Friday, September 27, 2024

Neue Migrationspolitik: Die grüne Zeitenwende

Frankfurter Allgemeine Zeitung Neue Migrationspolitik: Die grüne Zeitenwende Artikel von Reiner Burger • 1 Std. • 5 Minuten Lesezeit Realos unter sich: Robert Habeck und Winfried Kretschmann Eine erstaunliche inhaltliche Neujustierung der Grünen bei den zentralen Themen Sicherheit und Migration findet als Konsequenz aus der dschihadistischen Messerattacke von Solingen derzeit über drei Bundesländer statt, in denen die Grünen an der Landesregierung beteiligt sind. Gemeinsam mit Nordrhein-Westfalen bringen Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg an diesem Freitag zwei Initiativen in den Bundesrat ein. In allen drei Ländern regiert die CDU mit den Grünen: In Kiel und Düsseldorf sind die Grünen Juniorpartner, in Stuttgart stellen sie mit Winfried Kretschmann den Ministerpräsidenten. Mit der Neujustierung dieses von den Grünen lange Zeit vernachlässigten Politikfelds und der nun auf dem Bundesparteitag in Wiesbaden im November zu erwartenden Wahl eines neuen Bundesvorstands will die Partei ihre Krise überwinden und Lehren aus fünf Wahlniederlagen ziehen. Der konzertierte Vorstoß enthält viel, was die CDU schon lange fordert. Für die Grünen aber markiert er eine Zeitenwende. Sie wollen nun möglich machen, was mit ihnen bisher undenkbar war. Unter anderem tragen die Grünen in den drei Landesregierungen die Forderung nach Rechtsgrundlagen für die Speicherung von IP-Adressen und eine Funkzellenabfrage mit. Dies sei von entscheidender Bedeutung zur Verfolgung von Straftaten, die über das Internet, Messengerdienste oder soziale Medien geplant würden, sagt der nordrhein-westfälische Justizminister Benjamin Limbach (Grüne). „Unser Vorstoß soll Strafbarkeitslücken im Bundesrecht bei der Vorbereitung von Terrorakten schließen.“ Initiative zur Beschleunigung von Asylverfahren Bemerkenswert ist auch die Initiative zur Beschleunigung von Asylverfahren für Herkunftsstaaten mit einer Anerkennungsquote unter fünf Prozent. Damit hilft die CDU den Grünen elegant aus ihrer Ecke im Streit um sichere Herkunftsstaaten. Eine abermalige Ausweitung der Liste dieser Staaten, in die beschleunigt abgeschoben werden kann, lehnten die Grünen zuletzt vehement ab. „Seit Jahren gibt es einen politischen Streit darüber, welche Herkunftsstaaten diese Einordnung erhalten sollen“, heißt es in einem Vorbereitungspapier, das der F.A.Z. vorliegt. Deshalb solle nun ein „Automatismus“ eingeführt werden. „Für alle Herkunftsstaaten, deren Anerkennungsquote unter fünf Prozent liegt, müssen automatisch verfahrens- und materiellrechtliche Regelungen gelten, die eine beschleunigte Bearbeitung ermöglichen.“ Alle Länder mit einer entsprechenden Anerkennungsquote sollen also künftig per se als sichere Herkunftsstaaten gelten – ohne so benannt zu werden. Das Signal ist: In den Ländern tut sich was, davon kann auch Berlin lernen, was eine künftige Ausrichtung nach einer personellen Neuaufstellung angeht. Limbach formuliert das so: Darin, dass Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg bei wesentlichen Punkten des NRW-Pakets mitmachten, sehe man, „dass sich auch in der Partei Bündnis 90/Die Grünen die Position dazu ändert“. Er werde auch in Berlin dafür werben, sich der neuen Haltung anzuschließen. „Wir sehen ja, dass es eine Uneinigkeit in der Koalition in Berlin dazu gibt“, sagte er. „Wir sehen aber auch ganz klar, dass es dort auch handelnde Personen gibt, die auf unserer Linie sind. Und denen möchten wir mit unserer Bundesratsinitiative auch einen Rückenwind geben.“ Die Bundesratsinitiativen zeigen aus Sicht der grünen Landesverbände, wie weit sich die Umweltpartei beim Thema Migration und Sicherheit mittlerweile bewegt hat. Aus Sicht vieler Grüner liegt das auch an der derzeitigen gesellschaftlichen Debatte. Man zeige, dass man kompromissbereit sei und dass Schwarz-Grün weiter eine Option sei. Denn wenn man etwa die Asylkompromisse nicht mitgehe, seien die Koalitionen mit der CDU rasch zu Ende, heißt es. Linke Parteimitglieder sehen einen Widerspruch Allerdings sehen linke Parteimitglieder derzeit einen Widerspruch: Die Partei werde immer mehr realo, aber bei den jüngsten Wahlen habe sich das nicht ausgezahlt. Trotzdem werde die Partei aber wohl nun mit der Neuaufstellung der Führung in Berlin „noch mehr realo“. Schließlich versuche derzeit der