Thursday, December 28, 2023
Gastkommentar von Jens Marco Scherf - Grünen-Landrat macht drastische Asyl-Ansage: „Ja! Die Stimmung ist gekippt!“
FOCUS online
Gastkommentar von Jens Marco Scherf - Grünen-Landrat macht drastische Asyl-Ansage: „Ja! Die Stimmung ist gekippt!“
Artikel von Von FOCUS-online-Gastautor Jens Marco Scherf •
6 Std.
Der Grüne Jens Marco Scherf (49) ist seit 2014 Landrat des Kreises Miltenberg in Unterfranken. Wegen der Überlastung der Kommunen durch die vielen Geflüchteten hat er mehrere Brandbriefe an Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) geschrieben. Anna Hornstein (Anna Hornstein Fotografie)
Miltenbergs grüner Landrat Jens Marco Scherf wütete im November bei „hart aber fair“ im TV, als es um Migration ging. Jetzt legt Scherf in einem Gastbeitrag für FOCUS online nach und sagt: „Lange geht es so nicht mehr gut, denn „gut“ ist es schon lange nicht mehr!“
„Die Stimmung kippt!“ – als Verantwortlicher vor Ort fällt es mir schwer mit der teils theoretisch und akademisch anmutenden Diskussion zur Stimmung rund um Flucht und Migration umzugehen!
Meine Wahrnehmung vor Ort: Die Stimmung ist gekippt! Wie niedrig muss die Zufriedenheit mit der Bundesregierung werden, wie stumm muss das Schweigen der Bundesregierung zu den zentralen Fragen noch sein, wie hoch muss in den Befragungen die Bedeutung der Flucht- und Migrationspolitik wachsen, bis endlich Weichen gestellt werden.
Aktuell gefährden wir mit einer vollkommen ungesteuerten Asylsituation die Erfolge von Migration der Vergangenheit und gefährden den gesellschaftlichen Konsens für Hilfe für Menschen in Not und eine wirtschaftlich notwendige Migrationspolitik.
Grünen-Landrat über Asyl-Situation: „Ja! Die Stimmung ist gekippt!“
Die angekündigten Weichenstellungen der jüngsten Ministerpräsidentenkonferenz mit dem nicht zuletzt vom grünen Ministerpräsidenten Kretschmann auf den Tisch gelegten Ziel der Verlagerung von Asylverfahren jenseits der EU-Außengrenze, in Drittstaaten, waren so schlecht nicht, angesichts jahrelanger Untätigkeit aller in Berlin und in den Ländern Verantwortlichen!
Doch der Reihe nach: Wie stellt sich die Lage vor Ort, in den bayerischen Landkreisen im Dezember 2023 dar?
Vor über einem Jahr haben alle 71 bayerischen Landkreise auf die Problematik der seit Sommer 2022 stark zunehmenden Zuwanderung Geflüchteter aus anderen Ländern als der Ukraine hingewiesen, vor Jahresfrist habe ich dies persönlich gegenüber dem Bundeskanzler angemahnt. Ein Jahr später eskaliert vor Ort die Lage, denn erstens sind die Ressourcen absolut überlastet, zweitens ist der Wille zu entschiedenem staatlichen Handeln nicht sichtbar und drittens ist die Stimmung vor Ort spürbar gekippt.
Ja! Die Stimmung ist gekippt! Aber nur wer wirklich hinsieht und hinhört, nimmt dies wahr.
Wir Landräte müssen die komplette Flüchtlingspolitik vertreten - alle anderen verstecken sich in parteipolitischen Scheinwelten
Für einen bayerischen Landrat als unmittelbar vor Ort Verantwortlichen ist es nicht möglich, die Wirklichkeit dauerhaft zu ignorieren. Nicht nur ich, auch meine Kolleginnen und Kollegen müssen sich inzwischen für schier jede neue Unterkunft persönlich rechtfertigen, in Briefen voller Vorwürfe, in hitzigen Gesprächsrunden und nicht zuletzt in Bürgerversammlungen. Wir Landräte müssen die komplette Flüchtlingspolitik vertreten, von der Wohnsituation vor Ort bis zur Gestaltung des Asylsystems insgesamt – alle anderen ducken sich weg oder verstecken sich in parteipolitischen Scheinwelten!
Wie lange wird es uns vor Ort noch gelingen, das Unverständnis und gegen Null schwindende Vertrauen weiter Teile der Bevölkerung zu „moderieren“, wie stark ist der trotz allem extrem besonnene Teil der Bevölkerung? Wie lange können wir die Unterbringung, Versorgung und eigentlich und tatsächlich unbedingt notwendige Integration der zu uns kommenden Menschen sicherstellen? Es entwickelt sich eine dramatische Geschichte des Scheiterns …
Seit Beginn des Jahres 2023 musste der Landkreis Miltenberg wöchentlich etwa 20 Geflüchtete aus der staatlichen Erstaufnahmeeinrichtung aufnehmen, seit November sind es wöchentlich 40 bis 50! Aufgrund der angespannten Lage auf dem Wohnungsmarkt müssen wir Woche für Woche neue Plätze schaffen. Inzwischen leben in den über 90 dezentralen Einrichtungen des Landkreises über 1700 Geflüchtete.
