Friday, August 30, 2024
Nordeuropa macht es vor: Was Deutschland von der Asylpolitik seiner europäischen Nachbarn lernen kann
Neue Zürcher Zeitung Deutschland
Nordeuropa macht es vor: Was Deutschland von der Asylpolitik seiner europäischen Nachbarn lernen kann
Artikel von Oliver Maksan, Berlin • 5 Std. • 6 Minuten Lesezeit
Dänische Polizisten kontrollieren im Januar 2016 nahe der deutschen Grenze.
Aufgeschreckt vom islamistischen Anschlag eines Syrers in Solingen, diskutiert Deutschland wieder einmal über seine Asylpolitik. An diesem Donnerstag hat sich die deutsche Regierung auf ein Massnahmenpaket geeinigt. Ein schärferes Waffenrecht und mehr Befugnisse für die Sicherheitsbehörden sind geplant.
Der Oppositionsführer Friedrich Merz will allerdings weiter gehen. Der Chef der Christlichdemokraten schlug kürzlich eine ganze Reihe von Massnahmen vor – darunter einen Aufnahmestopp für Syrer und Afghanen durch generelle Zurückweisungen an den deutschen Grenzen.
Merz empfahl Bundeskanzler Olaf Scholz, die dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen einzuladen, sollte er Überzeugungsarbeit in seiner Partei, der SPD, leisten müssen. Die sozialdemokratisch geführte Regierung in Dänemark mache schliesslich eine Ausländerpolitik, wie sie der Union vorschwebe, seit Jahren mit grossem Erfolg, sagte der Christlichdemokrat. Auch aus SPD und FDP waren Stimmen zu hören, die empfahlen, gen Norden zu blicken.
Tatsächlich hat Deutschlands nördlicher Nachbar binnen weniger Jahre eine radikale Wende sowohl in der Asyl- wie in der Integrationspolitik vollzogen. Während Deutschland unter Bundeskanzlerin Angela Merkel 2015 sein Herz für die Beladenen der Welt entdeckte, setzte das Nachbarland den entgegengesetzten Weg fort. Schliesslich wurde auch Dänemark von den deutschen Willkommenssignalen in Mitleidenschaft gezogen, waren Asylbewerber, aus der Bundesrepublik kommend, zu Fuss auf dänischen Autobahnen unterwegs.
Dänische Sozialdemokraten haben Kehrtwende vollzogen
Besonders die dänische Sozialdemokratie steuerte im Unterschied zur deutschen seither komplett um – nicht zuletzt wegen des Aufstiegs der rechten Konkurrenz. Durch die restriktive Migrationspolitik nahm die zeitweise hohe Zustimmung zur Dänischen Volkspartei massiv ab, während in Deutschland die AfD immer neue Rekordwerte erklomm.
Voraussetzung dafür war ein deutlicher Rückgang der Asylmigration nach Dänemark. So stellten im Krisenjahr 2015 etwas über 21 000 Menschen in dem 6-Millionen-Land einen Asylantrag (in Deutschland 476 000). Im vergangenen Jahr waren es 2300 Anträge und damit ungefähr ein Zehntel davon. Eine Entwicklung, von der Deutschland weit entfernt ist. Im selben Jahr 2023 wurden in Deutschland mit seiner etwa 14-mal so grossen Bevölkerung mit über 350 000 etwa 153-mal so viele Asylanträge gestellt. Zwischendurch wurden neue Höchststände erklommen, während die Zahlen in Dänemark seit Jahren zurückgehen.
Gelungen ist Dänemark diese nachhaltige Trendumkehr, indem es sich als Zielland planvoll unattraktiv gemacht hat. Während Deutschland ab 2015 die von seiner Bundeskanzlerin verordnete und in alle Welt transportierte Willkommenskultur auch in grosszügige Gesetze und Sozialleistungen goss oder wenigstens beibehielt, entschied sich Dänemark für den entgegengesetzten Weg.
