Saturday, August 31, 2024

In Europa gehen überall wieder die Grenzen zu. Ist das Recht auf Asyl in Frage gestellt?

Neue Zürcher Zeitung Deutschland In Europa gehen überall wieder die Grenzen zu. Ist das Recht auf Asyl in Frage gestellt? Artikel von Alain Zucker, Mirko Plüss • 2 Std. • 6 Minuten Lesezeit Hat Europa die Kontrolle verloren? Flüchtlinge, die auf der Balkanroute aus Serbien die Grenze nach Ungarn überqueren, um in die EU zu gelangen. Wer inkognito durch Europa reisen will, sollte rechtzeitig aus der Basler Tramlinie 8 aussteigen. An der Grenze zu Deutschland wird kontrolliert, als hätte es die europäische Reisefreiheit nie gegeben. «Einmal alle Ausweise, bitte», tönt es von der jungen deutschen Grenzpolizistin. Sie schaut sich zusammen mit drei Kollegen die Papiere von ausnahmslos allen Trampassagieren an. Es herrscht Hochbetrieb an diesem heissen Freitagmittag. Kontrolliert wird rund um die Uhr. Gleich vier erwachsene Männer und zwei Minderjährige haben die Beamten herausgefischt. In einem heruntergekühlten Container werden sie durchsucht. Einige sind nur in T-Shirt, Hosen und Flipflops unterwegs. «Where are you from? D’où venez-vous?» Die Migranten geben sich wortkarg, stammen nach eigenen Angaben aus Senegal und aus Syrien. Der freie Personenverkehr wankt Bis vor kurzem galt der freie Personenverkehr im Schengen-Raum als Pfeiler des modernen Europa. Doch nun haben mehrere der 29 Mitgliedsländer das Vertrauen verloren, dass er noch funktioniert. Nicht nur Deutschland kontrolliert seit einem Jahr seine Süd- und Ostgrenzen wieder, auch Länder wie Slowenien, Tschechien, Polen, Italien, Schweden oder Dänemark senkten die Schlagbäume. Die Kontrollen sind zwar temporär, doch werden sie immer wieder verlängert. Hauptgrund ist die «irreguläre Migration», wie es die Politiker bürokratisch nennen. Sie geben damit auch zu, dass Europas Staaten die Kontrolle darüber verloren haben, wie sich Migranten aus aller Welt, von denen 1,1 Millionen allein 2023 in Europa ein Asylgesuch stellten, auf dem Kontinent bewegen. Der Anschlag eines 26-jährigen Syrers in Solingen, bei dem vor etwas mehr als einer Woche drei Menschen starben, war der berühmte letzte Tropfen, der das Fass der öffentlichen Empörung zum Überlaufen brachte: das Unverständnis darüber, wie der Asylprozess immer wieder missbraucht wird – und nicht verhindert wird, dass einer im Namen des Islamismus wahllos Leute umbringt. Vor Solingen war es ein Afghane in Mannheim, während in Wien die Katastrophe in letzter Minute noch verhindert wurde. Der letzte Vorfall ereignete sich in Davos, als zwei abgewiesene Asylbewerber einen orthodoxen Juden angriffen. Das Gefühl des «Jetzt ist es genug» breitet sich in ganz Europa aus: Die Zeichen stehen auf Verschärfung. Im Mai hat die EU einer Reform zugestimmt, die für Migranten mit geringen Aufnahmechancen Schnellverfahren an der EU-Aussengrenze ermöglicht. Und diese Woche kündigte Deutschland ein neues Asylpaket an, das die Sicherheit erhöhen will. Als Tatbeweis hat es gleich 28 afghanische Straftäter abgeschoben. Zur Disposition steht auch Grundsätzliches: zum Beispiel das Asylsystem, das wir seit dem Zweiten Weltkrieg kennen und das Verfolgten aus aller Welt Schutz gewähren soll. Draussen rollt das nächste Tram Nummer 8 an. Parallel kontrollieren die Polizisten den Autoverkehr, am liebsten Sprinter Kastenwagen, die Schleuser nutzen. Auf der Schweizer Seite ist von Polizei weit und