Wednesday, May 3, 2023

Artikel von Von FOCUS-online-Korrespondent Ulrich Reitz (Düsseldorf) • Gestern um 14:22

Artikel von Von FOCUS-online-Korrespondent Ulrich Reitz (Düsseldorf) • Gestern um 14:22 Boris Palmers Selbst-Rauswurf bei den Grünen ist gleich doppelt tragisch – für die Grünen und für ihn selbst. Schade, dass niemand seine Warnung vor einer falschen Migrationspolitik hörte. Das ist schon im privaten Bereich verpönt, und daher gehört es sich schon gar nicht für einen Politiker, der damit jene in Verruf bringt, die ihn in voller Überzeugung als Anti-Establishment-Grünen in Tübingen zum Oberbürgermeister gewählt haben. Die baden-württembergische Gemeindeverfassung gibt einem Stadtoberhaupt eine im Vergleich mit Rest-Deutschland ganz und gar einmalige Macht. Man tut gut daran, damit vorsichtig umzugehen. Und sich dieses Privileg nicht zu Kopf steigen zu lassen. Boris Palmer ist seine eigene Hybris zum Verhängnis geworden. Man kennt derlei auch aus vielen Machtverhältnissen, aus dem Showbusiness (Megan und Harry) oder aus dem Sport (Boris Becker, Tiger Woods): Es ist das Gefühl, sich alles erlauben zu können. Daraus erwächst eine große Versuchung, und wenn dann jemand wie Palmer obendrauf auch noch sein Rebellentum zur gesellschaftsnützlichen DNA verklärt, entsteht Tragik. Und der Fall Palmer, der Fall Palmers, ist ein doppelt tragischer. Palmers unideologische Sicht auf die Migrationsfrage wird auch den Grünen noch fehlen Und zwar, weil sich eine Stimme, die im Diskurs über gesellschaftspolitische Streitfragen eine Bereicherung ist, sich selbst aus dem Spiel genommen hat. Palmer hat sich, ganz wie der selbstgerechte Michael Kohlhaas des deutschen Dichters Heinrich von Kleist, gerechtigkeitstrunken verbissen ins Falsche und sich so am Ende selbst ins Unrecht gesetzt. Der zweite Teil der Tragik besteht darin, dass alle Welt über die diskriminierende Bezeichnung für Schwarze durch Palmer debattiert, nicht aber über seine aus kommunaler Erfahrung vor Ort abgeleiteten Thesen zu unkontrollierter Einwanderung und fehlschlagender Integration. Diese unverstellte, unideologische Sicht auf die Migrationsfrage wird auch den Grünen noch fehlen. Nun sind sie wieder fast ganz unter sich mit ihrer Meinung, ein jeder habe das Recht, sich seinen Wohnort selbst auszusuchen. Weil im Zusammenhang mit dem Sprachgendern viel diskutiert wird über eine angemessene Sprache und Wortwahl: Die diskriminierende Bezeichnung für schwarze Menschen, die Palmer immer noch benutzen mag, hat sich aus der deutsche Sprache herausgewachsen. Es mag ein halbes Jahrhundert gedauert haben, aber die Sache ist klar: Das Wort ist weg. Und dort, wo es noch lebt, wird es schon sehr schummrig. Heute muss es schon „Rassismus“ heißen und es sind „Nazis“ am Werk Nun läuft ein anderer, ein manipulativer Versuch, Sprache zu ideologisieren. Für den wollte Palmer den Kronzeugen abgeben und kann das nun nicht mehr. Es ist die Hyper-Inflation des Wortes „Nazi“ durch junge Menschen, die politisch korrekt sein wollen und politisch ungebildet sind. Wer hinter jeder einwanderungskritischen Stellungnahme „Rassismus“ wittert, verharmlost diese menschenfeindliche Ideologie. Und wer permanent „Nazis raus“ ruft, verkleinert das Menschheitsverbrechen des Nationalsozialismus. Wird das, der angemessene Umgang mit dem schrecklichen historischen Erbe, eigentlich an deutschen Universitäten nicht mehr gelehrt? Über die Jahre hat sprachpolitisch ein Wettlauf der Ereiferung stattgefunden. Früher, vor etwa 20 Jahren, reichte es noch aus, von „Ausländerfeindlichkeit“ und „Diskriminierung“ zu reden. Heute muss es schon „Rassismus“ heißen und es sind „Nazis“ am Werk. Was kommt morgen? Boris Palmer sind über die Lust an der Provokation, kombiniert mit einem gnadenlosen Gerechtigkeitsempfinden, die Grenzen aus dem Blick geraten. Ganz wie schon seinem Vater, dem „Rebellen aus dem Remstal“. Ohne die Biografie von Helmut lässt sich Boris Palmer nur unzureichend verstehen, der Sohn selbst führt den Vater als Referenz für sein bisweilen unkontrolliertes Verhalten an. Den Grünen bleibt fortan also erspart, sich über ihren Rebellen aufregen zu müssen Helmut Palmer, 1930 geboren als unehelicher Sohn eines jüdischen Vaters, bekämpfte die biedere schwäbische Beamtenschaft bis an sein Lebensende. Weil er glaubte, im Recht zu sein, akzeptierte er nur die eigenen Regeln – und ging dafür insgesamt mehr als 400 Tage ins Gefängnis. Helmut Palmer war oft mit Feuereifer unterwegs, sein Motto, es stand auch über dem Eingang seines Hauses, lautete: „Ich weiche Niemandem.“ Dem Buch, das der gelernte Obstbauer und Selfmade-Politiker 1979 schrieb, gab er den Titel: „Mein Kampf und Widerstand“. Oft wurde er in seinem Leben Opfer antisemitischer Anfeindungen, oft genug von jener Sorte Mensch, die im Nachkriegsdeutschland „Wendehälse“ hießen, weil diese Ex-Nazis behaupteten, nun lupenreine bundesrepublikanische Demokraten zu sein. Daher rührt Boris Palmers Empfindlichkeit, wenn man ihm, wie dieser Jung-Mob in Frankfurt, vorhält, ein „Nazi“ zu sein. Sein Vater war ein Nazi-Opfer, dass der Sohn diese Verhöhnungen unerträglich findet, lässt sich nachvollziehen. Mit seinem Wort von dem „Judenstern“, dass er den Protestlern in Frankfurt entgegenschleuderte, wollte er mit gleicher Münze zurückzahlen. Und daraus wurde dann der eine Fehler zu viel. Palmer selbst hat seinen Fehler eingesehen. Palmer ist nun noch der erfolgreiche und überaus ökologische Klima-Oberbürgermeister einer traditionsreichen bürgerlichen Studentenstadt. Eine Weile wird er nun Probleme haben, sich über Tübingen hinaus zu äußern. Den Grünen bleibt fortan also erspart, sich über ihren Rebellen aufregen zu müssen. Es wird ihnen nicht guttun.