Wednesday, May 17, 2023

Patrick Graichen: Wie die Affäre ins Rollen kam

DER SPIEGEL Patrick Graichen: Wie die Affäre ins Rollen kam Artikel von Sebastian Stoll • Vor 1 Std. Wochenlang hielt Robert Habeck an ihm fest, nun verliert Patrick Graichen doch seinen Posten als Staatssekretär im Wirtschaftsministerium. Wie verlor er den Rückhalt? Chronologie einer Affäre. »Ich habe entschieden, dass Graichen nicht gehen muss«: Diese Aussage Robert Habecks ist eine Woche alt. Nun ist sie überholt: Am späten Vormittag bestätigte der Wirtschaftsminister, was der SPIEGEL zuvor berichtet hatte: Graichen ist seinen Posten als Staatssekretär los. Es ist der vorläufige Höhepunkt der Affäre um persönliche Verflechtungen und Vetternwirtschaft im von Habeck geleiteten Wirtschaftsministerium. Eine Übersicht. Der Macher im Ministerium Im Herbst 2021 formiert sich in Berlin die Ampelkoalition – und der designierte Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck holt den Energieexperten Patrick Graichen in sein Ressort. Graichen gilt als Habecks Manager für die Energiewende, verfügt über gut zehn Jahre Erfahrung im Umweltministerium, hat ebenfalls knapp zehn Jahre beim stiftungsfinanzierten Thinktank Agora Energiewende gearbeitet, ab 2014 als dessen Chef. Graichens Erfolge sind unbestritten: Nach Einschätzung von Beobachtern ist er es, der eine Gaskrise im Winter abwendet, er treibt den Bau von Terminals für Flüssigerdgas voran und setzt sich für den Ausbau eines CO2-neutralen Strom- und Wärmesystems ein. Familiäre Verflechtungen Man kennt sich gut in der Führungsspitze des Ministeriums, auch privat: Graichens Schwester Verena und sein Bruder Jakob arbeiten beim Öko-Institut, das auch regelmäßig Aufträge aus dem Wirtschaftsministerium erhält. Verena Graichen ist zudem mit Michael Kellner verheiratet, einem anderen Staatssekretär in Habecks Ministerium – und damit einem engen Kollegen Patrick Graichens. Allerdings gibt es zu diesem Zeitpunkt keine Hinweise auf Interessenkonflikte. Graichen und Kellner dürfen keine Aufträge an das Öko-Institut vergeben, so sehen es die Compliance-Regeln des Ministeriums vor – und diese werden anscheinend eingehalten. Erste Hinweise Ende 2021 berichtete die Zeitung «taz« über »Energiewende als Familienprojekt«: Im Text heißt es: »Wenn Familienfeiern langweilig werden, kann der Graichen/Kellner-Clan also immer noch über die Reform der Marktstabilitätsreserve im Emissionshandel oder die Ausgleichmechanismusverordnung im EEG plaudern.« Verwandtes Video: «Der eine Fehler zu viel»: So begründet Habeck den Graichen-Abgang (dpa) Der Job für den Trauzeugen Der SPIEGEL greift das Thema im April 2023 auf. Danach kommt die sogenannte Trauzeugen-Affäre ins Rollen: Es wird bekannt, dass Patrick Graichen als Mitglied einer dreiköpfigen Findungskommission bei der Besetzung eines für die Energiewende relevanten Postens einen seiner engsten Freunde empfohlen hat. So schlug er Anfang 2023 als Chef der dem Ministerium unterstellten Deutschen Energie-Agentur (Dena) Michael Schäfer vor – der ist nicht nur ein alter Schufreund Graichens, sondern auch sein Trauzeuge. Obwohl eine ihm so nahestehende Person für den Job infrage kommt, legt Graichen diesen Konflikt nicht offen – mehr noch: Er lässt Schäfer als vorgeblich unabhängiges Mitglied der Kommission von Runde zu Runde weiterkommen, führt dann auch noch ein Vorstellungsgespräch mit ihm und schlägt ihn letztlich als Topkandidaten dem Aufsichtsrat der Dena vor. Nach Angaben aus dem Wirtschaftsminister informierte Graichen seinen Minister erst am 24. April darüber, dass Schäfer sein Trauzeuge ist. Der Minister reagiert, der Druck wächst Graichen gibt sich nach dem Bekanntwerden der Vorwürfe reumütig. Er hätte sich ab dem Moment, als Michael Schäfer Kandidat wurde, aus dem Verfahren zurückziehen sollen, sagt er am 28. April – »damit im weiteren Prozess kein falscher Eindruck entsteht. Das war ein Fehler, und ich bedauere diesen Fehler sehr.