Restriktionen gab es teilweise zwar auch in Deutschland, aber nie systematisch. So wurde der Familiennachzug für Migranten mit eingeschränktem Schutz 2016 zunächst ausgesetzt, 2018 dann aber bei gedeckelter Zahl wieder aufgenommen. Die Regierungspartei SPD diskutierte noch Ende 2023 darüber, auch diese Beschränkung fallenzulassen. Anders Dänemark.
Deutschland macht auf Arabisch sein neues Einbürgerungsrecht bekannt
Systematisch wurden dort Gesetze etwa beim Familiennachzug verschärft, die Anforderungen für die Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis erhöht und Sozialleistungen gesenkt – besonders bei final abgelehnten Asylbewerbern. Deutschland hingegen überweist auch abgelehnten Asylbewerbern Geld nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Erst unter dem Eindruck der Solinger Ereignisse konnte man sich durchringen, diesen Anreiz zu streichen.
Abgelehnte Asylbewerber verpflichtet Dänemark zudem zu einer zentralen Unterbringung in Ausreisezentren. Deutschland hingegen legalisierte 2022 bestimmte Gruppen von abgelehnten, nur noch geduldeten Migranten durch das sogenannte Chancenaufenthaltsgesetz.
Dänemark zieht Asylbewerber auch systematischer als Deutschland zur Deckung der eigenen Unterhaltskosten heran, wenigstens tut es dies mit mehr Signalwirkung. Zu Bekanntheit hat es das dänische sogenannte Schmuckgesetz gebracht. So dürfen Schutzsuchenden Schmuck und Juwelen ab einer Höhe von etwa 1350 Euro abgenommen werden.
Als erstes westliches Land entschied sich Dänemark 2021 zudem, syrische Flüchtlinge in ihr Heimatland auszuweisen. In bestimmten Ländern geschaltete Anzeigen warnen unberechtigte Migranten zudem davor, die Reise nach Dänemark anzutreten. Deutschland hingegen macht in der arabischen Welt sein reformiertes Staatsangehörigkeitsrecht bekannt, das Migranten eine schnellere Einbürgerung ermöglicht.
Möglich waren all diese Massnahmen teilweise auch deswegen, weil der Rechtsrahmen in Dänemark ein anderer ist als in Deutschland. Kopenhagen hat sich bei Fragen der inneren Sicherheit und Justiz eine sogenannte Opt-out-Klausel in Bezug auf europäisches Recht ausbedungen. Nur so gelang es 1992, die skeptischen Dänen zur Zustimmung zum Maastricht-Vertrag zu bewegen, mit dem aus der Europäischen Gemeinschaft die Europäische Union wurde. Seither kann Dänemark Rechtsakte der EU in Asylfragen übernehmen, muss es aber nicht.
Deutschland und die anderen EU-Staaten hingegen haben ihre Asylpolitik weitgehend vergemeinschaftet. Der nationale Spielraum ist seither begrenzt – nicht zuletzt durch die Dublin-III-Verordnung. Diese regelt, welcher Mitgliedsstaat für einen Asylbewerber zuständig ist. In der Praxis freilich funktioniert die dann eigentlich folgende Rücküberstellung häufig nicht – zum Schaden der Hauptzielländer wie Deutschland.
Aber auch Länder, die an dasselbe EU-Recht wie Deutschland gebunden sind, handeln entschlossener als die Bundesrepublik. So haben die Niederlande unter der neuen Rechtskoalition erklärt, ihren Asylkurs verschärfen zu wollen, und verstärken damit den Asyldruck auf Deutschland. «Die Niederlande müssen strukturell zu der Kategorie Mitgliedstaaten mit den strengsten Zulassungsregeln von Europa gehören», hiess es Mitte Jahr in den Eckpunkten für die Koalition.
Deutschland hofft auf das neue EU-Asylrecht
Sollten die geplanten Massnahmen wie gekürzte Sozialleistungen und Grenzkontrollen nicht ausreichen, die Zahlen nachhaltig zu senken, will Den Haag sogar nach dänischem Vorbild eine Opt-out-Regelung bei der EU erwirken. Politisch ist dies wenig aussichtsreich, müssten dafür doch die europäischen Verträge geändert werden – einstimmig. Dennoch ist auch hier die Signalwirkung das, worauf es den Niederlanden ankommt.
