Monday, May 2, 2022
Von der deutschen Lust, sich Putin zu unterwerfen
Berliner Zeitung
Von der deutschen Lust, sich Putin zu unterwerfen
Christian Schlüter - Vor 5 Std.
Die traurige Wahrheit über den Krieg in der Ukraine ist, dass, wenn Russland innerhalb weniger Tage das Land überrannt und unterworfen hätte, der Westen sich nach einigen diplomatischen Protestnoten schnell wieder abgewendet hätte und seinen doch viel dringlicheren Tagesgeschäften nachgegangen wäre. Protest heißt: Krokodilstränen um der eigenen Glaubwürdigkeit willen. Vielleicht noch ein paar Sanktiönchen, so wie auch 2014 nach der völkerrechtswidrigen Besetzung der Krim. Mehr dann aber auch nicht. Aber dann haben uns die Ukrainer mit ihrem inzwischen zehn Wochen währenden Widerstand gegen die russische Übermacht doch gezwungen, uns eingehender mit Wladimir Putin und seiner nun auch schon zwei Jahrzehnte dauernden, weit über Russland hinausgehenden Gewaltherrschaft zu beschäftigen.
Eigentlich sollten wir den Ukrainern dafür dankbar sein. Sie haben den Deutschen, den Europäern und den Amerikanern hinreichend viel Zeit verschafft, sich die Frage noch einmal neu vorzulegen, wer sie denn nun sein wollen. Wie viel ihnen Freiheit und Demokratie wert sind. Allmählich zeichnen sich die ersten Antworten ab. Die USA schicken mittlerweile Milliardenwerte, auch aus Europa sind längst Waffen in die Ukraine unterwegs, und die deutsche Bundesregierung hat die Denkpause ebenfalls gut genutzt und sich zur Lieferung von Panzern durchgerungen. Nennen wir das vorsichtig mal eine Zeitenwende, etwas ändert sich gerade. Allerdings nicht überall, denn andere wiederum sind zur Überzeugung gekommen, dass sie lieber alles beim Alten belassen möchten, und veröffentlichten zuletzt in dieser Zeitung und in der Zeitschrift Emma entsprechende Briefe.
Prima, endlich Debatte, endlich mischen sich prominente Zeitgenossen von Alice Schwarzer bis Konstantin Wecker wortstark ein. Dennoch, so viel sei hier vorweggenommen, sind die Argumente zur Rückkehr in die alte Vorkriegsordnung – mit leidlichen Anpassungen an die kriegerische Gegenwart – dann doch etwas enttäuschend. Die beiden Promi-Briefe richten sich an Olaf Scholz und rufen den Bundeskanzler und seine Regierung dringend auf, den neuerlich eingeschlagenen Weg wieder zu verlassen und sich gewissermaßen wie bei einem Kriegs- oder Rollenspiel in die Safe-Zone zu begeben. Die dafür genannten Gründe sind allerdings bemerkenswert und sollen nicht zuletzt deswegen, weil sie auch anderswo immer wieder auftauchen, etwas eingehender gewürdigt werden. Vor allem in Hinblick darauf, auf welche Abwege sie einen führen können.
Fangen wir mit dem beliebtesten Argument an: Wir dürfen Putin keinen Anlass bieten, uns als Kriegspartei anzusehen und damit in einen Krieg hineinzuziehen, der dann gewiss ein Dritter Weltkrieg sein würde. Doch Obacht, das bedeutet streng genommen, dass wir am besten gar nichts mehr tun, weder schwere noch leichte Waffen in die Ukraine schicken oder sonst wie Hilfe leisten. Schließlich können wir nicht wissen, wann dem Kreml-Herrscher der Geduldsfaden reißt. Diese Position wird übrigens auch vom Friedensbeauftragten der evangelischen Kirche geteilt, Bischof Friedrich Kramer: „Manchmal können wir alle nur hilflose Zuschauer sein. Und das ist vielleicht gut so.“ In der Konsequenz heißt das, sich auf Gedeih und Verderb in die Hände von Putin begeben, getragen von der irren Hoffnung, weiterhin unbehelligt vor sich hinwursteln zu können.
