Sunday, September 15, 2024
Die K-Antwort: Merz sollte die Spielerei jetzt beenden
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Die K-Antwort: Merz sollte die Spielerei jetzt beenden
Artikel von Jochen Buchsteiner • 3 Std. • 5 Minuten Lesezeit
Zu ernst sei die Lage des Landes, als dass sich die Regierungskoalition ständiges Gezänk leisten dürfe, sagt Friedrich Merz gerne. Gilt das nicht ebenso für Deutschlands größte Oppositionskraft? Dort wird zwar nicht gestritten, jedenfalls nicht öffentlich, aber man belauert sich und scheut wichtige Entscheidungen. Ohne Not hält die CDU die Bürger im Ungewissen über den vermutlich nächsten Kanzler.
Spielereien untergraben den Anspruch des CDU-Vorsitzenden, der Regierungschef für die ernsten Zeiten zu sein. Und von Spielereien muss man sprechen, wenn der bayrische Ministerpräsident und CSU-Chef in Talkshows auf die neckischen Fragen nach seinen Ambitionen noch immer ein Grinsen auflegt und ein Rennen als offen darstellt, das längst gelaufen ist. Spielerei ist es nicht minder, wenn der CDU-Chef dergleichen mit sanftem Spott hinnimmt, obwohl er weiß, dass die Wähler Klarheit verdienen. Gelassenheit ist nur dann eine politische Tugend, wenn im richtigen Moment Entschlossenheit an ihre Stelle tritt.
Ohne Gefahr nicht aus der Gefahr
Worauf wartet Friedrich Merz? Eine Verabredung einzuhalten ist ehrenhaft, aber diese Verabredung ist vage. Mal hieß es, die Kandidatur werde nach den Wahlen im Osten geklärt, mal hieß es: im Spätsommer. Die für die CDU bedeutenden Wahlen in Sachsen und Thüringen sind vorüber; in Brandenburg entscheidet sich bundespolitisch, wenn überhaupt, nur das Schicksal des SPD-Kanzlers. Und der „Spätsommer“ ist jetzt. Am 22. September, dem Tag der Brandenburg-Wahl, beginnt kalendarisch der Herbst.
Merz könnte also getrost nach München reisen, ein versöhnliches Souvenir aus dem Sauerland mitbringen und Söder anbieten, die naheliegende Entscheidung als pater familias zu verkünden: dass auch aus CSU-Sicht der Kanzlerkandidat Friedrich Merz heißen muss. Würde Söder wirklich bocken, wie vor drei Jahren im Shoot-out mit Amin Laschet? Dann stünde er ziemlich allein da. In der CDU hat Söder so gut wie keine Unterstützung mehr, und ein verlorener Kampf um die Kandidatur könnte am Ende sogar dessen Stellung in Bayern gefährden. Berechenbar ist natürlich nichts, was mit Söder zu tun hat, aber auch weiteres Zögern ist für Merz mit Risiken verbunden. Hier hilft Machiavelli: „Ohne Gefahr hat man sich noch nie aus einer Gefahr gerettet.“
Merz ist kein Idealkandidat; wer ist das schon. Manche Bürger erleben ihn als habituell aus der Zeit gefallen und nicht sehr nahbar. Man könnte auch sagen: Er ist vielen „zu konservativ“. Aber damit liegt er durchaus im Trend. Die Gesellschaft ist – das zeigen alle Wahlen und Umfragen der vergangenen Monate – nach rechts gerückt, und was sich darin ausdrückt, ist nicht nur die Sehnsucht nach einer restriktiveren Migrationspolitik, einem pragmatischeren Klimaschutz oder einem Ende des woken Hyperliberalismus. Manches spricht dafür, dass auch wieder Politikereigenschaften geschätzt werden, die man gemeinhin bürgerlichen Traditionalisten zuschreibt: Realitätssinn, Verlässlichkeit, Bereitschaft zum Unbequemsein; auch eine Portion Unbeirrbarkeit.
Manöver mit Augenmaß
Das (einzige) Argument der Merz-Kontrahenten – dass sie nämlich in Umfragen beliebter seien als der Parteichef, also ein besseres Wahlergebnis für die Union einfahren könnten – ist dünn. Weder Markus Söder in München noch Hendrik Wüst in Düsseldorf mussten (oder durften) sich bisher auf der Berliner Bühne bewähren, wo die Herausforderungen, die Ansprüche und die Bandagen härter sind. Hier stolpert man eher über die eigene Sprunghaftigkeit als in einer Landeshauptstadt, und Opportunismus fliegt ebenfalls schneller auf. Vergleichen sollte man nur, was sich vergleichen lässt.
