Thursday, September 26, 2024
Ralph D. Thiele im Interview - „Schröder hat recht“: Ukraine-Experte über brisante Putin-Aussagen des Altkanzlers
Ralph D. Thiele im Interview - „Schröder hat recht“: Ukraine-Experte über brisante Putin-Aussagen des Altkanzlers
Artikel von Von FOCUS-online-Redakteur Thomas Sabin • 1Tage • 9 Minuten Lesezeit
Altkanzler und Putin-Freund Gerhard Schröder spricht über die unterschätzte Eskalationsgefahr des Westens im Ukraine-Krieg und darüber, wie nahe der Frieden bereits war - und wie „mächtige Kräfte“ ihn verhindert hätten. Ralph Thiele, Kenner des Ukraine-Krieges, ordnet Schröders Aussagen ein.
Altkanzler und Putin-Freund Gerhard Schröder sprach auf Einladung der „Weltwoche“ rund zwei Stunden über die aktuelle internationale Lage und die Gefahren des Krieges in der Ukraine. Schröder betonte dabei unter anderem, dass der Westen die Gefahr einer Eskalation unterschätzte, dass eine in die Nato integrierte Ukraine keine akute Bedrohung für Russland dargestellt hätte und dass der Frieden bereits zum Greifen nahe gewesen sei. „Mächtige Kräfte“ hätten dies jedoch verhindert.
Ralph Thiele, Militärexperte, Kenner des Ukraine-Krieges und Vorsitzender der Politisch-Militärischen Gesellschaft e.V., stimmt dem geschassten SPD-Mann im Interview mit FOCUS online zu - teilweise. Wo Schröder einen Punkt hat und wo er daneben liegt.
„Er hat den Vorteil, Putin gut zu kennen“
FOCUS online: Herr Thiele, Altkanzler Schröder hat kürzlich bei einem Auftritt in Zürich davon gesprochen, dass der Westen das Risiko einer Eskalation im Ukraine-Krieg unterschätze. Hat er recht?
Ralph Thiele: Zunächst mal ist Schröder ein sehr smarter Politiker, der gezeigt hat, dass er mit seinen Einschätzungen Volltreffer erzielen kann, auch entgegen der Stimmung oder gegen den allgemeinen Meinungstrend. Daher würde ich ihm gut zuhören, wenn er etwas sagt.
Und er kennt Putin gut.
Thiele: Er hat den Vorteil, Putin gut zu kennen, ja. Das macht es leichter für ihn, Reaktionen aus diesem autokratischen System einzuschätzen. Mein Eindruck ist auch, wenn ich mir jüngere und ältere Generationen ansehe, die diese Krise beurteilen: Ältere Menschen, die viele Erfahrungen auch während des Kalten Krieges mit Russland gesammelt haben, sind viel vorsichtiger in ihrer Einschätzung der Risiken im Umgang mit Russland als jüngere.
Inwiefern?
Thiele: Die Jüngeren sagen immer gern: „Lasst uns doch mal was anderes machen, was Neues versuchen.“ Ältere Jahrgänge sind von ihren Erfahrungen geprägt und kennen das Grauen, das entstehen kann, wenn man sich falsch positioniert. Die Jungen haben diese schlimme Erfahrung nicht, was für sie zum einen gut, aber für uns insgesamt riskant ist.
„Eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine ist und bleibt ein starker Kriegsgrund für Putin“
Schröder sprach auch davon, dass eine in die Nato integrierte Ukraine keine akute Bedrohung für Russland bedeutet hätte. Damit macht er eines der Hauptargumente des Kremls für den Krieg gegen die Ukraine zunichte.
Thiele: Anders als Schröder denke ich, eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine ist und bleibt ein starker Kriegsgrund für Putin. Das liegt daran, dass dadurch vor allem die USA, aber auch Großbritannien und einige osteuropäische Länder direkt an der russischen Grenze frei agieren könnten.
Schon kurz nach dem Ende des Kalten Krieges waren amerikanische Spezialkräfte in Georgien. Auch die militärische Unterstützung der Ukraine durch den Westen war sehr früh, ausgeprägt und aktiv von Anfang an. Das sind alles Dinge, die auch jede andere Großmacht beunruhigen würden, wenn sie an ihrer Grenze stattfinden.
Putin reagiert also nur?