breit nichts zu sehen. Der neue deutsche Grenzschutz hingegen erweist sich als effizienter als die Deutsche Bahn: 15 274 Personen hat er 2023 in die Schweiz zurückgewiesen, weil sie nicht einreiseberechtigt waren und auch kein Asylgesuch stellten. Im Jahr 2019 waren es erst 49. Ob diese Zurückgewiesenen in der Schweiz Asyl beantragen, untertauchen oder sofort einen neuen Anlauf über die Grenze nehmen, ist unklar. Die sechs an diesem Freitag aufgegriffenen Migranten haben keine Dokumente. Das sei völlig normal, sagt Polizeioberkommissar Friedrich Blaschke: «Die Migranten geben heutzutage gar nicht mehr vor, ihren Ausweis verloren zu haben, sie reisen einfach ohne Papiere durch mehrere Länder hindurch.» Kreative Bürokraten Migration durch Europa, die nicht einmal mehr den Anschein macht, dass sie in halbwegs geordneten Bahnen verläuft. Versagt hat insbesondere das Dublin-Verfahren. Die allermeisten Asylbewerber schaffen es nur in die Schweiz oder nach Deutschland, nachdem sie zuvor über ein Ersteintrittsland nach Europa gekommen sind, etwa Griechenland, Italien oder – wie im Fall des Solingen-Attentäters – Bulgarien. Wurden sie dort registriert, sind diese Länder für ihr Asylverfahren zuständig. Theoretisch sollten also Deutschland und die Schweiz diese Asylbewerber in die Ersteintrittsstaaten zurückschicken können. Theoretisch. In der Praxis funktioniert es nicht. Zum einen geben die Ersteintrittsländer den Migranten schnell zu verstehen, dass sie nicht willkommen sind. Mache werden wie in Bulgarien in miserablen Unterkünften schikaniert und nur mit dem Allernötigsten versorgt. Sie sollen möglichst weiterreisen. Zum anderen tun diese Länder alles, um die Migranten nicht zurücknehmen zu müssen, wenn sie anderswo aufgegriffen werden. Ihre Kreativität, bürokratische Hindernisse aufzubauen, ist gross. Willkürlich werden Kontingente festgelegt oder Flüge so organisiert, dass nur eine bestimmte Anzahl von Personen ausgeflogen werden kann. Je länger es dauert, desto besser, denn nach sechs Monaten geht die Verantwortung für das Asylverfahren auf das neue Land über. Die Schweiz im Sandwich In Weil am Rhein ist mittlerweile gar ein unauffälliger Touristencar in die Kontrolle geraten. Deutsche Rentner! Amüsiert lassen sie nach einer Tour zum Genfersee die ganze Prozedur über sich ergehen. Dass man wieder kontrolliert, wer ins Land kommt? Richtig so! Auch wenn sie dadurch etwas Zeit verlieren. Für die Schweiz bedeutet dies, dass sie in einem Schengen-Dublin-Sandwich feststeckt. Während im Norden die Grenzen dichtgemacht werden, kommen im Süden Migranten ins Land, die eigentlich bereits in Italien einen Asylprozess durchlaufen haben. Doch Rom weigert sich inzwischen, überhaupt Dublin-Fälle zurückzunehmen. Die Folge: Seit Beginn des italienischen Stopps ist die sogenannte Überstellungsfrist für 906 Asylsuchende abgelaufen. Alleine dieses Jahr hat sich die Zahl fast verdoppelt. Die Schweiz muss all diese Asylverfahren übernehmen. Und es dürften noch mehr werden, zurzeit warten weitere 559 Personen auf ihre Rückführung nach Italien, die wohl nie stattfinden wird. Der FDP-Migrationspolitiker Damian Müller, eigentlich ein überzeugter Anhänger des freien Personenverkehrs, sagt deshalb: «Ich bin dafür, Grenzkontrollen dort temporär wiedereinzuführen, wo es Sinn ergibt, nämlich an der Grenze zu Italien.» Überholtes Asylsystem – was nun? Die neuen Grenzen, so sagt es hingegen der niederländische