Sunday, May 7, 2023
„Seit wann ist das Erpressung?“
WELT
„Seit wann ist das Erpressung?“
Artikel von Matthias Kamann • Vor 2 Std.
Mehr als eine halbe Milliarde Euro pro Jahr bekommen die Kirchen aus Steuergeld. Diese Staatsleistungen will die Ampel beenden. Aber die Verhandlungen stocken. Anne Gidion, Bevollmächtigte der Evangelischen Kirche in Deutschland, reagiert auf den Vorwurf der Erpressung.
Die Prälatin Anne Gidion ist Bevollmächtigte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) bei der Bundesrepublik und an den Verhandlungen beteiligt, die der Bund und die Länder mit den beiden großen Kirchen über Wege zur Beendigung der Staatsleistungen führen. Diese werden in aktueller Höhe von jährlich insgesamt 602 Millionen Euro von 14 Bundesländern zum Ausgleich für kirchliche Vermögensverluste vor mehreren Jahrhunderten gezahlt.
WELT: Frau Gidion, kann es dem Ansehen der Kirchen guttun, dass sie aktuell 602 Millionen Euro pro Jahr an Staatsleistungen aus den Haushalten von 14 Bundesländern und somit den Steuergeldern auch von nicht religiösen Menschen erhalten?
Anne Gidion: Das hängt davon ab, wofür das Geld verwendet wird. Wir in den Kirchen müssen zeigen, dass wir damit Leistungen erbringen, die der ganzen Gesellschaft zugutekommen. Und wenn wir das zeigen, geht es nicht mehr um die Höhe von Beträgen, sondern darum, ob es gut investiertes Geld ist. Ich bin überzeugt, dass es das ist.
WELT: Geld für gesellschaftlich nutzbringende Leistungen erhalten die Kirchen aber ohnehin, etwa als Kostenerstattungen der Kommunen für kirchliche Kita-Träger. Das versteht sich von selbst wegen des Subsidiaritätsprinzips, wonach der Staat Aufgaben an zivilgesellschaftliche Institutionen übertragen soll. Aber die Kirchen bekommen zusätzlich zu den dafür fälligen Erstattungen jährlich mehr als eine halbe Milliarde Euro an Staatsleistungen.
Gidion: Was Subsidiarität ist, versteht sich für viele nicht mehr von selbst. Wir übernehmen subsidiär Aufgaben des Staates. Das erfordert Vorleistungen von uns: Um eine Kita betreiben zu können oder die Arbeit von Brot für die Welt zu gewährleisten, setzen wir von uns aus kirchliches Personal ein und schaffen die organisatorische Basis. Erst dann können wir staatliche Erstattungen oder Fördermittel erhalten. Somit fußen die vom Staat subsidiär übertragenen und finanzierten Aufgaben auf unserer Vorarbeit, unserem Glauben, unseren Ehrenamtlichen. Und unseren Finanzmitteln. Denn nicht alles, was die Kirche als Vorleistung erbringt, wird später vom Staat erstattet.
WELT: Das gilt auch für alle anderen freien Träger. Auch die erbringen aus eigenen Mitteln oder Spenden Vorleistungen – erhalten aber nicht noch unabhängig davon Staatsleistungen.
Gidion: Diese Träger haben aber anders als wir keine Enteignungsgeschichte. Sie mussten in der Vergangenheit keine großen Güter abtreten und haben insofern nicht jene vertraglich garantierten Ausgleichsansprüche, die den Staatsleistungen zugrunde liegen.
WELT: Die Staatsleistungen werden darauf zurückgeführt, dass im protestantischen Bereich während der Reformation im 16. Jahrhundert und im katholischen Bereich im frühen 19. Jahrhundert kirchlicher Besitz den Landesherren oder Fürsten übertragen wurde, wofür diese zum Ausgleich finanzielle Verpflichtungen gegenüber den Kirchen eingingen. Können solche uralten Übereinkünfte heute noch Zahlungsansprüche gegenüber den Bundesländern begründen?
Gidion: Das ist in den entsprechenden Staatskirchenverträgen geregelt, insofern steht das juristisch außer Zweifel. Es ist freilich ein singulärer Fall. Daher gibt es keine Blaupause dafür, wie man das nun in eine neue Form des Miteinanders von Staat und Kirche überführen kann, mit der alle Beteiligten gut leben können. Es braucht Zeit, ein anderes System zu finden.
WELT: Es ist aber schon viel Zeit verstrichen. 1919 wurde in der Weimarer Reichsverfassung festgelegt, dass die Staatsleistungen abgelöst werden. Das übernahm die Bundesrepublik im Grundgesetz. Aber die Ablösung ist bis heute nicht erfolgt.
Gidion: Ja, das ist so. Aber in beiden Kirchen wird seit Jahren über dieses Thema intensiv diskutiert. Dass die Ablösung kommt und kommen muss, steht für mich nicht infrage. Sie ist aber nicht einfach. Deshalb konnten die Gespräche, die im vergangenen Jahr im Bundesinnenministerium begonnen haben, nicht schon nach kurzer Zeit zu fertigen Ergebnissen führen.
