Tuesday, December 5, 2023

Vorwurf der Übergriffigkeit – Europas wichtigster Deal steht vor dem Scheitern

WELT Vorwurf der Übergriffigkeit – Europas wichtigster Deal steht vor dem Scheitern Artikel von Stefan Beutelsbacher, Tobias Kaiser • 4 Std. Seit 20 Jahren wird über das Freihandelsabkommen zwischen der EU und vier südamerikanischen Staaten verhandelt. Jetzt droht der Deal wenige Tage vor der endgültigen Unterzeichnung zu platzen. Ein wichtiger europäischer Staatschef hätte nichts dagegen. Da war der Pakt noch auf einem guten Weg: Brasiliens Präsident Lula da Silva zusammen mit EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen im Juni dieses Jahres Das Ziel schien so nah: Im Sommer 2019 – fast auf den Tag genau 20 Jahre nach dem Beginn der Gespräche – erzielten die Spitzenpolitiker der EU und ihre Gäste aus Südamerika eine Einigung. Auf der obersten Etage des Brüsseler Kommissionsgebäudes unterzeichneten sie ein Freihandelsabkommen. Schon bald, hieß es damals, werde ein gemeinsamer Markt entstehen. Eine Zollunion mit mehr als 700 Millionen Konsumenten. Aber der Deal mit der Wirtschaftsgemeinschaft Mercosur, der Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay angehören, ist bis heute nicht in Kraft. Denn die EU wollte einige Klauseln nachverhandeln. Sie forderte vor allem strengere Vorschriften zum Schutz von Regenwäldern. Für den 7. Dezember war nun die Verabschiedung einer neuen Fassung in Brasilien geplant. Doch auch dazu dürfte es nicht kommen. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen sagte ihre geplante Reise ab. Brüssels Vorgehen wird in Südamerika als übergriffig empfunden. Ein Vorwurf, der sich zuletzt manifestierte. Man will sich dort nicht die europäischen Umweltvorschriften aufzwingen lassen. „Wir können keinen grünen Neokolonialismus akzeptieren“, schimpfte kürzlich Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva. Paraguays Präsident Santiago Peña forderte, man solle die Gespräche mit Brüssel „auf Eis legen“. Und Alberto Fernández, noch bis zum 10. Dezember Präsident Argentiniens, tat jetzt genau das. „Wir tun, was wir können“ Die EU spricht gerade mit mehreren Staaten über den Abbau von Handelshemmnissen, darunter Indien, Indonesien und Thailand. Doch kein Deal gilt als so wichtig wie der mit Südamerika. Fernández sagte am Wochenende allerdings, er werde die Verträge nicht unterzeichnen. Das falle in die Zuständigkeit seines Nachfolgers Javier Milei. Und aus Mileis Regierung hieß es: Man wolle das Freihandelsabkommen „eines Tages irgendwie“ abschließen. Klingt nicht so, als hätte es derzeit eine Chance. „Wir tun, was wir können, um die Verhandlungen zu einem guten Ende zu bringen“, heißt es aus der EU-Kommission auf Anfrage. Es habe schon große Fortschritte bei dem Versuch gegeben, Klimaschutz stärker in den Verträgen mit den Mercosur-Staaten zu berücksichtigen. Wie lange die Gespräche dauern werden, sei unklar. Das Problem ist: Steht die Freihandelszone nicht bis zum Ende des Jahres, kommt sie vielleicht nie. Noch hat Spanien – einer der stärksten Befürworter des Abkommens – die Ratspräsidentschaft der EU inne. Das Land leitet die Treffen der europäischen Staats- und Regierungschefs und hat großen Einfluss auf Brüssels politische Agenda. Doch im Januar übergibt Madrid den Vorsitz an Belgien. Spanische Diplomaten fürchten, dass dann erst einmal niemand mehr die Verhandlungen vorantreiben könnte. Davon könnte vor allem Europas großer politischer und ökonomischer Rivale profitieren: China. Der Mercosur-Deal würde die EU unabhängiger von Peking machen. Zoll-Abkommen mit anderen Regierungen sind ein Teil der viel zitierten De-Risking-Strategie – also eine Möglichkeit für Europa, sich breiter aufzustellen und so das Risiko zu verringern, das von einer zu starken Fokussierung auf China ausgeht. Das sieht man wohl auch in Berlin so. Der Bundesregierung sei an einem schnellen Abschluss des Abkommens gelegen, heißt es aus dem Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK). „Die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit den Mercosur-Staaten werden von der EU-Kommission geführt. Das Bundeswirtschaftsministerium unterstützt die Kommission dabei“, sagte ein Ministeriumssprecher. Am Sonntag hatte Bundeskanzler Olaf Scholz mit dem scheidenden argentinischen Präsidenten Fernández telefoniert. In dem Gespräch sei es insbesondere um das Mercosur-Abkommen gegangen, sagte Regierungssprecher Steffen Hebestreit. In der deutschen Wirtschaft bleibt man zunächst gelassen. Volker Treier, der Außenwirtschaftschefchef der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK), sieht in dem argentinischen Regierungswechsel sogar eine Chance für das Abkommen. „Viele der Leute um den neu gewählten Präsidenten Javier Milei sind mit der ehemaligen Macri-Regierung verbunden und haben sich in der Vergangenheit für das Mercosur-Abkommen eingesetzt“, sagte Treier zu WELT. „Deshalb habe ich die Hoffnung, dass die Verhandler einen baldigen Abschluss schaffen.“ Ob es bis zum Jahresende noch klappe, sei allerdings schwierig einzuschätzen. „Am 7. Dezember unterzeichnen zu können, war angesichts des Regierungswechsels vielleicht aber von Anfang an eine Illusion“, so Treier. Jetzt droht allerdings Gefahr für das Abkommen von anderer Seite. Die französische und die irische Agrarlobby sehen das Abkommen kritisch, weil sie die Konkurrenz südamerikanischer Landwirte fürchten. Und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat die Terminabsage dafür genutzt, das Vertragswerk zu torpedieren. Die in das Abkommen verhandelten Umweltstandards genügten nicht, sagte er am Samstag nach seinem Treffen mit dem brasilianischen Präsidenten beim Klimagipfel COP 28 in Dubai. „Am Anfang und am Ende wurden ein paar Sätze eingefügt, um Frankreich zufriedenzustellen. Aber das reicht nicht“, sagte Macron. Frankreich könnte ein Veto einlegen. Nach Meinung deutscher Experten keine gute Aussicht. „Es ist bedauerlich, dass es bisher nicht gelungen ist, das Mercosur-Abkommen abzuschließen“, sagte Gunnar Kilian, der Vorsitzende des Lateinamerika-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft. „Ein Scheitern der Verhandlungen wäre unverantwortlich.“