Friday, December 1, 2023

Amerikas einst mächtigste Frau ist tot

Neue Zürcher Zeitung Deutschland Amerikas einst mächtigste Frau ist tot Artikel von Christian Weisflog, Washington • 7 Std. Im September 1981 vereidigte der amerikanische Senat mit Sandra Day O’Connor erstmals eine Frau für einen Richterstuhl am Supreme Court. Als Sandra Day O’Connor in den 1950er Jahren ihr Jurastudium an der Stanford University abschloss, galt die Idee einer Frau am Supreme Court als blosse Phantasie. Obwohl sie in ihrer Klasse eine der Besten war, bekundete sie grösste Mühe, Arbeit in einer Anwaltskanzlei zu finden. «Wir stellen keine Frauen ein», bekam sie immer wieder zu hören. Aufgewachsen auf einer Ranch in Arizona, sollte sie sich in dieser Männerwelt jedoch schnell beweisen. Bevor Präsident Ronald Reagan 1981 die Republikanerin für den Supreme Court nominierte, war sie bereits eine führende Politikerin in ihrem Gliedstaat gewesen. Nach zwei Wiederwahlen amtierte sie als Mehrheitsführerin in Arizonas Senat – auch dies ein Novum in den USA. Eine Richterin mit grossem Realitätssinn Dieser Werdegang ist womöglich auch eine Erklärung dafür, warum O’Connor ihre Urteile nicht rein auf juristische Prinzipien stützte, sondern auch die gesellschaftlichen Realitäten berücksichtigte. «Ein rechtlicher Sieg – ob im Gerichtssaal oder im Parlament – ist in der Tat selten, wenn er nicht ein sorgfältiges Nebenprodukt eines entstehenden sozialen Konsenses ist», schrieb sie in einem Essay. Gerade bei umstrittenen, polarisierenden Fragen konnte die unabhängig denkende Pragmatikerin in dem Gremium von neuen Richtern nicht selten von ihrer moderaten Position aus das Zünglein an der Waage spielen. Obwohl ihr früherer Studienfreund William Rehnquist fast während ihrer gesamten Amtszeit den Vorsitz hatte, wurde das Oberste Gericht oft der «O’Connor court» genannt. Die Richterin galt als Amerikas mächtigste Frau. Der demokratische Präsident Barack Obama ehrte O’Connor 2009 mit der Medal of Freedom. Bemerkenswert in ihrer Karriere waren dabei vor allem zwei Urteile, in denen O’Connor progressive Anliegen verteidigte und damit konservative Erwartungen enttäuschte. In «Planned Parenthood v. Casey» half die Richterin 1992, das 1973 vom Supreme Court aus der Verfassung abgeleitete Recht auf Abtreibung in seinem Kern zu bewahren. Eine Abkehr von diesem Recht hätte die Legitimität des Obersten Gerichts schwer und unnötig beschädigt, heisst es in dem Urteil. Ein Jahrzehnt später schrieb O’Connor das Leiturteil im Fall «Grutter v. Bollinger». Darin verteidigte sie das Recht von Universitäten im Rahmen der sogenannten Affirmative Action, dunkelhäutige Bewerber zu bevorzugen, um die ethnische Diversität der Studentenschaft zu fördern. Diese Praxis sei für den gesellschaftlichen Zusammenhalt essenziell, begründete O’Connor ihre Meinung. Eine Wegbereiterin mit «aussergewöhnlicher Weisheit» Da der Supreme Court kontinuierlich nach rechts gerückt sei, wirke die konservative O’Connor rückblickend relativ progressiv, schrieb die «New York Times» am Freitag. Nachdem sie 2006 zurückgetreten war, um sich um ihren an Alzheimer erkrankten Mann zu kümmern, wurde sie durch den wesentlich konservativeren Samuel Alito ersetzt. Mit Bedauern musste sie zusehen, wie der Supreme Court 2022 das Recht auf Abtreibung kippte und 2023 auch die «positive Diskriminierung» durch die Affirmative Action als verfassungswidrig erklärte. Mit etwas Reue blickte O’Connor im Alter aber auch auf eine eigene Entscheidung zurück. In «Bush v. Gore» entschied der Supreme Court die Präsidentschaftswahl im Jahr 2000 mit, indem er eine Nachzählung der Stimmen in Florida untersagte. Und diesmal schlug sich O’Connor auf die Seite der Republikaner. «Vielleicht hätten wir den Fall nicht annehmen sollen», sagte die pensionierte Richterin 2013. Viel mehr zu bereuen hatte O’Connor indes nicht. Vor ihrem Amtsantritt sei sie nervös gewesen, meinte sie in einem Interview 2011. Wenn sie ihren Job schlecht mache, werde nicht so bald wieder eine Frau nominiert, befürchtete sie. Aber sie machte es gut. Heute sitzen vier Richterinnen am Supreme Court. O’Connor habe in ihren Urteilen oft «eine aussergewöhnliche Weisheit bewiesen», sagte die von Präsident Obama nominierte Richterin Elena Kagan 2017 über ihre Wegbereiterin. Vor fünf Jahren erkrankte O’Connor jedoch ebenfalls an einer zunehmenden Demenz. Am Freitag starb sie mit 93 Jahren in Arizonas Hauptstadt Phoenix.