Monday, September 16, 2024

"Deutschland spricht" in Cottbus: "Ich kann die weinerlichen Ossis nicht mehr hören. Und ich bin Ossi"

ZEIT ONLINE "Deutschland spricht" in Cottbus: "Ich kann die weinerlichen Ossis nicht mehr hören. Und ich bin Ossi" Artikel von Maria Mast, Marzena Skubatz • 18 Std. • 5 Minuten Lesezeit Wie sehen Menschen aus, die mit einem Fremden über Politik gestritten haben? Wir haben sechs Paare von "Deutschland spricht" nach ihrem Gespräch vor die Kamera gebeten. Menschen streiten nicht gern. Schon gar nicht mit Fremden. Dennoch haben das an diesem Sonntag Tausende freiwillig getan, in München und Berlin, in Erfurt und Mannheim. Sie alle haben sich bei "Deutschland spricht" angemeldet, eine Art Datingplattform für politisch Andersdenkende, die ZEIT ONLINE seit nunmehr sieben Jahren organisiert. Rund hundert der diesjährigen Teilnehmer kamen zu einer Veranstaltung in das Alte Stadthaus nach Cottbus. Dort haben wir sie nach ihrem Gespräch vor die Kamera gebeten und gefragt: Wie stehen Sie sich nun gegenüber? Robert Grimm aus Berlin & Erwin Schmull aus Pforzheim: in vier Fragen unterschiedlicher Meinung Erwin Schmull, 77 Jahre, ist in der Nacht mehr als 600 Kilometer mit dem Auto gefahren, um an "Deutschland spricht" teilzunehmen, von Pforzheim in Baden-Württemberg nach Cottbus in Brandenburg. Es ist das achte Gespräch, das der Rentner bei "Deutschland spricht" führt. Seine Lebensgefährtin ist Ukrainerin. Robert Grimm, 49 Jahre, ist Meinungsforscher bei Ipsos Berlin. Grimm hat die Ukraine 2013 vor der Maidan-Revolution mit seinem Vater besucht. Sein Großvater ist 1941 im Zweiten Weltkrieg in der Ukraine gefallen. »Ich stand am Anfang uneingeschränkt auf der Seite der Ukraine. Jetzt frage ich mich: Wie viel können und wollen wir investieren, um die diktatorischen Systeme im Osten zu besiegen?« Robert Grimm »Ich kann diesen Punkt nicht entkräften und bin trotzdem anderer Meinung. Ich bin dafür, die Ukraine weiterhin voll zu unterstützen. Putin hat am Anfang gedacht, er könnte einfach durchmarschieren. Es war entscheidend, dass wir uns ihm voll entgegengestellt haben.« Erwin Schmull Uwe Plentz aus Berlin & Daniel Büchner aus Leipzig: in fünf Fragen unterschiedlicher Meinung Plentz, 54 Jahre, und Büchner, 47 Jahre, sind beide in Ostdeutschland geboren. Sie seien sich auf Anhieb sympathisch gewesen, obwohl sie völlig andere Meinungen hätten, sagen sie. Plentz sagt über sich selbst, dass ihn die eine Hälfte der Leute wegen seiner Ansichten für linksversifft halte, die andere für einen Nazi. Beide sagen, dass sie durch das Gespräch etwas dazugelernt haben. »In dem Gedanken, dass man sich als Ostdeutscher benachteiligt fühlt – und das ja auch zeitweise zu Recht –, kann man sich einrichten. Das halte ich für einen Fehler. Es gibt jedoch noch immer strukturelle Benachteiligung, etwa dass viele Immobilien im Osten Westdeutschen gehören.« Daniel Büchner »Ich kann die weinerlichen Ossis nicht mehr hören. Und ich bin selbst Ossi. Es gibt auch strukturschwache Räume im Ruhrgebiet und blühende Landschaften im Erzgebirge. Die Frage ist heute längst nicht mehr, ob jemand aus dem Osten oder dem Westen kommt, sondern ob derjenige etwas aus seinem Leben machen will. Ein paar der Punkte zur Vermögensungleichheit, die Daniel genannt hat, kannte ich so noch nicht. Die werde ich mir noch mal genauer anschauen.