Thiele: Das ist nichts Putin-Spezifisches, auch China will keine Truppen an seiner Grenze haben, ebenso wenig wie Amerika. Erinnern wir uns an die Kuba-Krise. Das war für Amerika unerträglich. Das ist eine klassische Großmacht-Attitüde. Deswegen denke ich, dass es keinen Frieden mit einer Nato-Beitrittsgarantie für die Ukraine geben wird. In diesem Punkt hat Schröder also Unrecht.
„Diese unkonditionierte Hilfe von uns ist naiv“
Schröder rechnete auch mit der EU-Hilfe für die Ukraine ab. Er schlug vor, Finanzhilfen und Waffen zur Selbstverteidigung mit der Forderung an die Regierung Selenskyj zu verbinden, ernsthafte und realistische Friedensszenarien vorzulegen. Halten Sie das für sinnvoll?
Thiele: Da spricht wieder der smarte Politiker aus ihm. Generell gilt: Diese unkonditionierte Hilfe von uns ist naiv. Das war von Anfang an mit der Militärhilfe so. Die Ukrainer wissen nämlich nicht immer am besten, was sie brauchen.
Das heißt konkret?
Thiele: Zum Beispiel wurden anfangs Schneider, Zahnärzte und Friseure eingezogen, die keine erfahrenen Soldaten sind und schwer einschätzen können, was sie an der Front benötigen. Die Frage der verbundenen intelligenten Kriegsführung, wie wir sie im Westen verstehen, ist für sie schwer zu überblicken. Ebenso sind manche Forderungen schwer nachvollziehbar und Korruption behindert die Ukraine in ihrer eigenen Verteidigung.
All diese Dinge zeigen, wie wichtig es ist, dass man hilft, vielleicht im humanitären Bereich unkonditioniert, und trotzdem wachsam bleibt – Stichwort Korruption. Aber vor allem bei militärischen und wirtschaftlichen Hilfen sollte die Unterstützung jedoch konditioniert sein. Die Amerikaner machen das sehr stringent, während wir Deutschen eher naiv sind.
Wie machen es die Amerikaner?
Thiele: Die Amerikaner haben etwa im militärischen Bereich eine eigene Organisation aufgebaut, die überwacht, dass mit den Waffen nichts Schräges passiert, die sie in die Ukraine liefern. Sie überprüfen, dass die Waffen auch tatsächlich ihren Bestimmungsort erreichen. Das ist durchaus notwendig, denn wir sehen tatsächlich in Rumänien, Ungarn und Polen für die Ukraine bestimmte Waffen auf dem Schwarzmarkt. Das ist also keine Fantasie, sondern begründete Sorge.
Und politisch läuft das seit Langem so ab: Wenn man etwas von den Amerikanern will, muss man zuerst die Industrie besuchen und Verträge abschließen, bevor man die großen Politiker zu sehen bekommt. Das ist klassische amerikanische Attitüde.
Sieg über Putin? „Das ist eine Wunschvorstellung, weit entfernt von der Realität“
Schröder zeigte sich auch davon überzeugt, dass der Ukraine-Krieg nicht militärisch entschieden werden kann und es Kompromisse brauchen wird. Das heißt also: Auch Putin kann nicht gewinnen. Stimmen Sie dem zu?
Thiele: Ich habe zuerst vor allem wahrgenommen, dass die Ukraine den Krieg militärisch nicht gewinnen kann. Dem stimme ich zu. Denn das würde bedeuten, Russland zu besiegen. Der Sieg über Russland ist aber auch das Narrativ, das Selenskyj mit seinem „Siegesplan“ nach Washington trägt. Das ist aber eine Wunschvorstellung, weit entfernt von der Realität. In diesem Kontext hat Schröder recht.
Ich bin nicht davon überzeugt, dass Russland nicht gegen den Westen oder die Ukraine gewinnen kann. Das liegt an der Naivität unserer strategischen Ansätze. Russland hat ungefähr die Wirtschaftsgröße von Italien. Der Westen hätte es leicht, Russland totzurüsten, aber wir tun es nicht. Die Nato-Staaten mit Ausnahme der USA sind im Vergleich zu Russland überhaupt nicht beeindruckend stark und überlegen. Im Gegenteil. Wie will man damit Putin beeindrucken? Im Gegensatz zu ihm bauen wir auch keine Kriegswirtschaft auf. Putin spekuliert auf unsere Bequemlichkeit, und es kann sein, dass er recht bekommt.
Der Altkanzler erzählte, wie er von den Ukrainern angesprochen wurde, an den Friedensverhandlungen in Istanbul teilzunehmen. Er gab Einblicke in die russisch-ukrainischen Gipfelgespräche, bei denen seine Frau das Protokoll geführt habe. Er sagte, im Gegensatz zu einigen Behauptungen in den Medien sei der Frieden in greifbarer Nähe gewesen. Stimmt das?
