Sunday, September 22, 2024
Großbritannien verschuldet sich immer mehr: Wird es einen Rettungsanker geben?
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Großbritannien verschuldet sich immer mehr: Wird es einen Rettungsanker geben?
Artikel von Dionysis Partsinevelos • 2 Std. • 5 Minuten Lesezeit
Die britische Staatsverschuldung hat vor Kurzem eine kritische Schwelle erreicht und liegt zum ersten Mal seit über sechzig Jahren bei 100 Prozent des BIP.
Angesichts des wachsenden finanziellen Drucks auf das Land bereitet sich Finanzministerin Rachel Reeves auf die Vorlage ihres ersten Haushalts am 30. Oktober vor, in dem sie sich mit der sich rapide verschlechternden Wirtschaftslage befassen muss.
Angesichts der stark steigenden Staatsverschuldung, der Inflation, die die Kosten in die Höhe treibt und der steigenden Schuldenlast gibt Großbritannien im wahrsten Sinne des Wortes mehr aus, als es sich leisten kann. Das Ausmaß der bevorstehenden Herausforderung ist immens, und es stehen schwierige Entscheidungen bevor.
Wie schlimm ist Großbritanniens Schuldenproblem?
Aus den neuesten Daten des Office for National Statistics (ONS) geht hervor, dass die Staatsverschuldung Großbritanniens 100 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) erreicht hat. Das ist ein Stand, der seit den frühen 1960er Jahren nicht mehr erreicht wurde, als das Land noch immer mit den finanziellen Folgen des Zweiten Weltkriegs kämpfte.
Dieser Meilenstein verdeutlicht, wie tief die finanziellen Probleme Großbritanniens verwurzelt sind. Sie sind auf die Kombination von schwachem Wirtschaftswachstum, hoher Inflation und erheblichen Staatsausgaben zurückzuführen.
Im August 2024 nahm die britische Regierung Kredite in Höhe von 13,7 Milliarden Pfund auf, 3,3 Milliarden Pfund mehr als im gleichen Monat des Jahres 2023 und 2,5 Milliarden Pfund mehr als die Prognosen des Office for Budget Responsibility (OBR).
In den ersten fünf Monaten des Haushaltsjahres 2024/25 beliefen sich die Kreditaufnahmen der Regierung auf insgesamt 64,1 Milliarden Pfund und liegen damit 6 Milliarden Pfund über den Prognosen des OBR.
Diese wachsende Haushaltslücke hat im gesamten politischen Spektrum Alarm ausgelöst und die Sorge geweckt, dass sich das Land auf einem nicht nachhaltigen Weg befindet.
Erschwerend kommt hinzu, dass die Kosten für den Schuldendienst steigen.
Allein im August beliefen sich die Zinszahlungen auf 5,9 Milliarden Pfund und lagen damit nur geringfügig unter dem Vorjahreswert, obwohl die Bank of England nach einer längeren Phase hoher Inflation mit der Senkung der Zinsen begonnen hatte.
Diese Zahlungen liegen um Dutzende Milliarden höher als das, was vor der Covid-19-Pandemie erwartet wurde, und spiegeln das abrupte Ende des „langfristig niedrigen“ Zinsumfelds wider, das die Kreditkosten der Regierung jahrelang gesenkt hatte.
Warum geraten die öffentlichen Ausgaben außer Kontrolle?
Zwar sind die Steuereinnahmen des Staates gestiegen, doch wurden diese durch die steigenden öffentlichen Ausgaben, insbesondere für Sozialleistungen und öffentliche Dienstleistungen, bei weitem nicht ausgeglichen.
Die Kosten für diese Dienste sind infolge der Inflation deutlich gestiegen und Leistungen wie das Pflegegeld und die Invalidenbeihilfe wurden angepasst, um mit den steigenden Preisen Schritt zu halten.
Infolgedessen hat die Regierung Mühe, ihre Finanzen unter Kontrolle zu halten.
Diese Faktoren setzen die Labour-Finanzministerin Rachel Reeves enorm unter Druck. Ende Oktober soll sie einen Haushalt vorlegen, der nach Ansicht vieler für die britische Öffentlichkeit schmerzhaft sein dürfte.
Reeves hat bereits davor gewarnt, dass Steuererhöhungen unvermeidlich seien, hat jedoch Erhöhungen der Einkommens- und Körperschaftssteuer sowie der Mehrwertsteuer ausgeschlossen. Damit bleiben ihr nur begrenzte Möglichkeiten, die Steuereinnahmen zu steigern, ohne die Wahlversprechen der Labour-Partei zu brechen.
Der Inflationsdruck nimmt jedoch weiterhin zu.
Nicht nur steigen die Gehälter im öffentlichen Sektor, auch die Aufrechterhaltung wichtiger Dienstleistungen wird teurer, was die gesamten Staatsausgaben in die Höhe treibt.
