Saturday, September 14, 2024

Dominospiel an der deutsch-österreichischen Grenze

Frankfurter Allgemeine Zeitung Dominospiel an der deutsch-österreichischen Grenze Artikel von Stephan Löwenstein • 1 Std. • 4 Minuten Lesezeit Der österreichische Bundespräsident Alexander Van der Bellen blieb ganz höflich. Aber sein Unverständnis über die deutschen Ankündigungen zu Grenzkontrollen und Rückweisungen machte er schon deutlich, als eine Journalistenfrage beim Besuch des slowakischen Präsidenten Peter Pellegrini ihm die Gelegenheit dazu gab: „Ich war auch etwas überrascht über die etwas impro­visierte Art, in der Deutschland mitgeteilt hat, das Grenzregime zu ändern.“ Bislang sei völlig unklar, was das bedeute. Punktuelle Grenzkontrollen gebe es seit 2015. Van der Bellen formulierte seine Erwartung an Berlin so: „Ich vertraue darauf, dass von Deutschland alle europarechtlichen Verpflichtungen eingehalten werden – so wie auch von uns.“ Kontrolliert ein deutscher Beamter, dann wird der Antrag an ihn gerichtet „Ich war auch etwas überrascht über die etwas impro­visierte Art, in der Deutschland mitgeteilt hat, das Grenzregime zu ändern“: Österreichs Bundespräsident Alexander Van der Bellen beim Besuch des slowakischen Präsidenten Peter Pellegrini Österreich dürfte das Land sein, das von vermehrten Zurückweisungen an der deutschen Grenze am stärksten betroffen wäre. Denn über den südöstlichen Nachbarn kommen viele Migranten, die auf der sogenannten Balkanroute unterwegs sind. Und wenn Deutschland eine Maßnahme in seinem Grenzregime ergreift, dann zieht Österreich meistens nach, und der Dominoeffekt geht weiter in Richtung Südosten. So war es auch, als die deutsche Polizei wieder mit Grenzkontrollen begann. Die Österreicher zogen sofort mit Kon­trollen nach, zunächst zu Ungarn und Slowenien. Dort wird bis heute kontrolliert. Als Deutschland mit Grenzkontrollen zur Tschechischen Republik begann, kontrollierte Österreich ebenfalls umgehend seine tschechische Grenze und im gleichen Zug die slowakische. Deutschland nutzt nicht die alten Kontrollposten an der Grenze, deren Infrastruktur seit dem Schengenabkommen teils abgebaut wurde, teils verkommen ist. Stattdessen gibt es neue, mobile und zunächst provisorisch wirkende Kontrollstationen auf den Autobahnen aus Österreich, einige Kilometer tief im Land. Der Verkehr wird dort auf Schrittgeschwindigkeit verlangsamt. Aus der Erfahrung lässt sich anekdotisch festhalten: Ein typisches Familienauto mit ungefähr mitteleuropäisch aussehender Besatzung wird praktisch nie für eine Kon­trolle der bereitgehaltenen Ausweise an­gehalten, besonders dann nicht, wenn es bis unters Dach voll mit Kindern und Ge­päck beladen ist. Lastwagen und Vans werden allerdings eingehender besichtigt, es könnte sich um Schlepper handeln. Wie das deutsche Grenzregime künftig aussehen soll, ist den Österreichern noch unklar. Sollen die Kontrollen wieder direkt an der Grenze stattfinden statt im Landesinneren? Auch da wäre eine Zurückweisung durch Deutschland nicht ohne Weiteres möglich, ohne euro­päisches Recht zu verletzen. Denn sobald ein Mensch sagt, er suche Asyl, ist sein Antrag zu prüfen. Und zwar zunächst einmal von den Behörden des Landes, in dem das Asyl beantragt wurde. Und zumindest aus österreichischer Sicht dürfte klar sein: Kontrolliert ein deutscher Beamter, dann wird der Antrag an ihn gerichtet. Also an Deutschland. Bereits 3500 Personen nach Österreich zurückgewiesen Wiens Innenminister Gerhard Karner hat daher auf die Ankündigung der deutschen Innenministerin Nancy Faeser, illegale Migranten an den Grenzen zurückzuweisen, klargestellt, dass Österreich keine zurückgewiesenen Personen übernehmen werde. „Da gibt es keinen Spielraum“, erklärte der ÖVP-Politiker auf Anfrage. „Ich habe den Bundespolizeidirektor deshalb angewiesen, keine Übernahmen durchzuführen.