Parteiflügel um Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck sogar beide Führungsposten zu besetzen. Laute Kritik wird daran aber nicht laut, man versucht Geschlossenheit zu vermitteln. Die Kompromisse der jüngsten Monate in der Migrationspolitik fielen oft schwer, sagt Lasse Petersdotter, der Fraktionsvorsitzende der Grünen im Landtag Schleswig-Holsteins. Aber der gesellschaftliche Druck sei nun mal sehr deutlich. „Beim Thema Migration und Klimaschutz ist die gesellschaftliche Stimmung aktuell gegen uns. Das hat einige in der Partei überrascht. Die Lösungen, die wir bei manchen Fragen haben, scheint große Teile der Gesellschaft nicht zu überzeugen.“ Es brauche die Grünen als linksökologische Regierungskraft. Dass einige Mitglieder der Grünen Jugend diesen Kurs nicht teilten, sei „völlig okay“ und ein Austritt nachvollziehbar. Hält die Ampel, findet im März in Hamburg mit der Bürgerschaftswahl die nächste größere Abstimmung statt. In Hamburg sind die Grünen erfolgsverwöhnt, bei der Europawahl wurden sie mit 21 Prozent sogar stärkste Kraft, in Umfragen hatte das rot-grüne Bündnis zumindest im Frühjahr noch eine deutliche Mehrheit. Wie die Lage mittlerweile ist, ist unklar. Es gibt keine neueren Umfragen. Hamburgs Zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank (Grüne) sagt, aufgrund der schlechten Wahlergebnisse ihrer Partei in jüngster Zeit sei ein Neustart in der Bundesführung richtig. Wichtig sei eine Aufstellung, die reale Probleme anpacke und vor allem auf die Themen Wachstum und Investitionen setze. Die derzeitige Politik der CDU lasse viel Platz in der Mitte, „genau da will ich die Grünen haben“. In Berlin gelte es wieder selbstbewusster zu vermitteln, wofür Grüne stünden, sagt Leon Alam, der Landesvorsitzende der Grünen in Hamburg. In Baden-Württemberg tun sie sich in der Migrationspolitik leichter In Baden-Württemberg verhandelte der Europastaatssekretär Florian Hassler (Grüne) mit dem Migrationsstaatssekretär Siegfried Lorek (CDU) innerhalb weniger Wochen das neue Sicherheitspaket. Damit soll eine Antwort auf die Anschläge in Mannheim und Solingen gefunden werden. Verglichen mit anderen Landesverbänden tun sich die Grünen in Baden-Württemberg schon seit Jahren leichter, sich in der Migrationspolitik zu bewegen. Ministerpräsident Kretschmann hält die Migrationsfrage zwar nicht wie sein früherer Kollege Horst Seehofer von der CSU für die „Mutter aller Probleme“, aber er spricht davon, dass das Thema derzeit jedenfalls mit Abstand das wahlentscheidende schlechthin sei. Schon 2014 hatte Kretschmann darauf hingewirkt, Serbien, Nordmazedonien und Bosnien-Herzegowina zu sicheren Herkunftsländern zu machen. Es war ein Kompromiss, der innerhalb der Grünen auf heftigen Widerspruch stieß. Auch die Aussage des Ministerpräsidenten im Jahr 2018, gewalttätige Asylbewerber verhielten sich mitunter wie „wilde Männerhorden“, gefiel nur wenigen Mitgliedern. Aber im Großen und Ganzen folgte die Partei dem vom Staatsministerium vorgegebenen Kurs. Im Kern der landespolitischen Maßnahmen steht der Aufbau eine neuen „Staatsschutz- und Anti-Terrorzentrums“, die Erlaubnis von Funkzellenabfragen für den Verfassungsschutz und der stärkere Einsatz von Künstlicher Intelligenz bei Ermittlungen – vor allem gegen Islamisten. In der grünen Landtagsfraktion gab es eine ausführliche Aussprache, die meisten Abgeordneten befürworten die Zeitenwende in der Migrationspolitik, weil sie 2026 die Abwahl fürchten und sie ein Scheitern des wahrscheinlichen Spitzenkandidaten Cem Özdemir noch verhindern wollen. Im Gegensatz zum Koalitionspartner differenzieren die Grünen aber klarer zwischen „gewaltbereiten Islamismus“ und, wie Kretschmann es formulierte, dem „in die Verfassungsordnung inkulturierten Islam“. Tayfun Tok, ein türkischstämmiger Abgeordneter, sagt: „Wir nehmen Law-und-Order ernst, wir nehmen aber auch die Frage ernst, was wir tun müssen, damit sich junge Menschen mit Migrationshintergrund mit Deutschland und dem Grundgesetz identifizieren.“ Auf lobende Worte der CDU musste Kretschmann nicht lange warten. Innenminister Thomas Strobl sagte, er habe in seinem gesamtem politischen Leben keinen Politiker erlebt, mit dem er vertrauensvoller zusammengearbeitet habe. An Markus Söder (CSU) gerichtet sagte Strobl, dass es eine Frage der Intelligenz sei, sich die Koalitionsoption Schwarz-Grün offen zu halten.