Tuesday, May 17, 2022

Putin wird nervöser, doch nicht wegen des Nato-Beitritts Schwedens und Finnlands

Putin wird nervöser, doch nicht wegen des Nato-Beitritts Schwedens und Finnlands Berliner Zeitung Alexander Dubowy - Vor 2 Std. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat unabhängig von seinem Ausgang die Sicherheitsarchitektur Europas bereits wesentlich und unwiederbringlich verändert. Der langjährige Neutralitätsstatus Finnlands und Schwedens soll zeitnahe zugunsten eines Nato-Beitrittes aufgegeben werden. Sowohl in Helsinki als auch in Stockholm ist die Vorentscheidung gefallen. Nunmehr soll es schnell gehen. Innerhalb der Nato beschränkt sich der Widerstand gegen einen zeitnahen Beitritt Helsinkis und Stockholms lediglich auf Ankara. Allerdings dürfte die Weigerung der Türkei, dem Nato-Beitritt Finnlands und Schwedens zuzustimmen, bei Weitem nicht so grundsätzlich sein, wie dies aktuell den Anschein erweckt. Die Wahrscheinlichkeit für die Überwindung des türkischen Vetos im Rahmen eines wirtschaftspolitischen Tausches scheint vergleichsweise hoch zu sein. In den Expertenkreisen wird die Frage, ob die Nato-Norderweiterung die Sicherheit Finnlands und Schwedens sowie des gesamten Ostseeraumes erhöhen wird, dagegen intensiv diskutiert. Einige Experten befürchten, dass aufgrund der beinahe Verdoppelung der Nato-Russland-Grenze die Wahrscheinlichkeit für Provokationen und unbeabsichtigte Zwischenfälle dramatisch sich erhöhen wird. Selbst der nichtnukleare Status des Ostseeraumes dürfte in Frage gestellt werden, auch wenn sich die tatsächliche Statusänderung für Russland deutlich voraussetzungsreicher gestaltet. Eine militärische Aggression Russlands gegen Finnland sollte aufgrund des bevorstehenden Nato-Beitrittes nicht erwartet werden. Dazu ist Russland zu sehr mit der Ukraine und der verzweifelten Suche nach einem gesichtswahrenden Exit-Szenario beschäftigt. Die russischen Reaktionen dürften vor allem symbolischer Art sein. Der stellvertretende Außenminister Russlands, Sergej Rjabkow, sparte nicht mit deutlicher Kritik und subtilen Drohungen. Den geplanten Nato-Beitritt Finnlands und Schwedens bezeichnete Sergej Rjabkow als einen „weiteren schwerwiegenden Fehler mit weitreichenden Folgen“. Dieser Schritt erhöhe die Sicherheit Finnlands und Schwedens nicht. Ganz im Gegenteil werden dadurch „das allgemeine Niveau der militärischen Spannungen“ sowie der „Grad der Unvorhersehbarkeit“ gesteigert, so der stellvertretende Außenminister Russlands. Schließlich sei die Entscheidung, der Nato beizutreten, der „Ausdruck einer völlig falschen und verzerrten Wahrnehmung der globalen Entwicklungen“ durch die politischen Entscheidungsträger des Westens im Allgemeinen und in den Staaten Nordeuropas im Besonderen. Niemand dürfe sich der Illusion hingeben, dass Russland das Ausgreifen der Nato in Skandinavien reaktionslos hinnehmen werde, betonte Rjabkow. Wesentlich zurückhaltender waren dagegen die Reaktionen des russischen Außenministers Sergej Lawrow. Nach Meinung Lawrows mache die Erweiterung der Nato um Finnland und Schweden aus Sicht Russlands in Anbetracht der langjährigen Militärkooperation mit Helsinki und Stockholm keinen großen Unterschied zum Status quo aus. Auch der Präsident Russlands, Wladimir Putin, wies am Rande des Gipfeltreffens der Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit (OVKS) darauf hin, dass ein Nato-Beitritt Finnlands und Schwedens für Moskau – aufgrund fehlender territorialer Konflikte – keine Bedrohung darstelle. Dies mache den wesentlichen Unterschied zu einem potentiellen Nato-Beitritt der Ukraine aus, so Putin. Problematisch sei lediglich eine potentielle Erweiterung der Nato-Militärinfrastruktur auf die beiden skandinavischen Staaten. Letzteres scheint