Friday, October 11, 2024
Drug-Checking in Berlin: Ganz nah dran am Konsum
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Drug-Checking in Berlin: Ganz nah dran am Konsum
Artikel von Jannik Müller. Berlin/Innsbruck • 3 Std. • 9 Minuten Lesezeit
Levamisol ist ein Arzneistoff aus der Tiermedizin. Es hat sich bei Pferden, Schafen und anderen Paarhufern als Mittel gegen Darmparasiten bewährt. Beim Menschen führt der Wirkstoff unter anderem zu Erbrechen und Durchfall. Trotzdem wird er an jedem Wochenende wohl von Tausenden unfreiwillig konsumiert. Denn das Wurmmittel ist eines der am häufigsten verwendeten Streckmittel für Kokain.
In Berlin kennt man das Problem. „Solche Verunreinigungen sieht man weltweit“, sagt Tibor Harrach. So auch in der deutschen Hauptstadt. Er sitzt in seinem Büro in Kreuzberg, zwischen Spree und Kottbusser Tor. Ein früher Dienstagnachmittag, in ein paar Stunden öffnet die Drogenberatungsstelle „Vista“ ihre Türen zur Sprechstunde. Dann bekommt Harrach wieder neue Proben: Ecstasy, Kokain, Ketamin, Mephedron – ein Strauß, so bunt wie das Berliner Partyleben. „Wir nehmen erst mal alles an synthetischen Substanzen an“, sagt der 59 Jahre alte Pharmazeut. Harrach leitet das erste stationäre Drug-Checking-Angebot in Deutschland. Einmal pro Woche können Konsumenten ihr Rauschgift vorbeibringen, um es auf Verunreinigungen und Wirkstoffgehalt testen zu lassen. Das geht in Berlin anonym. Und es ist legal. Die Nachfrage ist groß. „Wir müssen die Hälfte der Leute, die vor der Tür stehen, wieder abweisen, weil uns die Kapazitäten fehlen.“
Getestet werden die Proben im Landesinstitut für Soziale und Gerichtliche Medizin in Berlin. „Die sagen sich: Besser, wir untersuchen die Substanzen vorher, als später die Drogentoten bei uns zu haben“, sagt Harrach. Das Ergebnis bekommt der Konsument am Freitag, pünktlich zum Wochenende, persönlich oder am Telefon. Bei dem Gespräch gehe es auch darum zu klären, wie die Substanz möglichst risikoarm konsumiert werden kann. Oft raten Harrach und seine Kollegen davon ab, das Rauschgift zu nehmen. Im vergangenen Jahr seien 45 Prozent der abgegebenen Proben auffällig gewesen, sagt der Pharmazeut – also entweder verunreinigt, hoch dosiert oder falsch deklariert. Jedes Mal, wenn das passiert, veröffentlicht die Beratungsstelle auf ihrer Internetseite einen Warnhinweis samt Foto der Probe. „In diesem Jahr sind wir schon bei 55 Prozent“, sagt Harrach. Vor allem hoch dosierte Ecstasy-Tabletten fänden sie häufig. Die bunten Pillen, die auf der Internetseite zu sehen sind, sind benannt nach ihren Prägungen. Sie heißen „Netflix“, „Lego“ oder „Prada“. Auch vor dem „Blue Punisher“ wird gewarnt, eine kleine blaue Pille mit Totenkopfprägung.
Nur wenige Tage nachdem im Sommer des vergangenen Jahres in Mecklenburg-Vorpommern eine 13-Jährige an einer womöglich hoch dosierten „Blue Punisher“-Pille stirbt, beschließt der Bundestag das sogenannte Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz. Es soll Lieferengpässe – unter anderem bei Kinderarzneimitteln – verhindern. Angehängt wird aber auch eine Änderung des Betäubungsmittelgesetzes, dort wird der neue Paragraph 10b geschaffen: Bundesländern ist es fortan möglich, Rechtsverordnungen zu erlassen, die Drug-Checking-Modellprojekte wie in Berlin ermöglichen.
Für den Sucht- und Drogenbeauftragten der Bundesregierung, Burkhard Blienert (SPD), war die Reform überfällig: „Mit der Erlaubnis für die Länder, Rechtsverordnungen zu erlassen, sind wir in der Drogenpolitik einen wichtigen Schritt weitergekommen: weg von der Ideologie, dass Drogenkonsumierende selbst schuld seien, hin zu mehr Schutz und mehr Hilfe“, sagt er der F.A.Z. Die jüngsten Daten des epidemiologischen Suchtsurveys vom Institut für Therapieforschung stammen aus dem Jahr 2021. Knapp vier Prozent aller Erwachsenen hatten der Umfrage zufolge in den zwölf Monaten zuvor illegale Drogen konsumiert, Cannabis ausgenommen. Der Konsum von Substanzen wie Kokain, Speed oder MDMA ist im Vergleich zu vorigen Erhebungen leicht gestiegen. 2227 Drogentote gab es in Deutschland im vergangenen Jahr, so viele wie nie zuvor.
