Friday, September 20, 2024

Macrons große Idee ist gescheitert – und Frankreich praktisch nicht mehr regierbar

WELT Macrons große Idee ist gescheitert – und Frankreich praktisch nicht mehr regierbar Artikel von Martina Meister • 3 Std. • 5 Minuten Lesezeit Monate nach der Wahl bekommt Frankreich erst einen neuen Premierminister und nun auch eine neue Regierung. Aber die ist nach Ansicht von Beobachtern zum Scheitern verurteilt – oder Macron tritt schon vorher zurück. Denn eine entschiedene Voraussetzung fehlt. Seit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron im Juni in einer irrwitzigen Entscheidung die Nationalversammlung aufgelöst und Neuwahlen einberufen hat, fühlen sich viele Franzosen in die Politik-Netflix-Serie „Baron Noir“ versetzt. Nur hat Macron eindeutig die Kontrolle über das Drehbuch verloren. Es gibt in dieser ersten Staffel überraschende Wendungen, bescheidene Höhepunkte, aber auch viel Überdruss. Alles scheint darauf angelegt, dass eine Fortsetzung folgt, einfach weil die Lebenserwartung der neuen Regierung gering ist. Sie steht unter dem Menetekel eines Misstrauensvotums, das nicht lange auf sich warten lassen wird. Seit der Parlamentswahl im Juli, nach der die mühsame Suche nach einem neuen Regierungschef begann, bestand in Frankreich ein Machtvakuum. Anfang September hat sich der ehemalige Brexit-Chefunterhändler Michel Barnier für die undankbare Aufgabe breitschlagen lassen. Zwei Wochen brauchte der neue, konservative Premierminister, um eine Regierung aufzustellen. Zwischenzeitlich soll er dem Präsidenten mit Rücktritt gedroht haben, bevor die Mannschaft überhaupt stand. Barnier bezeichnete Frankreichs katastrophale Finanzlage als „sehr ernst“ und kündigte Steuererhöhungen an. Für Macron sind sie indes ein Tabu. Es entwickelte sich ein Machtkampf zwischen einem entmachteten Präsidenten und einem machtlosen Premier, der keine Mehrheit im Parlament hinter sich hat. Am Donnerstag, 71 Tage nach dem Rücktritt von Barniers Vorgänger Gabriel Attal, kam die Nachricht, dass eine neue Regierung stehe, mit der Macron leben könne. Am Tag darauf hieß es bereits aus dem Élysée-Palast, man müsse letzte „Anpassungen“ vornehmen, bevor die 38 Mitglieder offiziell ernannt werden. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits erste Namen durchgesickert. Darunter auch der von Laurence Garnier, die für konservativen Les Républicains (LR) im Senat sitzt und als Familienministerin vorgesehen war. Sofort regten sich Proteste gegen die Politikerin, die auf jeder manif pour tous zu sehen war, jener „Demo für alle“, bei der 2012 vor allem gläubige Katholiken gegen die gleichgeschlechtliche Ehe auf die Straße gingen. Vor wenigen Monate erst hatte Garnier mit Nein gestimmt, als Frankreich das Recht auf Abtreibung in der Verfassung verankert hat. „Das wird eine Regierung der manif pour tous“, prophezeite Mathilde Panot, Chefin der radikalen Linkspartei La France Insoumise (LFI). Man kann das frei übersetzen mit: eine Regierung alter weißer Männer, konservativer Säcke und weniger Vorzeigefrauen. „Es handelt sich um eine Minderheitsregierung, mit einem starken Gewicht der Konservativen von LR, die bei den Wahlen nur 6,5 Prozent erzielten und lediglich 46 Sitze im Parlament haben. Es ist ein klarer Rechtsruck, der mit der ursprünglichen Ideologie von Macron bricht“, so die Analyse des Politikwissenschaftlers Jérôme Jaffré im Gespräch mit WELT AM SONNTAG. Barnier dagegen beglückwünscht sich zu einer „Architektur des Gleichgewichts“. Das ist schön formuliert. Die Wahrheit ist, dass die neue Regierung nicht das Wahlergebnis repräsentiert. Die Überraschungswahl brachte eine Nationalversammlung aus fast drei gleichstarken Blöcken hervor, ohne klare Mehrheit. Immerhin gestand Macron seine Niederlage ein Durch eine „republikanische Front“, die französische Version der Brandmauer, konnte zwar ein haushoher Sieg von Marine Le Pens Rassemblement National (RN) verhindert