermann zeigte sich in der ARD kompromissbereit. Sie und Wagenknecht entschieden gemeinsam, betonte Zimmermann. Frieden und die illegale Migration seien die wichtigsten Themen im Wahlkampf gewesen. „Ich glaube, da sind wir gar nicht so weit voneinander entfernt“, sagte Zimmermann mit Blick auf die sächsische CDU. Offen hingegen ist, ob Kretschmer mit dem BSW – und auch der SPD, denn die bräuchte es ebenfalls – seine Idee einer sächsischen Grenzpolizei nach dem Vorbild Bayerns umsetzen könnte.
Koalitionsverhandlungen ohne die AfD
Bei möglichen Koalitionsverhandlungen dürfte AfD-Spitzenkandidat Jörg Urban indes außen vor bleiben. Die AfD Sachsen wird als gesichert rechtsextrem eingestuft. Und obwohl Urban deutlich ruhiger auftritt als der Thüringer AfD-Chef Björn Höcke, will keine der voraussichtlich im Landtag vertretenen Parteien mit der AfD sprechen oder gar zusammenarbeiten. Urbans Appell am Wahlabend, die AfD angesichts ihres bisher besten Ergebnisses in Sachsen auch in Sachentscheidungen im Landtag einzubinden, wie es in immer mehr Kreistagen der Fall sei, dürfte ungehört verhallen.
In der anstehenden Regierungsbildung könnte Kretschmer sich an Hessens CDU-Ministerpräsident Boris Rhein orientieren. Der hatte im vergangenen Jahr die Wahl, die bisherige Koalition mit den Grünen fortzusetzen oder aber ein Bündnis mit der SPD einzugehen. Rhein verhandelte mit beiden und entschied sich letztlich für ein Bündnis mit der SPD, in dem er viele CDU-Inhalte durchsetzen konnte.
Aber: Auch CDU, BSW und Grüne hätten eine Mehrheit im Landtag in Dresden. Kretschmer könnte also doch noch einmal mit den missliebigen Grünen verhandeln, um die Sozialdemokraten zu Zugeständnissen zu bewegen.