« Uwe Plentz Ingrid Reiter aus Bernau & Sebastian Semmling aus Eberswalde: in fünf Fragen unterschiedlicher Meinung Reiter, 70 Jahre, ist Sozialpädagogin und AfD-Mitglied. Semmling, 42 Jahre, ist Erzieher. Beide stellen bei der Begrüßung zwei Gemeinsamkeiten fest: Die Schwiegermutter von Semmling trägt denselben Vornamen wie Reiter und seine Frau kommt auch aus Bayern. Politisch trennt die beiden aber mehr, als sie verbindet. Reiter stimmt die Politik der AfD zuversichtlich, Semmling ist besorgt über die jüngsten Erfolge der Partei. Das zeigt sich im Gespräch, etwa beim Blick auf die Asylpolitik. Einig werden sich die beiden an diesem Tag nicht. »Ich bin nicht grundsätzlich dagegen, Ausländer in Deutschland aufzunehmen. Aber ich bin dafür, dass wir die Grenzen schließen und so wie früher Ausweiskontrollen durchführen.« Ingrid Reiter »Ich sehe das anders. Ich bin in den Neunzigerjahren in Brandenburg aufgewachsen und schon damals galt meine Sorge nicht der Gefahr durch Migranten, sondern der durch rechts. Und auch heute nehme ich es nicht so wahr, dass die Kriminalität von außen nach Deutschland kommt.« Sebastian Semmling Birgit Höfer aus Cottbus & Lu Luana Petersen aus Cottbus: in zwei Fragen unterschiedlicher Meinung Höfer, 60 Jahre, und Petersen, 26 Jahre, sind beide zu Fuß ins Alte Stadthaus in Cottbus gekommen. Sie wohnen in der Stadt. In vielen Fragen waren sie sich einig, nur bei der nach der Chancengleichheit von West- und Ostdeutschen nicht. »Lu Luana blickt anders auf dieselbe Stadt und die Gesellschaft. Es war spannend, sich auszutauschen. Für mich ist eine Quote – bei Frauen und Männern, bei Ost- und Westdeutschen – etwas, was dazu führt, dass man die Unterschiede weiterhin thematisiert.« Birgit Höfer »Für mich ist es umgekehrt. Ich denke, es ist notwendig, genau das zu thematisieren, um sich für Chancengleichheit einzusetzen. Auch im Kleinen: In meiner WG haben wir jetzt eine Diversitätsquote. In sieben von neun Zimmern wohnt eine weiße Person. Das wollen wir beim Casting für die verbleibenden zwei Zimmer ändern.« Lu Luana Petersen Dorit Heidemanns aus Potsdam & Moritz Jägemann aus Lübeck: in fünf Fragen unterschiedlicher Meinung Heidemanns, 61 Jahre, ist Beraterin. Sie sagt schon vor dem Gespräch, dass sie viel rede und ihr Gegenüber sie ruhig stoppen könne. Jägemann ist 26 Jahre alt und studiert Medizin. Beiden sagen, sie hätten ihr Gespräch als sehr bereichernd empfunden, obwohl sie in vielen Punkten anderer Meinung gewesen seien. Etwa bei der Frage, ob Deutschland zu viele Geflüchtete aufgenommen hat. »It's too much. Wir können der Integration nicht mehr gerecht werden – und eine Gesellschaft kann nur funktionieren, wenn wir alle mitnehmen.« Dorit Heidemanns »Ich teile die Meinung, dass das System zu schlecht aufgestellt ist. Aber die Zahl der Menschen, die weltweit auf der Flucht sind, können wir nicht beeinflussen – und sie steigt gerade eher. Wir müssen unseren Sozialstaat ausbauen und Menschen etwa dazu befähigen, hierzulande zu arbeiten.« Moritz Jägemann Katharina Krefft aus Leipzig & Anke Hille-Sickert aus Cottbus: in zwei Fragen unterschiedlicher Meinung Krefft, 46 Jahre, arbeitet als Ärztin in der Psychiatrie und ist Stadträtin für die Grünen. Hille-Sickert, 56 Jahre, ist Lehrerin und war bis vor Kurzem Schulleiterin in Cottbus. Sie kennt viele der Integrationsprobleme aus dem Schulalltag. »Als Schulleiterin habe ich gesehen, dass unsere Gesellschaft nicht auf die Herausforderungen vorbereitet war, die auf uns zukamen. Dadurch ist viel Konkurrenzdruck entstanden, gerade unter sozial schwächer aufgestellten Menschen.« Anke Hille-Sickert »Ich teile das Gefühl der Überforderung. Aber es ist keine Option, weniger Geflüchtete aufzunehmen. Genauso wie es für mich keine Option ist, die Ukraine im Krieg nicht mehr zu unterstützen. Wenn wir aufhören, zu unterstützen, wird der Krieg nicht aufhören.«