Mit Drug-Checking war lange die Sorge verbunden, dass es Konsumierenden ein falsches Sicherheitsgefühl vermittle, den Rauschgiftkonsum damit gar fördere. Blienert sagt: „Es geht nicht darum, jemanden einen Freifahrschein für sicheren Drogenkonsum zu geben.“ Vielmehr sende Drug-Checking das Signal: „Achtung, dass was ihr da schlucken wollt, enthält ganz andere Substanzen, als ihr denkt. Seid vorsichtig, oder lasst es besser bleiben.“ Eine Studie aus der Schweiz kam zu dem Ergebnis, dass unter Konsumenten, die Drug-Checking in Anspruch nehmen, das Risikobewusstsein steigt und der Rauschgiftkonsum zurückgeht.
Deutschland ist beim Drug-Checking hintendran
Beim Drug-Checking ist Deutschland hintendran. Nicht nur in der Schweiz, auch in Spanien, Portugal oder England gibt es seit vielen Jahren entsprechende Angebote. Auch in Österreich ist Drug-Checking inzwischen etabliert. Dort wurde ein kleines Projekt in Tirol schon vor Jahren zum Vorbild für Deutschland ausgemacht.
Gerhard Jäger kann sich noch gut an den Besuch aus Berlin erinnern. Er sitzt in einem Besprechungsraum der Drogenarbeit Z6 in Innsbruck, nur ein paar Hundert Meter abseits der von Touristen durchkämmten Altstadtgassen. Vor fünf Jahren kam hier die damalige Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Daniela Ludwig, vorbei. „Sie war sehr offen und hat sich genau erklären lassen, wie das Drug-Checking abläuft“, sagt Jäger.
Nach ihrem Besuch sagte Ludwig, sie sei Drug-Checking gegenüber skeptisch gewesen – und habe sich eines Besseren belehren lassen. „In Innsbruck habe ich gesehen, dass gut gemachtes Drug-Checking Konsumenten erreichen kann, die sonst nie Hilfe oder Beratung in Anspruch nehmen würden.“ Wenn es in Deutschland umgesetzt würde, dann so wie beim Z6.
Jäger, 58 Jahre alt, ist Geschäftsführer der ursprünglich als Jugendverein gegründeten Drogenberatungsstelle. In den vergangenen 40 Jahren hat sie sich zu einem Vorzeigeprojekt in der akzeptierenden Drogenarbeit entwickelt. „Wir gehen davon aus: Wenn jemand beschlossen hat, zu konsumieren, dann wird er das auch tun“, sagt Jäger. Und die einzige Möglichkeit, im illegalen Bereich überhaupt zu wissen, was man konsumiert, sei Drug-Checking.
Reflexion mit dem Suchtdreieick
Auf einem Flipchart im Besprechungsraum ist ein Dreieck aufgemalt: „Drug“, „Set“ und „Setting“ steht jeweils in einer Ecke geschrieben. Manchmal, sagt Jäger, ließen Konsumenten ihre Drogen testen, weil sie einen schlechten Trip hatten. Sie seien dann überzeugt, dass es an der Droge lag. Nicht immer bestätigt sich das. „Dann können wir super mit dem Suchtdreieck arbeiten“, sagt er. Mit der Substanzanalyse sei es meist nicht getan. „Oft ist es so, dass das als Reflexionsrahmen fungiert.“ Die meisten kämen über das Drug-Checking zum ersten Mal in Kontakt mit einer Suchtberatung. Viele schauten danach regelmäßig vorbei. Nicht bloß zum Testen, sondern zum Reden.
Seit mittlerweile zehn Jahren ist Drug-Checking ein fester Bestandteil der Drogenberatung beim Z6. Es ist eines von mittlerweile vier Drug-Checking-Projekten in Österreich. Das Sozialministerium in Wien fördert die Angebote. Deren Erfolg werde als sehr positiv bewertet, heißt es aus dem Ministerium. Die Kosten für die in Innsbruck durchgeführten Tests übernimmt das Land Tirol. Eine Probe zu untersuchen kostet etwa 100 Euro, knapp 600 Proben waren es im vergangenen Jahr.