Reeves hat bereits Maßnahmen zur Reduzierung der Ausgaben ergriffen. So hat er etwa die Heizkostenzuschüsse für den Winter für die meisten Rentner gestrichen und geplante Investitionen in die soziale Betreuung, die Infrastruktur und Krankenhäuser auf Eis gelegt.
Doch trotz dieser Kürzungen gibt es weitverbreitete Sorgen, dass die Haushaltslage des Landes immer prekärer wird.
Verbraucher zeigen sich nicht allzu optimistisch
Während die Regierung ihre nächsten finanzpolitischen Schritte vorbereitet, beginnt das Verbrauchervertrauen zu schwinden.
Ein aktueller Bericht des Datenanbieters GfK zeigte einen starken Rückgang des Verbrauchervertrauens im September, den niedrigsten Stand seit März, da viele Haushalte die Auswirkungen kommender Kürzungen und möglicher Steuererhöhungen fürchten.
Die Sorge über den Verlust des Heizkostenzuschusses im Winter und die Möglichkeit noch höherer Energierechnungen haben bei vielen Briten für Verunsicherung hinsichtlich ihrer finanziellen Zukunft gesorgt.
Trotz dieser Warnungen warnen einige Experten davor, die Ängste der Öffentlichkeit zu übertreiben.
So lassen die Einzelhandelsumsätze beispielsweise noch keine Anzeichen einer weitverbreiteten Panik unter den Verbrauchern erkennen. Dies legt die Vermutung nahe, dass die Auswirkungen der wirtschaftlichen Maßnahmen der Regierung noch nicht vollständig erkannt wurden.
Doch angesichts der anstehenden Haushaltsverabschiedung im Oktober und der mit dem nahenden Winter steigenden Energiekosten könnte sich die Stimmung noch weiter verschlechtern.
Kann Wirtschaftswachstum Großbritannien vor dem finanziellen Ruin retten?
Wenn es um den Umgang mit einer hohen Staatsverschuldung geht, stehen typischerweise vier Optionen zur Verfügung, aber nur eine davon ist vorteilhaft.
Die erste Möglichkeit besteht in Steuererhöhungen, die eine Belastung für Haushalte und Unternehmen darstellen und möglicherweise die Konjunktur bremsen.
Die zweite Möglichkeit besteht in der Kürzung der öffentlichen Ausgaben. Diese führt häufig zu einer Reduzierung der Dienstleistungen und Sozialprogramme und trifft insbesondere die Schwächsten der Gesellschaft.
Die dritte und am wenigsten wünschenswerte Möglichkeit besteht darin, mehr Geld zu drucken, was die Inflation anheizen und die Wirtschaft destabilisieren kann.
Die einzige positive Lösung ist die Förderung des Wirtschaftswachstums.
Wächst die Wirtschaft, wird die Staatsverschuldung im Verhältnis zum Gesamtvermögen des Landes beherrschbarer, wodurch drastische Haushaltsmaßnahmen weniger erforderlich werden.
Dennoch verlief das Wirtschaftswachstum in Großbritannien schleppend.
Die Bank of England hat ihre Wachstumsprognose für das dritte Quartal 2024 kürzlich von 0,4 % auf nur noch 0,3 % nach unten korrigiert.
Der Fokus der Regierung auf einer strafferen Haushaltsführung könnte in Verbindung mit einem schwachen Verbrauchervertrauen und möglichen Arbeitsplatzverlusten das Wachstum in den kommenden Monaten weiter bremsen und den Weg zur Schuldenreduzierung noch steiler machen.
Trotz ihres starken Mandats nach den jüngsten Wahlen äußert sich Labour in Bezug auf die Wirtschaftslage äußerst negativ und warnt vor schlimmen Konsequenzen, wenn die Haushaltsdisziplin nicht wiederhergestellt wird.
Dieser Ansatz könnte Reeves zwar dabei helfen, die Öffentlichkeit auf schmerzhafte Entscheidungen vorzubereiten. Doch in der Partei gibt es auch Bedenken, dass diese Botschaft nach hinten losgehen und die Popularität der Regierung schädigen könnte, bevor sie überhaupt eine Chance hat, ihre Agenda umzusetzen.
Aus der Perspektive der Analysten stellt das derzeitige Haushaltsumfeld in Großbritannien eine Phase erhöhter Unsicherheit dar, bietet aber auch Chancen.
Generell könnten höhere Kreditkosten und eine unbeständige Verbraucherstimmung zu kurzfristigen Markteinbrüchen führen.
Allerdings könnten sich hier auch Kaufgelegenheiten für Anleger mit einem längerfristigeren Anlagehorizont ergeben, insbesondere wenn die Regierung zur Stimulierung des Wachstums der Infrastruktur und der Innovation den Vorzug gibt.
Die letzten Monate des Jahres 2024 werden für die Richtung der britischen Wirtschaft entscheidend sein.
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