Allerdings kann diese Preisgabe politischer Souveränität – also unsere Selbstaufgabe, unser vorauseilender Gehorsam – auch noch anders begründet werden: mit der deutschen Geschichte, also dem Nationalsozialismus. Die beiden Promi-Briefe berufen sich auf unsere „historische Verantwortung“ oder beziehen sich auch auf den Zweiten Weltkrieg. Nie wieder Krieg soll die Lehre aus der Geschichte heißen, aber uns aufs Nichthandeln verpflichten. In diesem Zusammenhang sei allerdings an einen Zeitgenossen erinnert, an den Säulenheiligen des Pazifismus Mahatma Gandhi, der 1938 den Juden in Deutschland vorhielt, sich nie zur „wohlüberlegten Gewaltfreiheit“ aufgerafft haben, mit der sie „das härteste deutsche Herz (hätten) schmelzen“ können. Also Sitzstreik gegen den Holocaust? Oder gegen Raketen und Bomben auf Mariupol? Auf Charkiw, Mykolajiw, Kiew …
Gegen die eigene Vernichtung im Moment der Vernichtung friedlich demonstrieren: Echt jetzt? Wem da Zweifel kommen, möge sich mit einem weiteren, besonders trickreichen Argument beruhigen: Waffen in die Ukraine zu schicken, damit sich das verzweifelte Land gegen die russische Übermacht wehren kann, schiebt den Sieg der Russen weiter hinaus, verlängert also den Krieg und auch das Leiden der Bürger. Die Entscheidung über das Leiden der Ukrainer falle aber nicht allein in der „Zuständigkeit ihrer Regierung. Moralisch verbindliche Normen sind universaler Natur“. Nie waren die universalen Menschenrechte menschenferner: Was die Briefschreiber fordern, ist nicht weniger als die politische Enteignung der Ukraine. Anders gesagt, deutsche Promis vollenden moralisch, was Putin kriegerisch begonnen hat – den Ukrainern ihr Land wegzunehmen.
So setzt sich der Dünkel gegen die Kleinrussen von Kiew ungebrochen fort: Das ist doch kein Land – ganz im Sinne des Stalin-sowjetischen und auch Hitler-faschistischen Narratives. Vor allem aber zeigt sich hier die unheimlich mächtige Sehnsucht, mit all der drängenden Wirklichkeit nichts zu tun haben, in Ruhe gelassen zu werden, die hässliche Welt doch bitte schön draußen zu lassen, weit weg. Das wird spätestens deutlich bei der in beiden Briefen vorgestellten Idee eines Friedensschlusses, eines Kompromisses, wenigstens, dem beide Seiten zustimmen können. Frage: Was soll das sein? Halten wir fest, dass es ohne die beherzte Gegenwehr der Ukrainer und unsere Waffenlieferungen keine zwei Seiten mehr gäbe. Aber gut, möge eine der Unterzeichnerinnen sich doch mit Antworten melden – wir versprechen uneingeschränkte, vorbehaltlose Neugier.
Keine Position hat in der Kriegs-Debatte die Wahrheit für sich gepachtet – aber es gibt vernünftige Grenzen. Das hat der Philosoph Jürgen Habermas in der Süddeutschen Zeitung sehr eindrucksvoll gezeigt. Er skizziert sehr trennscharf zwei gleichberechtigte Positionen, ein Dilemma. Einerseits: Die Ukraine mit Waffen zu unterstützen, folgt zwar einem moralischen Affekt, gewissermaßen einem überstürzten gesinnungsethischen Impuls, aber liegt auch in unserem langfristigen sicherheitspolitischen Interesse. Andererseits: Der Ukraine nicht in der Weise zu helfen, dass Deutschland zur Kriegspartei wird, inklusive Atomkriegsoption, ist zwar eine verantwortungsethische Position, so wie sie auch von der Regierung Scholz vertreten wird, aber sie darf nicht bedeuten, die Ukraine sich selbst zu überlassen und damit verloren zu geben.
Als „konstruktiven Ausweg aus unserem Dilemma“ sieht Habermas indes einen Fluchtpunkt, eine regulative Idee für das politische Handeln der westlichen Staaten, nämlich „dass die Ukraine den Krieg nicht verlieren darf“. Damit ist einem normativ anspruchsvollen und zugleich pragmatisch lernfähigen Realismus das Wort geredet. Mehr geht nicht, aber auch nicht weniger – wenn man einigermaßen bei Verstand bleiben will.