aber nach Stellungnahmen der finnischen und schwedischen Regierungen ohnehin nicht geplant zu sein. Gar nicht auf die bevorstehende Nato-Erweiterung zu reagieren, konnte Moskau allerdings auch nicht. Die erste symbolische Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Am Dienstag, den 17. Mai, gab Russland seinen Rückzug aus dem Rat der Ostseestaaten bekannt. Doch auch in naher Zukunft dürfte es bei lediglich symbolischen Schritten bleiben, denn eine erhebliche Aufrüstung im Ostseeraum kann sich Moskau mit Blick auf den Ukrainekrieg zeitnahe einfach nicht leisten. Während Wladimir Putin beim 30-Jahr-Jubiläumsgipfel der Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit (OVKS) in Moskau mit Blick auf die Nato-Norderweiterung Zurückhaltung und Augenmaß bewies, sparte er gegenüber der Ukraine nicht mit scharfer Kritik, wiederholte den üblichen Anschuldigungsreigen und verwies dabei auf nicht näher genannte „dokumentarische Beweise“, wonach es „in unmittelbarer Nähe“ russischer Grenzen „Komponenten für biologische Waffen“ hergestellt worden seien. Nachdem Moskaus Position in den diplomatischen Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland letztlich durch Wladimir Putin bestimmt wird, ist ein baldiger Frieden nicht zu erwarten. Kremlsprecher Dmitrij Peskow betonte bei der Pressekonferenz am Dienstagvormittag, den 17. Mai, dass jeder Krieg mit Frieden enden müsse, die Interessen Russlands seien dabei aber zu berücksichtigen. Peskows unerwartetes Abweichen von der offiziell strikten Begriffswahl und die Bezeichnung der russischen Spezialmilitäroperation als Krieg sowie seine grundsätzliche Zuversicht über den baldigen Erfolg der Friedensverhandlungen sollten keinesfalls darüber hinweg täuschen, dass die Erwartungshaltungen Russlands und der Ukraine kaum unterschiedlicher sein könnten. Nach wie vor scheint der Kreml von seinen vier politischen Forderungen nicht wesentlich abweichen zu wollen: Entmilitarisierung, Entnazifizierung, (politische und militärische) Neutralität der Ukraine, Anerkennung der Krim als Teil Russlands und der Unabhängigkeit der sogenannten Volksrepubliken von Donezk und Luhansk im Rahmen der gesamten ukrainischen Regionen Donezk und Luhansk. Gerade der vierte Punkt dürfte für Russland von absolut zentraler Bedeutung sein. Aber auch der Rückzug Moskaus aus den (teil-)besetzten ukrainischen Regionen Cherson und Saporischschja erscheint angesichts der Pläne prorussischer Lokalbehörden über den Beitritt zur Russischen Föderation bis Ende 2022 als überaus unwahrscheinlich. Für Kiew bleibt ein freiwilliger – im Rahmen eines Friedensvertrages offiziell festgehaltener und ohne ein Referendum erfolgter – Verzicht auf ein Teil seiner Territorien inakzeptabel. Schließlich sehen sowohl die ukrainische Führung als auch der Westen den Abzug russischer Streitkräfte aus der Ukraine als eine grundlegende Voraussetzung für eine diplomatische Konfliktlösung. Letzteres bekräftigte auch Bundeskanzler Olaf Scholz am 17. Mai zum wiederholten Male ausdrücklich. Dazu wird Moskau wohl kaum bereit sein. Denn der Kreml steht mit dem Rücken zur Wand. Jede Kompromisslösung käme für Russland dem Eingeständnis der eigenen Schwäche gleich. Aus der Sicht Moskaus geht es um sehr viel mehr als lediglich um eine Wahl zwischen einem kurzen oder langen Krieg. Die Implikationen des Ukrainekrieges auf die russische Innen, Außen- und Wirtschaftspolitik sowie auf die gesamtregionalen Entwicklungen sind bereits heute als epochal zu bezeichnen. Vor diesem Hintergrund erscheint ausschließlich ein faktischer brüchiger Waffenstillstand sowohl für Moskau als auch für Kiew aktuell als das einzige realistischerweise mögliche und annehmbare Exit-Szenario. Wirklich erfreulich sind diese Nachrichten freilich nicht.