Tuesday, October 8, 2024

„Ziemlich unverzeihlich“ – Künftige Friedenspreisträgerin kritisiert Merkel

WELT „Ziemlich unverzeihlich“ – Künftige Friedenspreisträgerin kritisiert Merkel 1 Std. • 2 Minuten Lesezeit Historikerin Anne Applebaum erhält den diesjährigen Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Vorab kritisiert sie die frühere Kanzlerin Angela Merkel wegen ihres Umgangs mit Kremlchef Wladimir Putin. Die künftige Friedenspreisträgerin Anne Applebaum hat die Politik der früheren Bundesregierung unter Angela Merkel (CDU) kritisiert. Dass die damalige Bundeskanzlerin auch nach der ersten Invasion Russlands in die Ukraine im Jahr 2014 den Bau der Nord Stream 2-Pipeline fortsetzen ließ, habe Wladimir Putin das Signal gesendet: „Okay, der Westen redet zwar viel über Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, aber wir können trotzdem die Ukraine überfallen. Zu der Zeit immer noch nicht erkannt zu haben, was für ein Staat Russland ist, war ziemlich unverzeihlich“, sagte die Publizistin der Wochenzeitung „Die Zeit“. Applebaum wird am 20. Oktober in der Frankfurter Paulskirche mit dem Friedenspreis ausgezeichnet. Sie wolle ihre dortige Rede dazu nutzen, um über die Bedeutung von Frieden zu reden: „Wie stellen wir ihn her? Wann wissen wir, dass wir ihn haben? Und: Ist Frieden das Gleiche wie Pazifismus?“ und „Braucht es, um Frieden zu sichern, nicht auch eine gewisse Wachsamkeit?“ „Genau darin haben die meisten Demokratien versagt“ Die polnisch-amerikanische Historikerin kritisiert in dem „Zeit“-Interview auch, dass die EU dabei versagt habe, ihren Bürgern ein Sicherheitsgefühl zu geben. „Viele Menschen, ob im ländlichen Deutschland, Polen oder Frankreich, haben den Eindruck, dass es die Welt, in der sie aufgewachsen sind, nicht mehr gibt. Und damit haben sie nicht unrecht. Umso wichtiger wäre es, den Leuten ein Gefühl von Stabilität zu geben. Genau darin haben die meisten Demokratien versagt.“ Applebaum zählt zu den wichtigsten Analytikern autokratischer Herrschaftssysteme und gilt als Expertin der osteuropäischen Geschichte. Sie wurde 1964 als Kind jüdischer Eltern in Washington D. C. geboren. Mit Unterbrechungen lebt sie seit Jahrzehnten in Polen. Sie ist mit dem polnischen Außenminister Radoslaw Sikorski verheiratet und Mutter von zwei Söhnen. Unter anderem verfasste sie Bücher wie „Der Gulag“ (2003), „Der Eiserne Vorhang“ (2012) oder „Die Verlockung des Autoritären“ (2021). Mit ihren Werken, in denen sie den Mechanismen autoritärer Machtsicherung auf der Spur ist, erlangte sie viel Aufmerksamkeit. Bereits 2004 wurde sie mit dem renommierten Pulitzer-Preis geehrt. Zuletzt erhielt sie auch den Carl-von-Ossietzky-Preis 2024 der Stadt Oldenburg. Der Friedenspreis wird traditionell zum Abschluss der Frankfurter Buchmesse verliehen. Im vergangenen Jahr wurde der britisch-indische Schriftsteller Salman Rushdie ausgezeichnet. -------- 367.1K Follower Eine Analyse von Ulrich Reitz - Mit General Miersch triumphiert bei der SPD das alte - für viele wird das teuer Artikel von Von FOCUS-online-Korrespondent Ulrich Reitz • 1 Std. • 4 Minuten Lesezeit Matthias Miersch wird auf einer Pressekonferenz in der Parteizentrale als neuer SPD-Generalsekretär vorgestellt. Der neue SPD-Generalsekretär stellt sich vor. Und siehe da: es triumphiert das alte. Für die SPD kann das durchaus eine Chance sein – ihre letzte. Nun, da fast alle Welt schreibt oder sendet, Matthias Miersch, der „Neue“, komme vom linken Flügel seiner Partei: Das ist aus mindestens drei Gründen egal. Hier sind sie: Erstens: Den entscheidenden Satz sagt Miersch bei seiner Vorstellung in der neuen Funktion nach rund fünf Minuten. Er lautet: „Olaf Scholz kann sich zu 100 Prozent auf mich verlassen.