Saturday, October 26, 2024

Der unbekannte Gigant der deutschen Popmusik: Hans-Joachim Roedelius zum 90.

Frankfurter Allgemeine Zeitung Der unbekannte Gigant der deutschen Popmusik: Hans-Joachim Roedelius zum 90. Artikel von Philipp Krohn • 16 Std. • 2 Minuten Lesezeit Er wird von vielen deutlich populäreren Musikern verehrt: Hans-Joachim Roedelius Hans-Joachim Roedelius ist der unbekannte Gigant der deutschen Popmusik. Nicht gemessen an den verkauften Schallplatten, sondern an der Wirkung, die er auf die elektronische Musik hatte. Er kollaborierte mit einem Pionier wie Brian Eno, der sich ihn wiederum als Vorbild nahm, und einem Rocker wie Lloyd Cole. Die Red Hot Chili Peppers beriefen sich auf ihn, David Bowie und die Einstürzenden Neubauten hörten ihm genau zu, und wer seit den neunziger Jahren moderne Ambient- und Elektromusiker wie Autechre, Four Tet, The Orb oder Mouse on Mars rezipiert, wird da auch immer ein bisschen von seinen Bands Cluster und Harmonia spüren. Dabei war Roedelius der unwahrscheinlichste aller Krautrocker. 1934 einige Jahre vor seinen Mitstreitern geboren, hatte er schon eine wahnwitzige deutsch-deutsche Geschichte aus drei Regimen hinter sich, als er sich 1967 in West-Berlin entschied, dauerhaft von der Heil- zur Tonkunst zu wechseln. Sein Vater war Zahnarzt und kam darüber vor dem Krieg von Berlin in die Lausitz. Der Kinderstar in UFA-Filmen hatte zwar schon erste Auftritte, aber Hitlers Jungvolk noch vor sich. Flucht und Experiment Nachdem er in der DDR zum Pfleger und Physiotherapeuten ausgebildet wurde, stellte er sich gegen den Staat und den Einzug in die NVA. Er wurde inhaftiert, statt ein Medizinstudium zu beginnen. Er wurde zu Kriminellen ins Gefängnis gesteckt und musste zwangsarbeiten. Trotzdem ging er nach der Entlassung noch einige Jahre seinem Beruf nach, bevor ihn eine Aufforderung, bei der Stasi zu erscheinen, zur fluchtartigen und endgültigen Ausreise nach West-Berlin bewegte. Weil sein Examen dort nichts galt, landete er 1967 im Umfeld einer Künstlerszene, die das Zodiak Free Arts Lab in Kreuzberg gründete. Mit dem Experimentalmusiker Konrad Schnitzler und Dieter Moebius gründete er Kluster (ohne Schnitzler firmierte er mit Moebius bis 1979 als Cluster, ohne ihn später als Qluster). Nach fünf Alben zwischen Industrie- und Alltagsgeräuschen, Sinus- und Cosinuswellen ist auf „Zuckerzeit“ von 1974 das erste Mal so etwas wie eine Melodie zu hören. Unterschätzte Spacerock-Formation Das amerikanische Musikportal Allmusic hält Cluster für die wichtigste und am beständigsten unterschätzte Spacerock-Formation der Siebzigerjahre. Nach drogenreichen Jahren in der aufregenden Elektronikszene und dem Umzug aus Berlin kommen sie im niedersächsischen Forst zur Ruhe, starten mit Kraftwerk- und Neu!-Gitarrist Michael Rother das Projekt Harmonia, das international ausstrahlt und auf zwei Alben und einer später veröffentlichten Liveaufnahme Meilensteine des Krautrock schafft. Sein Paradies auf Erden verlässt Roedelius allerdings in Richtung der niederösterreichischen Heimat seiner Frau, als in der Nähe eines Atomkraftwerks immer mehr Leukämiefälle auftauchen. Seine drei Kinder wachsen nahe Baden bei Wien auf. Roedelius kuratiert dort ein avantgardistisches Festival. Die Zusammenarbeit mit Moebius endet mit dem Umzug für eine Weile, Roedelius findet in Österreich großzügige Unterstützer und legt in den achtziger Jahren ein reichhaltiges Ambient-Werk vor – etwas klavierlastiger als zuvor. Der Autodidakt bleibt bis heute aktiv, kooperiert mit Künstlern von Tim Story über Stefan Schneider (To Rococco Rot) bis Cole. Seine zahllosen Alben in diversen Konstellationen stechen heraus und klingen immer nach Roedelius: zart, naturverbunden, impressionistisch. Nun kann er seinen neunzigsten Geburtstag feiern.