Saturday, November 16, 2024

Wie sich SPD, Grüne und FDP jetzt Friedrich Merz andienen – und wie ihre Chancen stehen

WELT Wie sich SPD, Grüne und FDP jetzt Friedrich Merz andienen – und wie ihre Chancen stehen Ulrich Exner, Thorsten Jungholt, Claus-Christian Malzahn • 5 Std. • 8 Minuten Lesezeit Trotz des Bundestagswahlkampfs nehmen SPD, Grüne und FDP schon jetzt die Union als möglichen Koalitionspartner in den Blick. Anders als CSU-Chef Söder schließt Kanzlerkandidat Merz ein Bündnis mit der Habeck-Partei nicht aus. WELT AM SONNTAG analysiert Konstellationen, Schnittmengen und Differenzen. Die Ampel ist abgeschaltet, der Fahrplan bis zur Neuwahl am 23. Februar steht. Der Wahlkampf hat begonnen, und alles sieht nach einer klaren Sache für CDU und CSU aus. Die Union liegt in den Meinungsumfragen komfortabel bei mehr als 30 Prozent Zustimmung. Allein regieren kann sie damit freilich nicht, entsprechend groß ist der Andrang möglicher Koalitionspartner. Insbesondere die drei Ampel-Parteien SPD, Grüne und FDP würden sehr gerne auch am nächsten Kabinettstisch Platz nehmen – und buhlen mehr oder minder unverhohlen schon jetzt um die Gunst der Union. Zwar machen sich zumindest die Sozialdemokraten noch ein wenig Hoffnung, die Konservativen am Ende des Wahlkampfs doch noch abfangen zu können. Wie 2021, als die SPD bei den Demoskopen zweieinhalb Monate vor dem Wahltermin bis zu 16 Prozentpunkte hinter der Union notierte, bevor ein Lacher von CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet im Flutgebiet die Stimmung drehte und Olaf Scholz Bundeskanzler wurde. Aber die Zuversicht, dass sich diese Geschichte wiederholt, die SPD im Frühjahr also erneut selbst als stärkste Partei zu Koalitionsgesprächen laden kann, ist selbst beim notorisch optimistischen Noch-Kanzler eher gering ausgeprägt. Es war der Regierungschef selbst, der am Mittwoch erste Fährten in Richtung Union legte. „Selbst, wenn wir unterschiedliche politische Vorstellungen haben, eines ist klar“, sagte der noch amtierende Chef der rot-grünen Rest-Ampel mit Blick auf den bevorstehenden Bundestagswahlkampf: „Wir leben in einem Land. Wir sind besser dran, wenn wir uns auch nach einer Auseinandersetzung noch in die Augen schauen können.“ Ähnlich äußerte er sich am Freitag in seiner wöchentlichen Videobotschaft. Dass die SPD-Anhänger sich für die Wiederauflage einer Regierungskoalition mit der Union erwärmen können, hat das Willy-Brandt-Haus, die Parteizentrale der Sozialdemokraten in Berlin, bereits schriftlich vorliegen: In einer aktuellen Umfrage des Forsa-Instituts sprechen sich zwei Drittel der potenziellen SPD-Wähler für die Bildung einer großen Koalition nach der kommenden Neuwahl aus. Zum Vergleich: Unter den Anhängern der Union befürworten lediglich 44 Prozent ein solches Regierungsbündnis. Es ist eine Konstellation, die es der SPD-Führung im Wahlkampf nicht leichter macht. Sie muss auf der einen Seite die Unterschiede zur Union deutlich herausarbeiten und insbesondere deren Spitzenkandidaten Merz als möglichst kanzleruntauglich darstellen. Auf der anderen Seite darf sie die Gräben zu CDU und CSU nicht zu sehr vertiefen. Dazu bedarf es eines erheblichen Koordinierungsvermögens innerhalb der SPD-Spitze – wie sich in dieser Woche bereits anhand eines der absehbar zentralen Themen des bevorstehenden Wahlkampfs zeigte. Während SPD-Chef Lars Klingbeil die Union beim Thema Rente noch unter Druck zu setzen versuchte und sie in einem Zeitungsinterview aufforderte, bei der angestrebten Renten-Stabilisierung noch vor der Neuwahl als Mehrheitsbeschaffer einzuspringen, setzte SPD-Sozialminister Hubertus Heil das gegenteilige Signal: „Ein Rentenpaket bekommt man mit der Union nicht hin“, sagte Heil in der ARD. Reformen seien erst nach den Neuwahlen denkbar. Es wird, wenn sich das gerade erst anschwellende Wahlkampfgetöse nach dem 23. Februar erst einmal gelegt hat, genau auf solche Fragen ankommen. Könnte es Union und SPD gelingen, sich auf eine gemeinsame Rentenreform zu einigen, die soziale Sicherheit mit demografischer Entwicklung verbindet? Gibt es eine gemeinsame Linie in der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik? Finden Roderich Kiesewetter und Rolf Mützenich einen gemeinsamen Pfad beim Thema Ukraine? Wie und in welchem Zeitfenster lässt sich die