Deutschland hingegen setzt ganz auf das in diesem Jahr reformierte Gemeinsame Europäische Asylsystem. Dieses tritt allerdings erst 2026 in Kraft. Die Steuerungswirkung setzen Experten nicht allzu hoch an. Zudem hat die Bundesregierung in den Verhandlungen den als historisch gefeierten Kompromiss an entscheidenden Stellen verwässert. So bestand die Bundesregierung darauf, dass Asylbewerber nur in Länder ausserhalb der EU verbracht werden können, wenn sie vorher eine Verbindung zu dem Land hatten.
Auch Schweden muss im selben europäischen Rechtsrahmen handeln. Lange hatte sich das skandinavische Land als humanitäre Grossmacht begriffen. Doch nicht zuletzt infolge des von Deutschland ausgelösten Willkommenssignals nahm die Überforderung zu. Anders als Deutschland hat Schweden schon sehr früh begonnen, stationäre Grenzkontrollen einzuführen.
Auch Deutschland kontrolliert seit 2015 – aber nur an der Grenze zu Österreich. Erst im vergangenen Jahr wird durchgehend auch an den Grenzen zu Tschechien, Polen und der Schweiz kontrolliert. Die während der EM verhängten Kontrollen an den übrigen Landgrenzen hat Deutschland wieder aufgehoben.
Schweden zeigt auch, dass man bestimmte Pull-Faktoren ausser Kraft setzen kann. Wie in Deutschland auch siedelten sich in Schweden im Laufe der Jahre grosse Diaspora-Gemeinden aus bestimmten Herkunftsländern an. Deren Vorhandensein gilt gemeinhin als einer der wichtigsten Pull-Faktoren. Durch eine auf Abschreckung von irregulären Migranten setzende Politik wurde in jüngster Zeit erreicht, dass mehr Menschen aus bestimmten Ländern wie dem Irak oder Somalia Schweden verlassen, als neue aus diesen hinzukommen.
Es braucht eine grundlegende Wende in der Asylpolitik
Grundsätzlich haben alle EU-Länder dieselben Probleme. Wer es einmal in die EU geschafft hat, muss meist nicht mit seiner Ausschaffung rechnen. Etwa acht von zehn ausreisepflichtigen Personen verblieben in letzter Zeit in der EU. Migrationsforscher wie Stefan Luft aus Bremen empfehlen deshalb einen Kurswechsel in der europäischen Asylpolitik insgesamt. Verfahren müssten in Drittländern ausserhalb der EU durchgeführt werden. Länder, die es wollen, könnten Kontingente vorher ausgesuchter Schutzsuchender aufnehmen.
So weit ist die EU noch nicht – vor allem wegen deutscher Einsprüche. Andere Länder waren bis anhin aber nicht tatenlos und haben deutlich früher als die Bundesrepublik begonnen, die Kontrolle über die ungesteuerte Zuwanderung zurückzugewinnen.
Voraussetzung dafür waren zwei Dinge. Zum einen formulierten sie eine politische Zielvorgabe, die auf konsequente Abschreckung und Senkung der Zahlen setzte. Die Integration der Asylbewerber war dabei anders als in Deutschland nicht leitend. Damit nahm man freilich die Probleme in Kauf, die mit schlecht integrierten Menschen verbunden sind.
Zum anderen liessen sich für eine auf Abschreckung setzende Politik demokratische Mehrheiten finden – sei es wie in den Niederlanden oder Schweden durch Koalitionen rechts der Mitte oder wie in Dänemark durch eine Rechtsverschiebung der Sozialdemokratie. Davon ist die politische Linke in Deutschland weit entfernt. Die sogenannte Brandmauer zur AfD verhindert zudem Mitte-rechts-Regierungen wie in Schweden oder den Niederlanden. Bis auf weiteres dürfte Deutschland deshalb Hauptzielland irregulärer Migration bleiben.