„Wir mussten jahrelang Vorarbeit leisten, bis wir das finanziert bekommen haben“, sagt Jäger. Ein wissenschaftliches Kooperationsprojekt der Suchthilfe Wien und der Medizinischen Universität Wien führte damals zwar schon seit mehr als zehn Jahren mobile Drogenchecks auf Festivals und in Clubs durch. „Aber wir sind kein wissenschaftliches Projekt, wir wollten ein Angebot schaffen.“ Der Verein gab ein Rechtsgutachten in Auftrag, nach dem Drug-Checking konform mit dem österreichischen Suchtmittelgesetz ist. „Ausschlaggebend war dann, dass plötzlich MDPV in Innsbruck auftauchte“, sagt Jäger. Die Abkürzung steht für Methylendioxypyrovaleron, besser bekannt unter Namen wie „Cloud 9“ oder „Zombiedroge“. „Die Konsumenten haben unfassbar schnell abgebaut, und damals wusste noch keiner, was es war.“ Überprüft werden konnte das in Innsbruck nur an einem Ort: in der forensischen Toxikologie der Gerichtsmedizin. „Wir haben die Möglichkeit bekommen, dort 100 Proben abzugeben“, sagt Jäger. Das war der Startschuss.
Herbert Oberachers Labor ist nur gut zwei Kilometer von den Büros der Drogenarbeit Z6 entfernt. Der Chemiker ist Professor für bioanalytische Massenspektrometrie am Institut für Gerichtliche Medizin der Medizinischen Universität Innsbruck. Jeden Dienstagmorgen bekommt er etwa zehn neue Proben vom Z6. Mit Polizei und Justiz bestehen Sonderregelungen. Weder die Konsumenten, die ihre Drogen ins Z6 bringen, noch der Kurier oder die Mitarbeiter im Labor müssen Strafverfolgung fürchten. Oberacher sagt: „Die Basis von Drug-Checking ist Vertrauen.“
In seinem Labor liegt ein kleiner Papierkarton, in dem die Proben der vergangenen Wochen aufbewahrt werden. Die kleinen Plastikbehälter sind nummeriert, jede Probe wird dokumentiert. In den meisten ist weißes Pulver, in einer pinkes. „Das war wahrscheinlich einmal eine Ecstasy-Tablette“, sagt Oberacher. Aus den Proben wird zunächst eine flüssige Lösung hergestellt. Der Chemiker platziert ein kleines Glasgefäß in dem Gerät, das das Herzstück seines Labors ist: ein Flüssigkeitschromatographie-Massenspektrometer. Nach etwa 20 Minuten erhält er das Ergebnis der Analytik, einen chemischen Fingerabdruck der Substanz. Oberacher zeigt auf den Graphen auf seinem Computerbildschirm, der einen markanten Ausschlag aufweist: „Dieses Muster ist charakteristisch für Amphetamin.“ Vorläufiges Ergebnis der Analyse: Wo Speed draufstand, war auch Speed drin. Das ist nicht immer so. Bis zu zehn Prozent der abgegebenen Proben entsprächen nicht der Droge, für die sie die Konsumenten hielten. „Viele Proben liefern Überraschungen.“
In einer zweiten Untersuchung wird der Wirkstoffgehalt der Probe ermittelt. Hier sieht Oberacher einen klaren Trend: „Das Kokain ist über die Jahre immer hochdosierter geworden.“ Reines Koks, habe man vor ein paar Jahren noch gedacht, gebe es in Mitteleuropa nicht. Mittlerweile schon. „Die Trends, die es generell auf dem Drogenmarkt gibt, spiegeln sich natürlich auch bei uns wider“, sagt er. „Deswegen ist das Drug-Checking für uns so interessant. Es ist eine zusätzliche Informationsquelle über die Substanzen, die auf dem Markt gerade zu finden sind.“
Oberachers Analyseergebnisse fließen gemeinsam mit denen von 20 weiteren Drug-Checking-Projekten in das Monitoring-System „Trans-European Drug Information“ (TEDI) ein, das von der europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht in Lissabon gefördert wird. TEDI gibt quartalsweise Berichte aus, erstellt Marktanalysen und warnt vor gefährlichen Trends. Auch die Daten aus Berlin sollen dort bald einfließen. In der deutschen Hauptstadt ist der Trend aber ein anderer als in Tirol: „Wir sehen, dass die Kokainqualität seit Beginn des Jahres merklich abnimmt“, sagt Tibor Harrach.