Wirtschaft stabilisieren und dekarbonisieren? Wie finanziert Deutschland diese Transformation? Noch wichtiger aber wird sein: Entwickelt die nächste Koalition ein verlässliches Miteinander? Oder schleppt sich auch die nächste Bundesregierung von Kompromiss zu Kompromiss – mit dem Ergebnis, dass sich noch mehr Bürger abwenden von der Berliner Republik und den sie tragenden Parteien? Ukraine-Hilfe? Da geht mit Grünen mehr als mit SPD Der stellvertretende SPD-Fraktionschef Dirk Wiese zeigt sich jedenfalls hinreichend optimistisch. „Klar ist, wir Sozialdemokraten wollen weiter Verantwortung tragen für unser Land“, sagte Wiese WELT AM SONNTAG. Die wichtigen Themen lägen für die SPD auf der Hand: „Wir wollen den Wirtschafts- und Industriestandort Deutschland für die Zukunft fit machen. Das bedeutet, wir brauchen Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur, die Digitalisierung und bezahlbare Energie. Was wir nicht brauchen, ist ein Kaputtsparen. Das weiß im Übrigen auch die Union.“ Der Umgang mit der Schuldenbremse, so viel ist klar, wird ein zentrales Thema sein, wenn Union und SPD absehbar Anfang März zu ersten Sondierungsgesprächen zusammenkommen. Auch bei den Grünen laufen Lockerungsübungen. Zwar hatte Merz die Partei schon im Juli 2023 zum „Hauptgegner“ erklärt und seitdem mehrfach betont, mit „diesen Grünen“ sei eine Koalition nicht möglich. Doch in jüngster Zeit hat der Kanzlerkandidat der Union diese Attacken nicht mehr wiederholt. Dem Vernehmen nach hält er auch persönlichen Kontakt zu führenden Politikern der Grünen. Die öffentlich bei einer Talkshow ausgesprochene Einladung von Cem Özdemir etwa, sich mal wieder mit Merz zum Abendessen zu verabreden, nahm der CDU-Chef „gerne an“. Die Botschaft: Mit solchen Grünen geht was. Anders als CSU-Chef Markus Söder ist er klug genug, die Grünen-Option nicht völlig auszuschließen – allein, um seine Verhandlungsposition mit anderen Partnern zu stärken. Außerdem lässt sich kaum ignorieren, dass die CDU in Schleswig-Holstein, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen in drei schwarz-grünen Koalitionen regiert. Den Grünen wiederum ist bewusst, dass sie nur an der Seite der Union eine Chance haben, der nächsten Bundesregierung anzugehören. Nach der Wahl würde man sich Gesprächen jedenfalls nicht verweigern. In gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Fragen liegen beide Parteien zwar oft weit auseinander, die gedeihliche Zusammenarbeit in Kiel, Stuttgart und Düsseldorf aber zeigt, dass Kompromisse auch bei schwierigen Themen zumindest auf Landesebene möglich sind. Und im Bund gibt es große Schnittmengen in der Außenpolitik. Am 23. Februar 2025, dem Tag der Bundestagswahl, wird Donald Trump bereits einen Monat lang als US-Präsident im Weißen Haus sitzen. Wie die Bundesregierung sich darauf einstellt, dürfte im kommenden Jahr so wichtig werden wie selten zuvor. Mit Trump ist nichts mehr selbstverständlich, und gerade in der Russland-Politik ginge für die Union mit den Grünen mehr als mit der SPD. Während Scholz etwa die Lieferung von Taurus-Raketen an die Ukraine vehement ablehnt, wäre das für Schwarz-Grün kein Problem. Die Grünen sehen auch die Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Deutschland als Antwort auf die russische Hochrüstung in Kaliningrad nicht „kritisch“ – anders als Teile der SPD. Das Bekenntnis zur Europäischen Union, zur Nato und zur Westbindung gehört bei ihnen inzwischen zum Katechismus. Wirklich liefern müssten die Grünen in einer Bundesregierung vor allem bei Klimaschutz und Migration. Sonst könnte es ihnen ergehen wie in Hessen: Dort kündigte Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) trotz rechnerischer Mehrheit nach der Landtagswahl Ende 2023 nach zehn Jahren die schwarz-grüne Koalition auf und wechselte die SPD ein. Die Entscheidung in Hessen war vor allem die Quittung dafür, dass die CDU den Grünen nicht mehr zutraute, notwendige restriktive Schritte in der Migrationspolitik zu gehen. Auf dem Bundesparteitag an diesem Wochenende – ausgerechnet in Wiesbaden – wird man sehen, ob die über 800 Delegierten dem von Kanzlerkandidat Robert Habeck empfohlenen Kurs von Bündnisoffenheit folgen. Einfach wird das nicht. Die Grüne Jugend hat in Merz bereits ihren Lieblingsgegner identifiziert und warf ihm auf Instagram „Rassismus“ vor und unterstellte ihm, „gegen Frauenrechte“ zu sein. Von Habeck und Co. wird man solche Verunglimpfungen nicht zu hören bekommen – im Gegenteil. „Wenn wir wollen, dass es auch in Zukunft noch demokratische Mehrheiten in der Mitte gibt, dann sollten wir uns als demokratische Parteien und Politiker nicht gegenseitig zum größten Übel erklären“, sagte Landwirtschafts- und Forschungsminister Özdemir WELT AM SONNTAG. „Wohin dieser Weg die CDU führt, können wir in Sachsen und Thüringen sehen, wo es mehr als zwei Monate nach der Wahl keine Aussichten auf stabile Regierungsmehrheiten gibt.