“ Im Verhältnis zwischen dem nunmehr zweithöchsten sozialdemokratischen Parteifunktionär und dem ranghöchsten sozialdemokratischen Regierungsmitglied sind die Machtverhältnisse völlig klar: Der Generalsekretär ist keineswegs ein General, sondern vielmehr ein Sekretär. Zugegeben, dieser Kalauer ist alt, aber deshalb noch lange nicht falsch. Von jetzt an zählt nur eins: „Olaf first.“ Miersch ist schon jetzt Kanzlererklärer Zweitens: Bei Kevin Kühnert war es doch auch nicht anders: Mierschs Vorgänger wandelte sich, kaum hatte er Verantwortung fürs Ganze, schneller als der Schall vom „linken Rebellen“, der einst versuchte, Scholz zu verhindern, zum handzahm-alterten Kanzlererklärer. Das ist bei Miersch schon jetzt so, da ist er noch gar nicht offiziell im Amt. Der Grund ist nicht freiwilliger, sondern rollenkonformer Opportunismus, also: der politische Kalender. Noch ein Jahr ist es bis zur Bundestagswahl, es herrscht jetzt Wahlkampf und ergo gelten dessen Gesetze: Miersch soll SPD von CDU und Merz abgrenzen Der SPD-Generalsekretär verschmilzt mit der SPD und die mit dem Kanzler und dem SPD-Teil der Regierung. Es ist nicht die Zeit der sophistischen Diskussionen, sondern: der eingängigen Parolen. Miersch ist eine gute Wahl, wenn man einen loyalen Frontoffizier braucht Darauf versteht sich Miersch gut, das hat er gleich bei seiner Vorstellung demonstriert, man kennt es auch schon von seinen leidenschaftlich sozialdemokratischen Auftritten im Bundestag. Miersch ist eine gute Wahl, wenn man einen loyalen Frontoffizier und verlässlichen Bannerträger für die Fernseh-Talkshows braucht. Denn: Die Glotze ist mehr ein Emotions- denn ein Diskursmedium. Hier kommt es weniger darauf an, was man sagt, sondern vielmehr: wie man es sagt. Die heiße Emphase schlägt die kühle Ratio. Und: Das analoge Öffentlich-Rechtliche ist ein Medium für die Alten. Das hilft der SPD, denn alt ist sie auch. SPD ist von jetzt an Kampagnenpartei Drittens: Die SPD ist von jetzt an nicht mehr Regierungs-, sondern Kampagnenpartei. Was sie will und was sie sagt und wann und weshalb, ist völlig klar. Ebenso wie das Feindbild, das einem umso mehr hilft, je schwächer man ist. Es gibt einen Bösewicht, der kommt aus dem Sauerland, und zwar mit einem Privatflieger. Er heißt schon nicht mehr Friedrich, sondern ist schon ganz entpersonalisiert und zum Phänomen geworden. Das Phänomen ist das Anti-Sozialdemokratische an sich und heißt nicht: Friedrich Merz. Sondern: „die Merz-CDU“. Die Merz-CDU, das ist der Rückfall in die siebziger Jahre. Casinokapitalistisch, sozialausbeuterisch und in jedem Fall der Feind aller Rentner, jetzt und immerdar. An der SPD ist jetzt alles alt Das ist zwar ein wenig holzschnittartig, kann aber durchaus ankommen beim Wahlvolk. Überhaupt: Scholz und die Seinen sind chancenreicher, als man heute denkt. Zur