“ Die Position des österreichischen Innenministeriums lautet, dass sich EU-Mitgliedstaaten an geltendes Recht halten müssen. Das bedeute, dass Personen, die einen Asylantrag stellten, nicht formlos an der Grenze zurückgewiesen werden dürften. Sollten sich Anhaltspunkte für die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates nach der Dublin-III-Verordnung ergeben, „wäre ein formelles Dublin-Konsultationsverfahren einzuleiten“. Laut der sogenannten Dublin-Verordnung ist derjenige Mitgliedstaat für einen Asylbewerber zuständig, den dieser als Erstes betreten hat. In Deutschland und Österreich kann das eigentlich nur passieren, wenn der Betreffende mit dem Flugzeug eingereist ist. Kommt er zu Fuß oder mit dem Auto, ist immer ein anderes EU-Land zuständig. Nicht nur die deutsche Regierung steht unter Druck, weil sie in Wahlen für die Probleme der ungeregelten Mi­gration abgestraft wird. Auch in Österreich wird am 29. September der Nationalrat neu gewählt. Und das Thema Mi­gration hilft der politischen Rechten. Die FPÖ ist seit Monaten in allen Umfragen vorn. Die Kanzlerpartei ÖVP hofft noch auf eine Aufholjagd. In der Praxis klingen die Ankündi­gungen dramatischer, als sie sind, sowohl auf deutscher als auch auf österreichischer Seite. Die Deutschen können, wie gezeigt, nicht ohne Weiteres zurück­weisen. Und die Österreicher können be­gründete Fälle nach Konsultation nicht ohne Weiteres ablehnen. Es gibt längst Zurückweisungen aus Deutschland. Laut einer Auskunft der Bundesregierung hat Deutschland in den ersten beiden Quartalen 2024 gut 3500 Personen nach Österreich zurückgewiesen. Das heißt, sie sind auch „angenommen“ worden. Österreich hat seinerseits in diesem Jahr bislang rund 700 Personen zurückgewiesen. Den Großteil allerdings nicht in ein Nachbarland, sondern am Flughafen. Gemeinsame Patrouillen mit Ungarn Rechtlich zulässig und damit auch praktisch möglich sind solche Zurückweisungen an der Grenze, wenn eine Person ohne Visum oder andere Einreiseerlaubnis kontrolliert wird und kein Asyl beantragt. Im bilateralen Rücküber­nahmeabkommen zwischen Deutschland und Österreich von 1997 wird dabei zwischen formellen Rückübernahmen unterschieden, die auf Ersuchen der zustän­digen Einwanderungsbehörde mit einer zentral zuständigen Stelle im anderen Staat zentral über das Bundespolizeipräsidium bearbeitet werden, und informellen Rückübernahmen, die direkt mit ir­regulären Grenzübertritten in Verbindung stehen und auf regionaler Ebene zwischen den jeweiligen Polizeibehörden beschlossen und durchgeführt werden. So ist es im jüngsten Schengenbericht der Europäischen Kommission festgehalten. Relevant ist vor allem das informelle Verfahren. Demnach wurden im letzten Quartal 2023 sechs Personen im Rahmen des formellen Rückübernahmeverfahrens nach Österreich und sieben nach Deutschland rückgeführt. 1331 Personen wurden im informellen Verfahren nach Österreich gebracht. Ungarn, das unter Ministerpräsident Viktor Orbán auf eine ganz harte Haltung in Sachen Migration setzt, hat seit geraumer Zeit erklärt, keinerlei Zurückgewiesene anzunehmen. Dabei ist Orbáns berüchtigter Grenzzaun nicht unüberwindlich. Innerhalb Ungarns werden keine Asylgesuche angenommen. Deswegen wurde das Land vom EuGH zu einer Strafe von 200 Millionen Euro verurteilt und muss darüber hinaus für jeden Tag, den dieser Zustand fortdauert, eine Million Strafe zahlen. Österreich hat darauf verzichtet, Un­garn pauschal zu beschimpfen, sondern mit den Nachbarn ein pragmatisches Arrangement getroffen. Wien unterstützt Budapest beim Grenzschutz mit Polizisten. Momentan patrouillieren rund vierzig österreichische Beamte mit unga­rischen Kollegen auf ungarischer Seite entlang der Grenze. Seit 2022 wurden so laut österreichischem Innenministerium etwa 200 Schlepper und 2700 Migranten aufgegriffen. Mit diesen Personen um­zugehen ist dann Sache der ungarischen Behörden. „Wir beurteilen das als äußerst wirksam“, heißt es vom Innenministerium in Wien. Das zeige der signi­fikante Rückgang an Aufgriffen illegaler Migranten im grenznahen Burgenland: Es waren rund tausend bis Juli dieses Jahres, verglichen mit mehr als 10.000 im vergleichbaren Zeitraum im vergangenen Jahr. Und wer gar nicht erst nach Österreich kommt, muss auch nicht zurückgewiesen werden.