Monday, August 21, 2023
„In der Wirtschaftskraft sind wir zurückgefallen, bei den Sozialsystemen hochattraktiv“
WELT
„In der Wirtschaftskraft sind wir zurückgefallen, bei den Sozialsystemen hochattraktiv“
Artikel von Claudia Kade •
14 Std.
Die Union fordert einen Konjunktur-Krisengipfel und ruft Kanzler Scholz auf, den Koalitionsvertrag über Bord zu werfen. Denn Deutschland verliere gerade den Anschluss in Europa. Doch in der Ampel streiten FDP und Grüne weiter. Auch die Linke sieht eine Abkehr vom Leistungsgedanken in der Republik.
Angesichts der deutschen Wirtschaftsschwäche verlangt die Union einen grundlegenden Kurswechsel von Kanzler Olaf Scholz (SPD). „Der Bundeskanzler muss zum Krisengipfel mit allen Kabinettsmitgliedern und der Wirtschaft ins Kanzleramt einladen“, sagte Julia Klöckner, wirtschaftspolitische Sprecherin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, WELT. Klug wäre es, dabei die Opposition einzubinden, weil es nicht um einzelne Stellschrauben gehe, sondern um ein Gesamtpaket. „Bestenfalls würde der Koalitionsvertrag angesichts der Haushalts- und Wirtschaftslage neu verhandelt, um die Prioritäten neu zu ordnen und um nicht länger Zeit zu verlieren beim gegenseitigen Blockieren im Bundeskabinett.“
Deutschland stehe so schlecht da wie schon sehr lange nicht mehr und verliere „in Europa und weltweit gerade den Anschluss“, kritisierte die CDU-Politikerin. „Insolvenzen steigen, der Investitionsabfluss ist so hoch wie nie, Betriebsverlagerungen ins Ausland sind auf einem Hochstand, Inflationsdruck und Konsumzurückhaltung sind gekommen, um zu bleiben“, so Klöckner. „Im Wettbewerb und in der Wirtschaftskraft sind wir zurückgefallen, bei den Sozialsystemen ist unser Land hingegen hochattraktiv.“
Dennoch beschäftige sich die Regierung vor allem mit der Erfüllung der Klientelwünsche von Gewerkschaften bis Nichtregierungsorganisationen: „Weniger arbeiten, weniger Wettbewerb, weniger Anstrengung – dafür mehr Geld, mehr Freizeit, mehr Wohlstand.“ Das werde nicht mehr lange gut gehen. Leistung und Anstrengung seien weder unmenschlich noch Kapitalistenkälte, sondern die Voraussetzung, um eine Gesellschaft sozial ausgewogen und auf einem Wohlstandsniveau halten zu können.
SPD warnt vor Schnellschüssen
SPD-Fraktionsvize Verena Hubertz warnte hingegen vor Schnellschüssen und plädierte für langfristige Investitionen in Zukunftsindustrien, steuerliche Anreize zur Investition, weniger Bürokratie, mehr Fachkräfte aus dem In- und Ausland und einen zeitlich begrenzten staatlich subventionierten Industriestrompreis, einen sogenannten Brückenstrompreis.
Hubertz stützte die Kritik von Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD), der die Republik in der WELT AM SONNTAG als „schlicht überreguliert“ bezeichnet hatte. „Als Unternehmerin und Gründerin habe ich selbst erlebt, wie langsam und bürokratisch es in unserem Land läuft“, so Hubertz. Das Thema sei erkannt und auch Chefsache. „Kanzler Olaf Scholz geht mit den Ländern den Dschungel an Vorschriften an, und es muss alles auf den Prüfstand, was zu Beschleunigung und Vereinfachung führt.“ Ein wichtiger Schritt für mehr Gründergeist im Land sei, dass wir die Koalition mit der Startup-Strategie ein bürokratiearmes erstes Jahr einführen wolle.
Auch Grünen-Fraktionschefin Katharina Dröge sprach sich für einen Industriestrompreis aus, den Scholz bislang ablehnt – sowie für „Impulse für die Bauwirtschaft“. Reformen zur Bekämpfung des Fachkräftemangels und zum Ausbau erneuerbarer Energien sei die Ampel angegangen. Planungsbeschleunigung und Bürokratieabbau seien wichtige Projekte. „Aber wir brauchen eine Politik, die stärker auf Impulse für Zukunftsinvestitionen setzt. Denn hier drohen wir zurückzufallen.“
„Wirtschaftliche Lage zu ernst für solche Störmanöver“
FDP-Fraktionschef Christian Dürr verwies auf das geplante Wachstumschancengesetz von Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP). „Dass Bundesfamilienministerin Lisa Paus dieses dringend nötige Entlastungspaket aus parteitaktischen Gründen blockiert, ist ein Fehler. Die wirtschaftliche Lage unseres Landes ist zu ernst für solche Störmanöver.“ Paus hatte am vergangenen Mittwoch das Gesetz blockiert, weil sie mehr Geld von Lindner für ihr Vorhaben einer Kindergrundsicherung verlangt.
„Die Voraussetzung aller Sozialausgaben ist eine starke Wirtschaft“, sagte Dürr WELT. „Deshalb muss doch gelten: Erst den Wohlstand erwirtschaften, bevor es um Sozialleistungen und gerechte Verteilung geht. Außerdem müssen wir mehr Arbeitsanreize setzen, anstatt diese mit höheren Sozialleistungen zu mindern.“ Die Steuerbelastung für Unternehmen müsse ebenso verringert werden wie die Bürokratiebelastung. „Das ist das Gebot der Stunde.“ Das Wachstumschancengesetz sei ein Auftakt dafür.
Der AfD-Wirtschaftspolitiker Leif-Erik Holm kritisierte, Deutschland sei in vielen Bereichen „von der einstigen Tabellenspitze in den Keller gerauscht“. Hinzu komme eine politisch gewollte Umverteilung, die den Leistungsgedanken untergrabe und bekämpfe und damit bereits bei den Kindern anfange: „Schule ohne Noten, Abschaffung der Bundesjugendspiele und das ständige Senken der Standards sind fatal und setzen die völlig falschen Signale“, sagte Holm WELT. „Wir müssen endlich wieder zurück zu den Tugenden und Werten, die unser Land einmal weltspitze gemacht haben. Fleiß, Disziplin, Ehrgeiz.“
Zudem brauche Deutschland eine Rückkehr zur Kernkraft, niedrige Energiesteuern, eine Modernisierung der Infrastruktur und der Ausbau der Digitalisierung. „Und wir müssen in Bildung und Forschung wieder auf internationales Spitzenniveau gelangen.“
Auch Linke-Fraktionschef Dietmar Bartsch sieht eine Abkehr vom Leistungsgedanken, allerdings unter einem anderen Aspekt: „Leistungslos werden riesige Vermögen vererbt, andere arbeiten hart ein Leben lang und landen in Altersarmut. Wir haben ein gewaltiges Problem in Deutschland mit der Definition von Leistung“, sagte Bartsch. „Multimillionäre schreiben ihr Vermögen ihrer eigenen Leistung zu. Was sagen die der Krankenpflegerin oder der Kita-Erzieherin?“