werden, aber das Ergebnis brachte nicht die von Macron beschworene Klärung. Der Präsident gestand immerhin ein, dass er die Wahl verloren hatte. Einen Sieger konnte er allerdings auch nicht ausmachen, zur Empörung der Linken, deren Koalition die meisten Sitze gewonnen hatte. Die Neue Volksfront (NFP), eine Koalition aus den radikalen Linkspopulisten von LFI, den Sozialdemokraten vom Parti Socialiste (PS) sowie Grünen und Kommunisten schlug nach mühsamen Verhandlungen den Namen einer Premierministerin vor, den Macron mit der Begründung ablehnte, dass eine linke Regierungschefin in kürzester Zeit gestürzt werden würde. Dasselbe gilt allerdings auch für seinen rechten Regierungschef Barnier. Beim letzten Stand der Verhandlungen sollten von den 16 Ministerposten sieben an Vertreter von Macrons Partei Ensemble pour la République (EPR) gehen und drei an die Konservativen. Zwei Ämter sollten Macrons langjährige liberale Koalitionspartner MoDem erhalten, die Partei von François Bayrou, und ein Amt die Mitte-rechts-Bewegung Horizons des früheren Premierministers Édouard Philippe. Auch Vertreter einer marginalen konservativen und einer linken Partei sollen Ministerposten besetzen. Eine „Gleichgewichtsregierung“, wie von Barnier versprochen, ist das aber nicht, weil sowohl der RN als auch die Linken eine Regierungsbeteiligung abgelehnt haben. Warum auch sollte man sich an einer Regierung beteiligen, die man stürzen will? Das Linksbündnis hat bereits ein Absetzungsverfahren gegen den Präsidenten eingeleitet. Kann es Erfolg haben? „Meines Erachtens wird Macron vorher zurücktreten“, prophezeit Marine Tondelier, Chefin der französischen Grünen, im Gespräch mit WELT AM SONNTAG. „Der Präsident hat keine solidere oder kohärentere Mehrheit als wir. Das zeigt sich jetzt – Tag für Tag.“ Mit einer Chance für eine linke Regierungschefin hätte Macron dem normalen demokratischen Prozess freien Lauf gelassen – selbst wenn sie vom Parlament gestürzt worden wäre, sagt Tondelier. So hingegen erscheint er als jemand, der die Wahl verliert und trotzdem das Heft in der Hand behalten will. Die Kabinettsliste ist ein Lied auf die gescheiterten Pläne Macrons, und zwar nicht nur der kurzfristig taktischen Winkelzüge dieser turbulenten Monate. Auch seine hochfliegenden Projekte vom Anfang werden nun endgültig Makulatur. Die Idee eines politischen „sowohl als auch“, die Vermählung der großen politischen Lager, der Versuch, eine schlüssige Politik aus rechten und linken Ideen zu stricken – alle diese Ansätze sind gescheitert. Der Versöhner Macron ist zum Spalter geworden. Er, der zu Beginn wie ein jugendlicher Retter erschienen war, um die Nation zu einen, hat die totale Zwietracht gesät. Es sind nicht obskure Mächte, die diesen politischen Scherbenhaufen angerichtet haben. Macron hat, wie es heutzutage heißt, einfach nicht „geliefert“. Er hält sich selbst zugute, große Reformen auf den Weg gebracht zu haben, aber das gelang nur um den Preis der politischen Spaltung. So aufgebläht sind die extremen und populistischen Fraktionen jetzt in der Nationalversammlung, dass das Land mit den üblichen demokratischen Mitteln praktisch nicht mehr regierbar ist. Höchstens dann, wenn Extremisten und Populisten eine Regierung tolerieren. Auch das hat sich Macron selbst zuzuschreiben. Von Beginn seiner ersten Amtszeit an dürfte er nicht im Ernst daran gedacht haben, die Hoffnungen seiner Wählerschaft auch aus linken Milieus zu erfüllen. Der Vorwurf, letztlich die ganze Zeit ein liberal konservativer Präsident gewesen zu sein, der sich zu dieser Haltung nur nicht öffentlich bekennt, begleitet ihn seit seinem Einzug in den Élysée-Palast. Wenig hat er unternommen, ihn zu entkräften. Es gab kein „weder links noch rechts“. So gesehen ist diese neue Regierung die erste, die wirklich im Einklang mit Macrons Ideen steht. Martina Meister berichtet im Auftrag von WELT seit 2015 als freie Korrespondentin in Paris über die französische Politik.