« Robert Habeck stärkt seinem Staatssekretär zunächst deutlich den Rücken. »Patrick Graichen ist meiner Ansicht nach der Mann, der Deutschland vor einer schweren Energiekrise bewahrt hat«, sagt er am 3. Mai – aber auch, dass die Einbindung Graichens ins Dena-Auswahlverfahren ein Fehler gewesen sei. Diesen wolle man nun »heilen«, heißt es aus dem Ministerium. Das bedeutet konkret: Das Auswahlverfahren für den Spitzenposten wird wegen möglicher Befangenheit überprüft. Am 4. Mai erhöht die Union den Druck in der Affäre: Die Bundestagsabgeordnete Gitta Connemann bringt einen Untersuchungsausschuss ins Spiel. Am 5. Mai beschließt der Aufsichtsrat der bundeseigenen Dena schließlich, das Verfahren neu aufzusetzen, Schäfer dürfe nicht mehr Chef werden. Befragung im Parlament Die Unionsfraktion holt den Fall ins Parlament: Am 10. Mai werden Graichen und Habeck vor den Ausschüssen für Wirtschaft sowie Klimaschutz und Energie befragt. Auf Antrag der Unionsfraktion diskutiert das Parlament zudem in einer Aktuellen Stunde über die Personalie. Zweieinhalb Stunden erklären sich Habeck und Graichen vor den Parlamentsausschüssen – und nach Ansicht von Beobachtern werden mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet. Graichen räumt zwar erneut ein, einen Fehler gemacht zu haben, verwundert aber mit seiner Begründung: »Ich habe gedacht, dass es genügt, wenn meine Stimme nicht den Ausschlag gibt und ich mich in der Findungskommission bei der Bewertung seiner Person zurückhalte«, sagt er. Er räumt damit indirekt ein, dass er sich der Problematik durchaus bewusst war, Mitglied in der Findungskommission zu sein, die auch seinen Freund und Trauzeugen als Bewerber anhört. Habeck argumentiert bei dem Auftritt widersprüchlich. »Ich habe entschieden, dass Patrick Graichen wegen dieses Fehlers nicht gehen muss«, sagt er. Allerdings erklärt der Minister während der Sitzung, dass sein Haus nun prüfe, ob ein Disziplinarverfahren gegen den Staatssekretär eingeleitet werden müsse. Die Hängepartie für Graichen geht also weiter – und Habecks Energie- und Klimapolitik wirkt angreifbarer denn je. Am 16. Mai gibt die Unionsfraktion bekannt, Habeck und Graichen erneut vor dem Ausschuss befragen zu wollen. Neue Vorwürfe, Graichens Abgang Eine erneute Befragung scheint nun hinfällig. Am Morgen des 17. Mai erfährt der SPIEGEL, dass Graichen seinen Posten räumen muss. Wirtschaftsminister Habeck begründet seinen Sinneswandel kurz darauf mit dem Auftauchen neuer Ungereimtheiten. Graichen soll am 30. November 2022 laut Habeck drei Projektskizzen für die nationale Klimaschutzinitiative gebilligt haben. Ein Projekt kam vom Berliner Landesverband des BUND. Dort ist Graichens Schwester Vorstandsmitglied. »Diese Vorlage hätte Patrick Graichen nicht vorgelegt werden dürfen und hätte von ihm nicht abgezeichnet werden dürfen«, sagt Habeck. Der Fehler stehe nicht für sich allein, in der Gesamtschau habe sich Graichen zu angreifbar gemacht, um sein Amt noch weiter ausüben zu können. »Es war der eine Fehler zu viel.«