Im Labor kommen neue Trends früh an
Er könne nur spekulieren, ob das mit Ermittlungserfolgen der Polizei gegen die organisierte Kriminalität zusammenhänge. Sicher aber ist sich Harrach, dass die Ermittler die Ergebnisse der Kokain-Testungen interessiert verfolgen. Die Polizei mache zwar deutlich mehr Substanzanalytik, Trends aber erkenne man durch das Drug-Checking früher. Harrach sagt: „Wir sind ganz nah dran am Konsum.“
Mit Staatsanwaltschaft und Polizei ist man bei „Vista“ in engem Austausch, es gibt regelmäßige Gesprächsrunden. Vor gut 30 Jahren war das noch anders. Damals, als Techno und Ecstasy die Hauptstadt gleichermaßen eroberten, war Harrach am ersten Versuch beteiligt, ein Drug-Checking-Angebot in Deutschland aufzubauen, mit dem Verein „Eve und Rave“ und dem gerichtsmedizinischen Institut der Charité. „Das wurde repressiv beendet“, sagt er. Polizisten durchsuchten das Labor in der Charité. Beschlagnahmte Unterlagen dienten der Staatsanwaltschaft dazu, gegen Mitarbeiter und Konsumenten, die Proben abgegeben hatten, Ermittlungsverfahren einzuleiten. Auch in anderen Bundesländern scheiterten Versuche am Widerstand der Behörden.
Zwischen „Eve und Rave“ und heute hat Harrach mal in der Wissenschaft gearbeitet, mal eine Apotheke geführt. Für ein Drug-Checking-Angebot in Berlin hat er sich dabei weiter eingesetzt. Lange stießen er und seine Mitstreiter im Berliner Senat auf taube Ohren. „Dann kam Rot-Rot-Grün“, sagt er. Im Jahr 2016 war das. Kurz darauf wurde ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben, auf dessen Basis sie bei „Vista“ heute arbeiten. Fazit: Mitarbeiter in Beratungsstellen oder Laboren machen sich nicht des illegalen Drogenbesitzes strafbar.
Die Strafverfolgungsbehörden stimmten zu. Der Senat stellte Mittel bereit, jährlich etwa 200.000 Euro. Eine Rechtsverordnung, wie sie eigentlich vorgesehen ist, gibt es in Berlin bis heute nicht. Nach langer Vorbereitungsphase ging das Drug-Checking-Projekt im Juni 2023 in den Regelbetrieb – vier Wochen bevor der Bundestag das ALBVVG beschloss und zwei Monate nachdem die CDU wieder die Führung im Roten Rathaus in Berlin übernahm.
In Thüringen dürfen die Chemiker die Proben erst spät übernehmen
Auch in Thüringen wollte man nicht abwarten, bis der Bund eine Gesetzesgrundlage schafft. Ein Pilotprojekt für mobiles Drug-Checking gibt es im Freistaat seit 2021. Mehrmals im Jahr werden die Drogenchecks in Nachtclubs angeboten. Damit sich die Chemiker nicht strafbar machen, müssen die Konsumenten ihre Proben selbst in Lösung bringen. Erst wenn sie kein konsumfähiges Betäubungsmittel mehr darstellen, übernehmen die Chemiker. Eine Rechtsverordnung soll das bald vereinfachen. Mobile Drogenchecks sind zwar weniger genau, eine individuelle Beratung ist schwieriger. Einen Vorteil aber haben sie: Man erreicht die Menschen dort, wo sie ihr Rauschgift konsumieren – und wo viele es erst beziehen.
Mecklenburg-Vorpommern hat im Juni als erstes deutsches Bundesland eine entsprechende Rechtsverordnung erlassen. Das Land will vor allem Modellprojekte auf Festivals ermöglichen. Einen Testlauf gab es dort bereits, auf der „Fusion“, einem der größten Techno-Festivals in Europa mit etwa 80.000 Besuchern, gab es Ende Juni erstmals ein Drug-Checking-Angebot. „Das wurde so gut angenommen, dass wir zeitweise unsere Annahmestelle schließen mussten“, sagt Gernot Rücker. Der Notfallmediziner von der Universitätsmedizin Rostock ist seit 20 Jahren medizinischer Direktor der „Fusion“.
Schon vor zehn Jahren hätten er und sein Team die Tabletten von Patienten mit Vergiftungserscheinungen getestet. „Das ist einfacher, als Blutproben zu analysieren.“ Das Infrarotspektroskopie-Gerät, mit dem sie die Tests machen, sei so groß wie ein Schuhkarton. Schon nach ein paar Sekunden liefere es ein Ergebnis. Dabei gehe es vor allem um eine Qualitätskontrolle, eine Änderung des Konsumverhaltens sei während eines Festivals nicht zu erwarten.
„Unser Ansatz ist: Wir sorgen dafür, dass nur Pillen konsumiert werden, die sicher sind.“ Gut 150 Ecstasy-Tabletten haben sie während des Festivals getestet, vor 13 hoch dosierten mussten sie warnen. Mecklenburg-Vorpommerns Gesundheitsministerin Stefanie Drese (SPD) sieht das als Erfolg. Sie sagt: „Die Zahlen zeigen, dass Drug-Checking eine wirkungsvolle Maßnahme ist, um die Schäden durch Drogenkonsum zu reduzieren.“