Fatal ist, dass sich der öffentliche Blick auf die primäre Aufgabe der Unterbringung richtet
Aufgrund der erneuten Zunahme der Geflüchteten brauchen wir Notunterkünfte. Seit Februar hat der Landkreis Miltenberg mit dem Alten Schulhaus Röllfeld eine erste Notunterkunft mit 60 Plätzen, die nach einer Belegung im Frühjahr im November reaktiviert werden musste.
Um eine Belegung von Schul- und Vereinssporthallen zu vermeiden, wird derzeit eine Gewerbeimmobilie zu einer zweiten Notunterkunft für bis zu 110 Geflüchtete umgebaut. Parallel dazu suchen wir Woche für Woche nach Immobilien und Grundstücken für weitere dezentrale Unterkünfte. Aktuell beschäftigen wir uns auch mit der Aufstellung von Thermohallen….
Fatal ist, dass sich der öffentliche Blick zunehmend auf die primäre Aufgabe der Unterbringung richtet: Hauptsache ein Bett und ein Dach über den Kopf. Damit gerät aber die komplexe Aufgabe der Versorgung, Betreuung und Integration der Menschen außer Acht.
Dies ist sehr gefährlich, denn die Folgen mangelhafter Integration können aktuell noch kaum einschätzbare negative Folgen haben. Was man sich in Großstädten kaum vorstellen mag, selbst im malerischen Stadtprozelten am Main, am Fuße der Henneburg im Süden des Spessarts, gibt es in der Vorschulgruppe des Kindergartens noch ein Kind mit originär deutscher Muttersprache.
In den stark industriell geprägten Gemeinden mainabwärts ist dies bereits Alltag – ein Sprachengewirr, kaum noch Deutsch sprechende Kinder, die einen als Kinder von Arbeitskräften aus den östlichen Ländern der EU, die anderen als Kinder mit einer Fluchtgeschichte und Wurzeln in Afghanistan oder Syrien, Somalia oder der Türkei, dazu die vor dem Krieg geflohenen Kinder aus der Ukraine. Wie sollen die Fachkräfte in den Kindertagesstätten diese Aufgabe im Alltag bewältigen?
Übervolle Integrationsklassen und zu viele Kinder in kürzester Zeit mit umfassenden Bedarfen
Schaut die Lage in den Schulen besser aus? Nein, übervolle Integrationsklassen und zu viele Kinder in kürzester Zeit mit umfassenden Bedarfen. Es liegt nicht an der Erzieherin in der Kita oder der Lehrkraft in der Schule, Einstellung und Haltung gegenüber jedem Kind sind von Zuwendung und Hilfsbereitschaft geprägt, doch hilft dies uns nicht weiter, wenn wir Schule und Kita strukturell Tag für Tag überfordern, indem wir den Ansprüchen und Bedürfnissen der Kinder, auch nach Erziehung, nicht gerecht werden können.
Aber nicht nur in Kita und Schule sehen wir die negativen Folgen, wenn die Erwartungshaltung, der Werte-Kanon des aufnehmenden Landes, nicht mehr ausreichend und klar transportiert wird. Erlebbar ist dies am keinen Erziehungsrahmen akzeptierenden Grundschulkind ebenso wie am Gewalt androhenden Erwachsenen in einer Amtsstube.
Der konkrete Blick in die Integrationskurse der Agentur für Arbeit oder in die Berufsintegrationsklassen an unserer Berufsschule belegen in gleicher Weise die strukturelle Überforderung. Es fehlt an ausreichend Plätzen und die Fachkräfte arbeiten, oft mit befristeten Verträgen ausgestattet, am Anschlag. An die Umsetzung meiner Forderung, dass wir dringend evaluieren müssten, welche Faktoren zu einem Gelingen oder Misslingen von Integration führen, kann ich nicht mal mehr im Ansatz angesichts dieser Überforderung glauben.
Wir werden den Geflüchteten nicht gerecht und wir machen unsere Menschen kaputt
Die Lage in die „klassische“ Verwaltung ist ähnlich düster – ob Jobcenter, die gemeindlichen Rathäuser, Sozial- und Ausländeramt, überall leben wir davon, dass Personal auf eigene kommunale Kosten aufgestockt wird und unsere Mitarbeitenden mit einer extrem hohen Motivation der seit Monaten währenden Überlastung trotzen.
Aber alleine der Blick auf die Fluchtberatung mit einem Schlüssel von einer Vollzeitstelle für aktuell über 900 Geflüchtete zeigt – auf diesem extrem hohen Überlastungsniveau können wir nicht dauerhaft arbeiten. Wir werden den Geflüchteten nicht gerecht und wir machen – auf gut Deutsch gesagt – unsere Menschen, die haupt- und ehrenamtlich sich um Betreuung und Integration kümmern – kaputt.
Die finanzielle Lage lassen wir angesichts der offenbar werdenden Krise der staatlichen Finanzen auf allen Ebenen jetzt beiseite, aber auch die brutale Wirkung „leerer Kassen“ und „Sparbeschlüsse“ auf kommunaler Ebene untermauern die Forderung nach Ordnung, Struktur und Steuerung in der Migrationspolitik. Wir verspielen derzeit die ursprünglich breit vorhandene gesellschaftliche Akzeptanz von Hilfe in Not für Menschen auf der Flucht und eine demographisch wie wirtschaftlich notwendige Migration von Arbeits- und Fachkräften.
Lange geht es so nicht mehr gut, denn „gut“ ist es schon lange nicht mehr!