Wednesday, October 2, 2024
Krieg in Nahost: Angriff auf Irans Atomanlagen? Welche Szenarien jetzt möglich sind
Handelsblatt
Krieg in Nahost: Angriff auf Irans Atomanlagen? Welche Szenarien jetzt möglich sind
Artikel von Heide, Dana Rogg, Inga • 1 Std. • 3 Minuten Lesezeit
Atomkraftwerk in Buschehr: Angriffe auf Irans Atomanlagen würden eine massive Eskalation bedeuten.
Rechte Kreise in Israel drängen nach dem Raketenbeschuss auf eine riskante Antwort. Sie fordern die Regierung von Benjamin Netanjahu auf, iranische Nuklear- und Öl-Anlagen zu zerstören.
Am Tag nach dem Angriff des Irans wächst die Angst vor einer Ausweitung des Konflikts. Iran riskiere, mit den Raketenangriffen auf Israel „die ganze Region in Brand zu setzen“, warnte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Mittwoch. „Das gilt es unter allen Umständen zu verhindern.“
Frankreich verstärkte als Zeichen der Unterstützung für Israel seine militärische Präsenz im Nahen Osten. US-Verteidigungsminister Lloyd Austin bekräftigte die Entschlossenheit der Vereinigten Staaten, Israel gegen die „iranische Aggression“ zu verteidigen.
In der Nacht zum Mittwoch hatten die Luftstreitkräfte der iranischen Revolutionsgarden Israel bereits zum zweiten Mal in diesem Jahr direkt angegriffen. Rund 200 Raketen zielten auf Luftwaffenstützpunkte und das Hauptquartier des Geheimdienstes Mossad. Nach israelischen Angaben wurde der Angriff größtenteils abgewehrt.
Der iranische Schlag scheine „eine Art Kompromiss“ zu sein, sagt Frederick Kempe, Präsident des Atlantic Council. „Ein Angriff, der ausreicht, um die Hardliner zu besänftigen und der iranischen Führung Zeit zu verschaffen, ohne einen größeren Krieg mit Israel oder – noch schlimmer – mit den Vereinigten Staaten auszulösen“, so Kempe.
„Es sieht so aus, als gäbe es so gut wie keine Opfer bei den iranischen Angriffen auf Israel, die den Amerikanern deutlich im Voraus angekündigt wurden“, schrieb Ian Bremmer, amerikanischer Politikwissenschaftler und Präsident der Beratungsfirma Eurasia Group. „Der Iran hofft, ein Mindestmaß an Abschreckung wiederherzustellen und gleichzeitig eine Eskalation zu vermeiden.“
Irans Außenminister Abbas Araghchi hatte unmittelbar nach dem Raketenangriff auf Israel mit europäischen Kollegen telefoniert, darunter auch mit Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne). Die Raketenoperation sei nun abgeschlossen, sagte Araghchi laut der iranischen Nachrichtenagentur Irna. „Aber sollte das zionistische Regime (Israel) Vergeltungsmaßnahmen ergreifen, wird unsere Antwort noch härter ausfallen.“ Die Islamische Republik Iran strebe keine Eskalation an, fürchte aber auch keinen Krieg, so Araghchi.
Die nächsten Tage werden nach Einschätzung von Experten nun entscheidend sein – insbesondere, wie die Reaktion der USA und Israel ausfallen werden.
Die israelische Regierung drohte bereits eine Gegenreaktion an. „Der Iran hat heute Abend einen großen Fehler gemacht – und er wird dafür bezahlen“, sagte Regierungschef Benjamin Netanjahu nach Angaben seines Büros. Wann ein Vergeltungsschlag auf den Iran erfolgen könnte, blieb zunächst offen.
Die „New York Times“ berichtete unter Berufung auf US-Beamte, in einem möglichen Szenario könnte Israel die iranischen Nuklearanlagen angreifen.
Experte sieht nun zwei Szenarien
In Israel drängten rechte Kommentatoren darauf, iranische Öl- oder sogar Nukleareinrichtungen ins Visier zu nehmen. Der Iran stelle sich womöglich auf einen begrenzten Abnützungskrieg mit Israel ein, schrieb der israelische Iran-Experte Raz Zimmt vom Thinktank „Institute for National Security Studies“.
Es gebe zwei riskante Szenarien: „Ein israelischer Angriff auf Irans Atomanlagen, der Teheran die Legitimation verschaffen würde, die atomare Bewaffnung voranzutreiben, oder ein israelischer Angriff auf kritische Infrastruktur, insbesondere die Ölanlagen.“ Das könne eine harsche Reaktion provozieren und den internationalen Druck auf Israel erhöhen, betont Zimmt.
Auch Michael Oren, ehemaliger israelischer Botschafter in den USA, schloss im Gespräch mit dem TV-Sender CNN nicht aus, dass Israel die Nuklearanlagen des Irans bombardieren könnte. Auch iranische Ölanlagen im Persischen Golf könnten Ziele israelischer Angriffe sein, so Oren. „Es gibt eine ganze Reihe von Möglichkeiten, wie Israel nun reagieren kann, und ich denke, dass Israel sehr entschlossen reagieren muss.“ Die große Frage sei: Was wird die amerikanische Position sein?
Indes forderte selbst das rechte Massenblatt „Israel Hayom“, die Regierung müsse einen kühlen Kopf bewahren. „Israel muss abwägen, wie weit es den offenen Krieg mit Iran nun eskalieren will“, kommentierte das Blatt. Zwar lägen alle Optionen auf dem Tisch, einschließlich eines Angriffs auf die iranischen Atomanlagen. „Aber Israel muss die Möglichkeit eines umfassenderen regionalen Konflikts in Erwägung ziehen.“ Darüber hinaus müsse es bedenken, welche Folgen eine weitere Eskalation auf die Fronten in den Kriegen im Libanon und Gaza haben könnte, so der Kommentator.
Es wäre kurzsichtig, diesen Moment nicht als „Chance“ zu sehen, die es im Kampf gegen die regionalen Ambitionen des Irans und seiner Stellvertreter zu nutzen gelte, betonte Atlantic-Council-Präsident Kempe.
Was den Einsatz noch erhöhe, sei der globale Kontext, in dem der Iran zunehmend gemeinsam mit Russland, China und Nordkorea agiere. „Gemeinsam versuchen sie, die globale Ordnung zu untergraben, die die Vereinigten Staaten und ihre Partner nach dem Zweiten Weltkrieg so mühsam aufgebaut haben“, warnte Kempe. Irans neue Lieferungen von ballistischen Kurzstreckenraketen und die laufende Lieferung von bewaffneten Drohnen an Russland für dessen Krieg gegen die Ukraine zeigten, was auf dem Spiel stehe.