“ Gleichzeitig sage er den eigenen Leuten, so Özdemir: „Den Vorsitzenden der CDU als Rassisten zu bezeichnen, ist das gleiche Lied. Über diese Erosion demokratischer Kultur freuen sich nur Putin und seine Statthalter in Deutschland.“ Die Sehnsucht der FDP nach der Union Anders als bei SPD und Grünen, deren Werben um die Union eher auf der absehbaren Notwendigkeit als auf inhaltlicher Nähe beruht, gibt es bei der FDP geradezu eine Sehnsucht nach einer Zusammenarbeit. Im Gegensatz zu Zeiten der Merkel-CDU glauben die Liberalen, mit der Merz-CDU nicht nur die größten inhaltlichen Schnittmengen zu haben, sondern sie auch umsetzen zu können. Parteichef Christian Lindner, der sich am Mittwoch im Bundestag im vertrauten Gespräch mit Merz zeigte, betont bei jeder Gelegenheit, dass das Rennen um die Kanzlerschaft „in Wahrheit doch gelaufen“ sei und es nur noch um eine Frage gehe: „Mit wem wird der Bundeskanzler Merz regieren?“ Die Antwort sei auch deshalb entscheidend, sagte Lindner beim Wirtschaftsgipfel der „Süddeutschen Zeitung“, weil die CDU ein politisches Chamäleon sei: „Die nimmt immer die Farbe ihrer Koalitionspartner an.“ Nach seiner Lesart passten Schwarz und Grün politisch so gut zusammen „wie Lakritz und Spinat“, also gar nicht. Schwarz und Rot sei eine „Ampel light“, mithin auch kein Politikwechsel. Deshalb sei es sein Ziel, „zweistellig ins Parlament zu kommen, sodass die FDP Teil einer nächsten Koalition sein kann“. Eine Regierung, in der Union und FDP vertreten seien, sei „genau das, was unser Land jetzt braucht“. Mit Lindner als Finanzminister. Der Mann hat nur ein Problem: Seine Partei ist aktuell nicht zweistellig, sondern in den Umfragen maximal auf halber Strecke, bei rund fünf Prozent. Im Hans-Dietrich-Genscher-Haus, der Berliner Parteizentrale, verweist man allerdings auf eine Umfrage des Allensbach-Instituts von Ende September, wonach die Bürger klare Vorstellungen davon haben, wie kompatibel die verschiedenen Parteien sind. Besonders gut passen aus Sicht der Bevölkerung danach Unionsparteien und FDP zusammen, mit einigem Abstand gefolgt von Rot-Grün und CDU/CSU mit SPD. Allensbach-Chefin Renate Köcher sei eine der anerkanntesten Demoskopinnen des Landes, sagte Ex-Justizminister Marco Buschmann WELT AM SONNTAG, und halte „eine Mandatsmehrheit für eine Koalition aus Union und FDP für keine Illusion“. Bereits nach dem Bruch der Ampel verspüre die FDP Aufwind. Und noch sind es 100 Tage bis zur Wahl. Jedenfalls suchen die Liberalen auf allen Ebenen das Gespräch. Ein 2014 gegründeter, zwischenzeitlich eingeschlafener Gesprächskreis zwischen Schwarz und Gelb wurde wieder belebt: die Kartoffelküche. Rund 50 Abgeordnete von Union und FDP trafen sich diese Woche, um über die Mobilisierung von Nicht-Wählern für eine „Koalition der Bürgerlichen“ zu beraten. Womöglich aber hat sich die FDP auf dem Weg zu ihrem Wunschbündnis selbst ein Bein gestellt. Mit der von der Ampel beschlossenen Wahlrechtsreform bekommt eine Partei nur noch so viele Sitze im Bundestag, wie ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen. Die per Erststimme gekürten Wahlkreissieger sind also nicht mehr automatisch im Parlament. Es wird den schwarz-gelb gesinnten Wählern mit Unionspräferenz also schwerer fallen, ihre Stimmen taktisch zu splitten – und mit Zweitstimme FDP zu wählen. Korrespondent Ulrich Exner ist bei WELT vor allem für die norddeutschen Bundesländer zuständig. Politikredakteur Thorsten Jungholt ist zuständig für die Berichterstattung über Bundeswehr, Sicherheitspolitik, Justiz und die FDP. Politikredakteur Claus Christian Malzahn ist zuständig für die Berichterstattung über die Grünen. Zudem reportiert er aus den ostdeutschen Bundesländern.