Erinnerung: Vor knapp 20 Jahren wäre Angela Merkel auch fast an Gerhard Schröder gescheitert, weil sie freiheitlicher sein wollte als die sicherheitsverliebten Deutschen gut fanden. An der SPD ist jetzt alles alt, vor allem aber alles, was sich schon einmal bewährt hat: Die Rente ist sicher, die Löhne sollten steigen, die Arbeiter sich in Gewerkschaften organisieren, das Geld für die per se gerechten sozialdemokratischen Ideen kommt von den „Besserverdienern“ und den Vermögenden. Und für den Frieden sorgt der Kanzler von der SPD. Die SPD wandelt sich pünktlich zum Wahlkampfauftakt zum pharmazeutischen Produkt, sie wird zur Beruhigungspille. Das muss nicht schlecht sein, wenn die Zeiten wild sind und der Schlaf schlecht. Jetzt gilt bei der SPD: keine Experimente Ob da der Generalsekretär der SPD links ist oder nicht, spielt keine Rolle, solange klar ist, wer die sozialdemokratische Zeche zahlt: die Besserverdiener-Freunde von Christian Lindner und die Raffkes von der „Merz-CDU“. Es ist eine geordnete, wenn auch ein wenig kleinkarierte Welt aus Pils und Korn. Lars Klingbeil und Saskia Esken als Parteichefs, Olaf Scholz als Kanzler, Matthias Miersch als Generalsekretär, diese sozialdemokratische Truppe hält jetzt ein Jahr ein Schild hoch, auf dem steht: Keine Experimente! Es ist, by the way, auch ein Generationswechsel und man kann sagen: Er ist zeitgemäß. Miersch ist 20 Jahre älter als Kühnert, das passt zur Anhängerschaft der SPD, die sogar noch älter ist als der deutsche Durchschnitt. Im Bundestag war die SPD noch nie so jung, es gibt 49 Abgeordnete im Juso-Alter, das ist rund jeder Vierte. Aber wenn es um den Wahlkampf geht, gilt, zumal nach den Flops, die der junge Kühnert als Wahlkämpfer zu verantworten hat, etwa die vergeigte Europawahl, umso mehr: Die Jugend hat noch Zeit, die Jugend kann warten, besser, wie gesagt: keine Experimente. Die SPD und der „Kampf gegen rechts“ Das gilt nicht nur für die Sozialthemen. Sondern auch für ein Thema, das den Wählern zwar offensichtlich gleichgültig ist, den SPD-Funktionären dafür umso wichtiger erscheint: Der „Kampf gegen rechts“. Miersch leitet diese Aufgabe aus dem Umstand ab, dass er aus Wennigsen stammt, wo – was bisher niemand wusste – die SPD „vor fast 80 Jahren wieder gegründet wurde“. Nun waren allerdings die „Rechten“, also die AfD, noch nie so stark wie heute. Bei der SPD will allerdings niemand auf den Gedanken kommen, dass dies eventuell gerade und ausgerechnet auf den „Kampf gegen rechts“ zurückzuführen wäre. Dass die AfD so stark wurde, weil die vom Sozialdemokraten Scholz geführte Regierung sich aufgrund ihrer Taten so geringer Zustimmung erfreut, ist ein Gedanke, der weit entfernt ist von Matthias Miersch. Der Mann hat ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein, darin Scholz und Co. vergleichbar, Motto: Selbstkritik ist Zeitverschwendung und schadet auch nur. Mit Miersch kehrt die SPD in hoher Geschwindigkeit zur linken Orthodoxie zurück. Starker Staat, Schuldenbremse weg, Reiche stärker besteuern, dazu noch ein wenig Klimaschutz, wenn der nur sozial verträglich ist – die SPD wird wieder, was sie gerne war: Berechenbar, solide, strukturkonservativ, und: teuer. Beinahe könnte man sagen, die eigentliche Partei der Besserverdienenden, denn: von denen lebt sie.