Thiele: Schröder wird oft ins Lächerliche gezogen und auf die „Putin-Versteher“-Seite gedrängt, aber im Großen und Ganzen denke ich, dass an dem, was er sagt, etwas dran ist. Schröder ist tatsächlich eine geeignete Person, wie China ein geeigneter Staat ist, um mit Putin über Waffenstillstand und Frieden zu sprechen, aufgrund des Vertrauensverhältnisses. Es ist schade, dass wir dieses Potenzial nicht genutzt haben, weil Schröder innerparteilich aufgrund seiner Nähe zu Putin diskreditiert wurde.
Es geht um Interessen, und das deutsche Interesse sollte sein, diesen Krieg zu beenden, da auch wir einen hohen Preis zahlen. Zu den Verhandlungen selbst: Es gibt hier sicher zahlreiche Interpretationen. Aber wenn Schröder sagt, der Frieden war zum Greifen nah, dann war er zumindest nicht unrealistisch weit weg.
„Ich mir vorstellen, dass es Überlegungen gab, sich auf Schröders Vorschlag einzulassen“
Schröder sagte auch, er habe einen zunächst mehrheitsfähigen Kompromissvorschlag eingebracht. Dieser bestand darin, die Ostgebiete in der Ukraine zu behalten. Für die Krim habe es eine „Südtiroler Lösung“ geben sollen. Es sollte eine russische Enklave werden. Und Kiews Nato-Beitritt wäre auf Eis gelegt worden. Dieser Kompromiss scheiterte Schröder zufolge jedoch daran, dass die Selenskyj-Regierung nicht frei entscheiden konnte. Er deutete an, „mächtigere Kreise“ hinter Selenskyj würden einen Frieden abgeblocken. Was meint er damit?
Thiele: Diese Friedensverhandlungen fanden in einer Situation statt, in der Russland eine blutige Nase bekommen hat. Die Ukrainer haben damals ein ziemliches Gemetzel unter den russischen Soldaten angerichtet, die für den Krieg gar nicht richtig vorbereitet waren und sich beim Marsch auf Kiew in einer Sackgasse verfangen haben. Putin hatte tatsächlich erwartet, dass es ein einfacher Marsch wie 2014 sein würde und dass Kiew schnell wieder auf russischer Linie wäre. Vor diesem Hintergrund, mit den Erkenntnissen, dass Putins Streitkräfte nicht kriegstauglich sind, lassen sich Verhandlungen natürlich ebenbürtig führen.
Daher kann ich mir vorstellen, dass es Überlegungen gab, sich auf Schröders Vorschlag einzulassen, um den Feind, die Nato, nicht direkt vor der Tür zu haben. Wir erinnern uns an die CIA-Stützpunkte und die US-Biolabore in der Ukraine, die damals heruntergespielt wurden, aber tatsächlich existierten. Vor diesem Hintergrund war das amerikanische Engagement vor der Haustür für Putin sicherlich unattraktiv. Deshalb halte ich es für denkbar, dass Schröders Vorschlag auf mehrheitliche Zustimmung stieß.
Und die „mächtigere Kreise“ hinter Selenskyj?
Thiele: Wir haben auch von anderen gehört, dass „die Mächte“, insbesondere die USA, Kanada und Großbritannien, eine echte Chance sahen, Russland platt zu machen. Da Selenskyj von den Ukrainern gewählt wurde, um den Konflikt mit Russland zu beenden, hätte es möglicherweise zu einem Kompromiss kommen können, um den Krieg zu beenden. Allerdings könnte gleichzeitig auch starker äußerer Druck dagegen ausgeübt worden sein.
„Die USA möchten, dass Europa die Hauptlasten übernimmt“
Schröder betonte, dass es Situationen gibt, in denen die Interessen Europas und der USA auseinandergehen. Genau das sei heute der Fall. Sie sagen auch, Deutschland sollte daran interessiert sein, den Krieg zu beenden, weil er uns viel kostet, während die Amerikaner Putin besiegen wollen. Hat Schröder hier einen Punkt?