Euphorie hat Merz noch immer nicht entfachen können, aber die meisten in der Union haben verstanden, dass sie es mit ihm nicht schlecht getroffen haben. Respektvoll wird registriert, dass der Oppositionsführer – gemeinsam mit dem von ihm ausgewählten Generalsekretär – in nicht einmal drei Jahren die programmatisch ausgezehrte CDU in eine Partei zurückverwandelt hat, die wieder als eigensinnige, konservative Kraft wahrgenommen wird. Es spricht für Augenmaß, dass Merz das Manöver gelang, ohne die CDU dem Vorwurf einer „AfDeisierung“ auszusetzen und auch ohne Aufstände von Merkelianern oder persönlichen Gegnern.
Erstaunlich geräuschlos ließ Merz Gewissheiten und Sprechblasen hinter sich, die jahre-, wenn nicht jahrzehntelang akzeptiert waren, auch in der eigenen Partei: dass mehr Diversität per se einer Gesellschaft nütze; dass man gegen Migration nichts tun und Grenzen nicht schließen könne; dass wirksamer Klimaschutz nur durch persönliche Entbehrungen und Verbote erreicht werden könne.
Zentrum der Neuausrichtung ist die Asylpolitik, die Merz in taktischen Schüben verschärfte. Impulsiv wirkende Zuspitzungen – von den „kleinen Paschas“ bis zu den abgelehnten Asylbewerbern, die sich in Deutschland „die Zähne neu machen lassen“ – wirken im Nachhinein wie kalibrierte Stimmungstests. Mit Verständnis für die Mechanik der Öffentlichkeit zog Merz immer dann die Schrauben an, wenn Gelegenheit bestand – zuletzt nach den Messerangriffen abgelehnter Asylbewerber, zuerst in Mannheim, dann in Solingen. So treibt er die Ampelparteien vor sich her und machte die Migrationswende zu einem Thema der CDU.
Das Strategie-Dilemma bleibt
Der AfD konnte Merz damit noch nicht schaden. Gleichwohl sind stabile Werte um die 30 Prozent für eine traditionelle Volkspartei in der zerklüfteten Parteienlandschaft Europas mehr als vorzeigbar. Obwohl die CDU von ihren links- und rechtspopulistischen Gegnern zu den „Altparteien“ gezählt wird, ist sie stärker als die drei anderen „Altparteien“ zusammen, mancherorts sogar doppelt so stark. Nicht gelöst, ja verschärft, hat Merz das strategische Dilemma. Ob es weitsichtig ist, mit Linkspopulisten zusammenzuarbeiten, um Rechtspopulisten von der Macht fernzuhalten, lässt sich bezweifeln. Allerdings gäbe es in der Partei keine Mehrheit für einen Kurs. Für einen solchen Strategiewechsel gilt vermutlich, was lange für eine härtere Migrationspolitik gegolten hat: Die Zeit ist noch nicht reif.
Gleichwohl steckt an dieser Stelle Merz’ größte Fußangel: Wie will er eine umfassende Wende herbeiführen, wenn auch ein CDU-Kanzler aller Voraussicht nach auf Grüne oder Sozialdemokraten angewiesen sein wird – vielleicht sogar auf beide? Es bleibt ein schwacher Trost, dass dafür kein Unionsspitzenpolitiker eine geeignete Lösung kennt.
Merz hat Fehler gemacht, aber keine verhängnisvollen. Er führte die CDU wieder ein Stück zu ihren Wurzeln zurück und verkörpert das als Person. Er öffnet keine (Frauen-)Herzen wie weiland Willy Brandt oder, mit Abstrichen, Robert Habeck. Dafür ist er ein überzeugender Redner, der Gefolgschaft schaffen kann. Merz ist sich seiner selbst nicht so sicher, wie es Helmut Kohl gewesen ist, aber er verfügt über Instinkt und Durchhaltewillen. Parteifreunde bescheinigen Merz vor allem die Fähigkeit, den Bürgern notwendige Zumutungen zu erklären und abzuverlangen. Das wird gebraucht werden. Wenn die Bürger Vertrauen in die Urteils- und Führungskraft ihres nächsten Kanzlers haben sollen, muss er sie auch und gerade in der Machtfrage demonstrieren. Söder hat sein Spiel erkennbar ausgereizt. Merz sollte es jetzt beenden.