Soziologe Ruud Koopmans von der Humboldt-Universität in Berlin, seien nur «Pflaster, die das Symptom, aber nicht das Problem bekämpfen». Er spricht vom «Wasserbetteffekt»: Die Migranten probierten es einfach in einem anderen Land, an einem anderen Grenzübergang. Und er findet: «So geht eine der wichtigsten Errungenschaften Europas kaputt.» Er warnt schon länger davor, dass unser Asylsystem nicht mehr zur heutigen Realität passt. Es fusst auf der Genfer Flüchtlingskonvention, die nach dem Zweiten Weltkrieg verhindern sollte, dass politisch und religiös verfolgte Menschen jemals wieder an Grenzen abgewiesen und zurück in den sicheren Tod geschickt würden. Doch damals war es eine Welt der kurzen Fluchtdistanzen, man floh in die europäischen Nachbarländer. Heute erleben wir globale Ströme, die Leute kommen von weit her nach Europa. Sie haben dabei nicht nur sichere Drittländer durchquert, wo sie Schutz hätten suchen können, sondern haben auch andere Fluchtgründe als die politische Verfolgung: insbesondere Armut oder Krieg. Ersteres ist kein Asylgrund, und für Letzteres gewähren Europas Länder nur vorübergehenden Schutz – eine Entwicklung, die im Ukraine-Krieg einen neuen Höhepunkt erreichte. Für Koopmans ist der Ausweg, um die wachsenden Migrationszahlen zu stoppen, dass die europäischen Länder dem Schutzversprechen der Genfer Flüchtlingskonvention zwar nachkommen, aber nicht in Europa. Zu gross sei sonst der Anreiz für nicht Verfolgte, die Reise nach Europa anzutreten. Zu gross auch das Risiko, dass islamistische Gewalttäter durch die Maschen schlüpften. Stattdessen sollen die europäischen Länder Abkommen mit sicheren Drittstaaten abschliessen, wohin Migranten geschickt würden. Diese Drittstaaten müssten sich – gegen Bezahlung – verpflichten, faire Asylverfahren durchzuführen und Menschen nicht zurück in den Tod zu schicken. Koopmans nennt auch konkrete Staaten, mit denen dies möglich wäre: Albanien, Marokko, Tunesien, die Türkei, Georgien, Ghana, Senegal. Und er sagt: «Es gibt ein Recht auf Schutz, aber nicht auf die freie Wahl, wo man Schutz bekommt.» Im Gegenzug wirbt er dafür, dass Schutzberechtigte über humanitäre Kontingente nach Europa kommen dürfen und die Länder, die die europäischen Asylverfahren übernehmen, mit Arbeits- und Studentenvisa belohnt werden. «Es geht nicht darum, sich der humanitären Verpflichtung zu entziehen, sondern darum, die Kontrolle zurückzugewinnen.» Gerade aus humanitärer Sicht hält er das heutige System für einen Skandal: «Zu uns schaffen es insbesondere junge Männer, die hochkriminelle Schlepperbanden bezahlen. Und jedes Jahr sterben auf waghalsigen Routen Abertausende.» Dennoch sorgte sein Vorschlag bis vor kurzem bei Migrationsaktivisten für Empörung. Als die konservative Regierung in Grossbritannien mit Rwanda über ein solches Abkommen verhandelte, galt das vielen als neokoloniales Gebaren, mit dem man die eigene Verantwortung abschieben wollte. Inzwischen wächst die Zahl von politisch Verantwortlichen in Europas Hauptstädten, die mit der Idee liebäugeln. Italien hat mit Albanien ein Abkommen abgeschlossen, das in dieselbe Richtung geht, einfach etwas weniger radikal. Auf albanischem Boden sollen unter italienischer Regie Flüchtlingslager betrieben und Asylverfahren von Menschen bearbeitet werden, die von italienischen Booten im Mittelmeer aufgenommen wurden. 15 von 27 europäischen Regierungen haben die EU-Kommission gebeten, das Modell zu prüfen.