Thiele: Ja hat er. Aber es gibt da noch einen weiteren Aspekt. Der wirtschaftliche Faktor darf nicht unterschätzt werden. Die USA und China machen sich auf den Weg, den Rest der Welt wirtschaftlich aufzusaugen. Europa ist dabei eine fette Melkkuh für beide, das sehen wir auch bei den Waffenlieferungen. Die USA und ihre Verbündeten profitieren deutlich mehr vom Krieg in der Ukraine als die Europäer. Darüber hinaus haben die Briten und Amerikaner die Devise „schnell rein, schnell raus“. Die Amerikaner bleiben zwar zumeist länger, aber wollen nicht mehr, wie in Vietnam, unendlich verstrickt sein.
Die Hauptinteressen der USA liegen in Asien, da dort der wirtschaftliche Bär tanzt. Die USA suchen immer große Gegner, und nach dem russischen Bären ist das nun der chinesische Drache. Der Konflikt in der Golfregion und die Ereignisse vom 7. Oktober haben die USA gezwungen, ihre Kräfte zu fokussieren. Das Interesse der USA ist 1. Asien, 2. der Nahost und 3. die Ukraine. Somit wird die Ukraine zu einer regionalen Herausforderung für die USA. Sie möchten also, dass Europa künftig die Hauptlasten übernimmt – sowohl die Kriegs- und Verteidigungslasten als auch die Wiederaufbaulasten. Europa soll die Kosten tragen, während die USA dann später wieder da sind, wenn es darum geht die Gewinne einzufahren.
Verstehe ich Sie richtig, Sie werfen der USA vor nur aus wirtschaftlichen Gründen involviert zu sein? Joe Biden ist doch ein alter Transatlantiker, Europa liegt ihm am Herzen.
Thiele: Auch für Biden ist Strategie keine vorwiegend emotionale Angelegenheit, sondern ein Verbund rationaler Erwägungen, in denen Partnerschaften eine wichtige und wirtschaftliche herausgehobene Rolle spielen. Man kann das in den strategischen Leitlinien nachlesen, die er gleich zu Beginn seiner Präsidentschaft im März 2021 herausgegeben hat.
Danach strebt er für die USA nach einer Position der Stärke, die zuerst auf verbesserten wirtschaftlichen Grundlagen fußt, darüber hinaus auch auf einer besseren Performance in internationalen Institutionen, auf modernisierten militärischen Fähigkeiten, Diplomatie und „Amerikas unübertroffenen Netzwerk von Allianzen und Partnerschaften“. Man sieht, Bidens Interesse an der Nato und Europa ist funktional mit Blick auf Amerikas Stärke in der Welt. Es hat allerdings darüber hinaus auch einen Wertebezug. Da kommt dann sein Herz ins Spiel.
„Solidarität der Russen mit Putin ist während des Krieges tendenziell stärker geworden“
Schröder sagte auch, Medien und US-Generäle seien damals überzeugt gewesen, es sei möglich, Putin militärisch zu besiegen und aus dem Amt zu befördern. Dem Wunsch erteilte der Altkanzler jedoch eine Abfuhr. Die Mehrheit der Russen unterstütze Putin und glaube, „dass der Westen die Ukraine nur als Speerspitze benutzt, um Russland in die Knie zu zwingen“. Inwieweit stimmt das und ist es das Ergebnis eines funktionierenden russischen Propagandaapparates?
Thiele: Das ist nicht nur Propaganda. Wir befinden uns in einem Informationskrieg neben dem Artillerie- und Abnutzungskrieg. Alle Parteien argumentieren jenseits der Wirklichkeit. Putin erzählt seinen Landsleuten Unsinn, um sie zu mobilisieren, und verbreitet zugleich bei vielen anderen in der Welt, dass die USA die Ukraine als Stellvertreter nutzen, um Russland zu schwächen und wirtschaftlich zu nutzen.
Diese Sichtweise teilen viele Länder, wie Indien, Brasilien oder Südafrika, die tendenziell kritisch auf die USA und den Westen schauen. Unsere Werte werden von Staaten in Asien oder Afrika oft als Mittel gesehen, um wirtschaftliche Vorteile zu erlangen. Daher glauben viele, was Putin sagt, und sehen die westlichen Waffensysteme in der Ukraine als Beleg dafür.
Und das russische Volk?
Thiele: Die Solidarität der Russen mit Putin ist während des Krieges tendenziell stärker geworden. Das muss man ernst nehmen. Gleichzeitig hören wir seit zweieinhalb Jahren immer, dass die Ukraine siegt, aber sehen sie jetzt am Rande des Abgrunds stehen. Auch hier wurde die Wahrheit verbogen, was nicht zur Stärkung der Ukraine beigetragen hat. Unterm Strich hat dies Putin eher stärker gemacht und uns schwächer.