Sunday, October 13, 2024

„Viele Bürger verknüpfen Kriminalität mit zunehmender Migration“

WELT „Viele Bürger verknüpfen Kriminalität mit zunehmender Migration“ Artikel von Philipp Woldin • 9 Std. • 4 Minuten Lesezeit Die Zahl derjenigen, die sich vor Kriminalität oder auch Terroranschlägen fürchten, steigt in Deutschland deutlich an. Das zeigt eine aktuelle Befragung. Studienleiter Robert Grimm erklärt, warum die Bürger diese Sorge besonders mit einem anderen Reizthema verbinden. Die Angst vor Kriminalität treibt die Deutschen zunehmend um. In Nachwahlbefragungen rund um die Europawahl im Sommer gab eine Mehrheit an, dass fehlendes Sicherheitsgefühl ihre Wahlentscheidung zentral mitbeinflusst habe. Bei den Landtagswahlen im Osten rangierte der Punkt Innere Sicherheit bei der Frage „Welches Thema spielt für Ihre Wahlentscheidung die größte Rolle?“ jeweils unter den drei wichtigsten Themen, in Thüringen sogar ganz vorne. Eine aktuelle Erhebung von Ipsos, einem der weltweit größten Marktforschungsinstitute, zeichnet ein ähnliches Bild. Robert Grimm, 49, ist promovierter Sozialforscher und leitet seit 2016 die Politik- und Sozialforschung bei Ipsos Deutschland. WELT: Herr Grimm, die Angst vor Kriminalität geht wieder um in Deutschland, das zeigt nicht nur Ihre Studie. Was sind für Sie die Treiber dieser Entwicklung? Robert Grimm: Das Kriminalitätsthema liegt in unseren Befragungen seit Jahren zum ersten Mal an vorderer Position. Es gibt aus unserer Sicht einen Strauß an Erklärungen. Viele Bürger verknüpfen etwa in ihrer Wahrnehmung mit Kriminalität die zunehmende Migration, die bei den Sorgen an zweiter Stelle liegt. Das ist nicht immer kausal und direkt ableitbar, aber es gibt zumindest eine Wechselwirkung der beiden Bereiche. Junge, migrantische Männer, also ein Großteil der Menschen, die aktuell nach Deutschland zuwandern, werden mit dem Kriminalitätsthema assoziiert. WELT: Die Polizeiliche Kriminalstatistik verzeichnet eine deutliche Überrepräsentation ausländischer Tatverdächtiger. Allerdings sind es nicht die Ausländer – sondern vor allem bestimmte Gruppen an Migranten, etwa aus den Maghreb-Staaten sowie Georgien und Nigeria, die polizeilich auffallen. Und bei schweren Gewalttaten und Sexualdelikten stehen besonders häufig junge Männer im Fokus, die oft noch recht frisch in Deutschland sind, ihre Identität verschleiern und sich der Integration verweigern. Grimm: Die Überrepräsentation ausländischer Tatverdächtiger ist Fakt. Richtig ist auch: Die pauschale Zuschreibung der „kriminellen Ausländer“ führt in die Irre. Aber die Wahrnehmung vieler Menschen fällt oft nicht so differenziert aus. Mit reinen Statistiken lässt sich dagegen nicht angehen. WELT: Wobei die Wahrnehmung ja auch von der Realität gedeckt ist: Die aktuellen Kriminalstatistiken zeigen in vielen Bereichen einen Anstieg. Die Gewaltkriminalität liegt auf einem 15-Jahres-Hoch, vor allem das Delikt „gefährliche und schwere Körperverletzung“ stieg stark an. Ebenso besorgniserregend ist die hohe Zahl der Tatverdächtigen unter Jugendlichen und Kindern. Grimm: Die Forschung kennt grundsätzlich das Phänomen der „Kriminalitätsfurcht“, meist überschätzen die Bürger das tatsächliche Ausmaß der Kriminalität weitaus. Aktuell haben wir aber einen starken Zuwachs, bei den absoluten Zahlen, aber auch bei einigen besonders öffentlichkeitswirksamen Phänomenen. Ich denke etwa an den Bereich der Organisierten Kriminalität. Seit einigen Monaten etwa tobt in Nordrhein-Westfalen ein Kleinkrieg rivalisierender Banden, mit Sprengstoffanschlägen inklusive. So etwas schlägt sich auch auf das Sicherheitsempfinden der Menschen nieder, gerade weil medial auch breit darüber diskutiert wird. WELT: Die deutsche Sorge vor Kriminalität liegt noch vor den Befürchtungen in Staaten wie Frankreich und England, auch deutlich vor einem Land wie den USA, das ein massives Schusswaffenproblem und deutlich mehr Tote pro Einwohner zählt. Haben wir es also mit einer speziellen German Angst zu tun? Grimm: Deutschland liegt bei der Sorge um Sicherheit auch gleichauf mit Ländern wie Kolumbien. Da sieht man schon, dass Fragen der Wahrnehmung und Bewertung eine große Rolle spielen. Wir führen unsere Befragungen schon sehr lange durch, unser Erklärungsansatz ist: Manche Länder haben sich an eine hohe Kriminalitätsbelastung gewissermaßen „gewöhnt“ und andere, aktuellere Sorgen drängen nach vorne – etwa wirtschaftliche Probleme oder eine lange Zeit galoppierende Inflation wie in den USA. Es ist immer eine Frage der Priorisierung. Die Kriminalität in Deutschland war lange Jahre rückläufig, nun gibt es einen Gewaltanstieg – der sich massiv in der Wahrnehmung der Menschen niederschlägt. WELT: Sie sprechen von Wahrnehmung – welche Rolle messen Sie den sozialen Medien bei? Videoschnipsel massiver Gewalttaten und Anschlägen werden heute in Echtzeit geteilt. Grimm: Ja, die Bilder prasseln ziemlich ungefiltert auf uns ein. Wir leben heute auch in einer Gesellschaft, in der Konflikt und auch Gewalt zunehmend zelebriert wird. Auf Tik-Tok etwa machen Gewaltvideos die Runde, das hat auch etwas mit einer Jugendkultur und Lifestyle zu tun. Das kann in der Mehrheitsgesellschaft zu Unverständnis bis hin zu echter Sorge führen. WELT: Stark zugenommen hat auch die Sorge vor Terrorismus und Extremismus, die aktuell jeden fünften Bundesbürger, also jeweils 20 Prozent, stark bewegt. Was für eine Rolle spielen brutale, öffentlichkeitswirksame Taten für das Empfinden? Grimm: In diesem Jahr gab es mehrere islamistische Anschläge, etwa in Mannheim und Solingen, die spielen in der Wahrnehmung sicherlich eine Rolle. Dazu kam eine breite Berichterstattung über politische Gewalt, über Angriffe auf Politiker, besonders auf Vertreter der Grünen, aber auch der AfD. Es ist eine ungute Mischung an Vorfällen und eine intensive Berichterstattung, die sich hier niederschlägt. Die Ergebnisse der Befragung stammen aus der Ipsos Global Advisor-Studie »What Worries the World«. Das Institut interviewte mit einer Online-Umfrage 24.720 Personen aus 29 Ländern. In Deutschland wurden etwa 1.000 Personen befragt. Die Umfrage fand zwischen dem 23. August und dem 06. September 2024 statt. Korrespondent Philipp Woldin kümmert sich bei WELT vor allem um Themen der inneren Sicherheit und berichtet aus den Gerichtssälen der Republik.