„Uns ist völlig klar, dass die finanzielle Lage sehr angespannt ist. Aber umgekehrt können auch wir keinen einseitigen Wertverzicht leisten“ Marlene Gawrisch
WELT: Jene Gespräche wurden begonnen, weil die Ampel-Koalition die Ablösung nun angehen will. Wie weit sind die Gespräche im Innenministerium gediehen?
Gidion: Es gab dort auf allen Seiten den Willen, diese Frage partnerschaftlich auf eine Weise zu lösen, die zu unserer heutigen Gesellschaft passt. Als Nächstes ist der Bundes-Rahmen so zu stecken, dass die Ablösung für die Länder machbar ist. Das ist in der gegenwärtigen Haushaltslage schwierig. Deshalb stocken die Gespräche zurzeit.
WELT: Die Bundesländer fürchten, dass sie zur Beendigung der Staatsleistungen zusätzlich zu deren vorläufiger Weiterzahlung für einige Jahrzehnte noch einen einmaligen Ablösebetrag zahlen sollen. Als dessen Höhe wird in der Öffentlichkeit oft das 18-Fache einer Jahreszahlung genannt. Das halten die Länder für komplett unfinanzierbar. Muss es denn so ein Ablösebetrag sein?
Gidion: An diesem Punkt sind die Verhandlungen noch gar nicht. Erst einmal geht es um einen bundesgesetzlichen Rahmen. Dass aber überhaupt über einen Ablösebetrag gesprochen wird, hat einen guten Grund: Hinter den Staatsleistungen stehen historische Enteignungen, stehen also Werte, und wenn die darauf fußenden Zahlungen beendet werden sollen, muss nach einem Äquivalent für diese Zahlungen gesucht werden.
Uns ist völlig klar, dass die finanzielle Lage sehr angespannt ist. Aber umgekehrt können auch wir keinen einseitigen Wertverzicht leisten. Das wäre auch unverantwortlich.
WELT: Ist eine Regelung denkbar, die nicht an klammen Landeshaushalten scheitert?
Gidion: Ich persönlich denke, dass es gute Modelle gibt, die eine sukzessive Ablösung ermöglichen. Zum Beispiel durch eine Streckung des Zeitraums, in dem die Staatsleistungen allmählich abgeschmolzen würden. Das Bundesgesetz sollte hierbei größtmögliche Spielräume für die Bundesländer und die regionalen Kirchen eröffnen. Schon weil die Finanzlage der Länder und genauso der Landeskirchen und Bistümer sehr unterschiedlich ist.
WELT: Die Staatsleistungen haben an den Haushalten einiger ostdeutscher Landeskirchen einen derart großen Anteil, dass diese Kirchen beim Wegfall der Zahlungen insolvent wären.
Gidion: Gerade deshalb müssen wir jetzt nach Wegen suchen, wie sich die Situation umwandeln lässt und die Kirche auf eigenen Füßen stehen kann. Dass die ostdeutschen Landeskirchen viel stärker als die westdeutschen von Staatsleistungen abhängen, ist im Übrigen auch Folge der kirchenfeindlichen Politik der DDR.
WELT: Schaden die Staatsleistungen, die immer wieder erhöht und dynamisiert wurden, den Kirchen nicht auch insofern, als sie ihnen die Illusion vermitteln, trotz Mitgliederschwunds noch wohlhabend zu sein?
Gidion: Diese Illusion gibt es längst nicht mehr. In jeder Landeskirche wird ganz knapp gerechnet und nach Möglichkeiten gesucht, mit geringer werdenden finanziellen Mitteln umzugehen. Aber man sollte nicht so tun, als wenn eine arme Kirche per se etwas Gutes wäre. Denn dann drohen Strukturen, bei denen potente Privatspender enormen Einfluss nehmen könnten.
Und wenn wir das leisten sollen, was der Staat und auch ausgetretene Menschen von den Kirchen erwarten – gute Jugendarbeit, soziale Fürsorge und gute Angebote für ältere Menschen, lebendige Kirchenmusik, Präsenz auf Dörfern, noch mehr Hilfen für Geflüchtete –, brauchen wir eben auch eine finanzielle Ausstattung, die das ermöglicht.
Deshalb wünsche ich mir, dass die Diskussion über die Ablösung der Staatsleistungen verbunden wird mit der Anerkennung des eminenten und eben auch historisch gewachsenen Beitrags der Kirchen in dieser Gesellschaft. Auch in finanzieller Hinsicht.
WELT: Könnte der Eindruck entstehen, dass die Kirchen die Länder erpressen?
Gidion: Seit wann ist es Erpressung, die eigenen Haushalte durchzurechnen und festzustellen, dass man weniger machen kann, wenn man weniger Geld hat?