Wednesday, May 17, 2023
Kommentar - Ein Satz in Habecks Graichen-Erklärung lässt tief blicken
FOCUS online
Kommentar - Ein Satz in Habecks Graichen-Erklärung lässt tief blicken
Artikel von Von FOCUS-online-Autor Hugo Müller-Vogg • Vor 1 Std.
Habeck hat seinen umstrittenen Staatssekretär Graichen entlassen. Doch der Minister zeigte bei seinem Auftritt, dass er das Kernproblem ignoriert.
„Ein guter Abgang ziert die Übung“, wusste schon Friedrich Schiller. Doch der überfällige Abgang von Wirtschaftsstaatsekretär Patrick Graichen (Grüne) ziert niemanden – nicht ihn und ebenso wenig Robert Habeck (Grüne). Dessen Versuch, das grüne „Family-and-Friends“-Geflecht im Wirtschafts- und Klimaministerium nicht anzutasten, ist kläglich gescheitert.
Der Fall Graichen ist längst zu einem Fall Habeck geworden. Als oberster Chef war er zu lange bemüht, in verschwurbelten Sätzen kleinzureden, was nicht zu beschönigen ist: Dass seine Partei und deren Öko-Umfeld sich – jedenfalls in einem der wichtigsten Ministerien – den Staat zur Beute macht.
Habecks Stern sinkt
Der Fall Graichen/Habeck gleicht vielen anderen, in denen schwere Fehler begangen wurden. Dabei gilt: Wenn ein Politiker nicht sofort handelt, sondern die Sache auszusitzen versucht, macht er das Ganze nur noch schlimmer. So war es auch jetzt. Habeck und die Grünen mussten erkennen, dass ihre ohnehin schwächer gewordenen Umfragewerte weiter sinken.
Besonders groß ist das Minus bei den Popularitätswerten ihres einstigen Stars Habeck. Obendrein haben die Wähler in Bremen den Grünen scharenweise den Rücken gekehrt. Das ist nicht nur mit ihrer autofeindlichen Politik in der Hansestadt zu erklären. Dort stand – virtuell – auch der Name Graichen auf dem Stimmzettel.
Selbst im Abgang, bei der Verkündung von der Entlassung seines Staatssekretärs, machte Habeck keine besonders glückliche Figur. Graichen hat, wie erst jetzt bekannt wurde, im November für Projekte des Berliner Landesverbandes des BUND 600.000 Euro bewilligt (aber noch nicht ausgezahlt). Dort aber sitzt, wie es der Zufall so will, Graichens Schwester im Vorstand.
Habecks ignoriert das Kernproblem
Wenn Habeck jetzt sagt, dies sei „der eine Fehler zu viel“ gewesen, dann heißt das übersetzt: Die Trauzeugen-Affäre und all den anderen Verflechtungen zwischen Graichen, seinen Geschwistern, seinem Schwager, dem Staatssekretär Michael Kellner, diversen Umweltorganisationen und der Öko-Partei, hätte Habeck weiterhin als unproblematisch akzeptiert. Wenn dem so ist, scheint Habeck immer noch nicht verstanden haben, dass die Wirtschafts- und Klimapolitik in diesem Land in die Hände von unabhängigen Fachleuten gehört und nicht in eine kuschelige Grünen-WG.
Sollten Habeck und die Grünen sich der Hoffnung hingeben, mit der Versetzung Graichens in den einstweiligen Ruhestand wäre die Sache ausgestanden, könnten sie sich täuschen. Mit seiner „Ein-Fehler-zu-viel“-Abwiegelei hat Habecks der Forderung der CDU/CSU nach einem Untersuchungsausschuss neuen Auftrieb gegeben.
Gründlich zu durchleuchten, wer im Hause Habeck mit wem politisch verbandelt ist und wer wen mit Steuergeldern fördert, ist im Übrigen keine parteipolitische Frage. Hier geht es um Wichtigeres: um politische Hygiene und das ohnehin rückläufige Vertrauen der Bürger in ihren Staat.
Graichen geht und Habeck bleibt nach dieser Notbremsung im Amt. Aber der Abgang seines wichtigsten Staatssekretärs kommt zu spät, um noch als Eingeständnis schwerer Versäumnisse des Ministers bewertet zu werden. Graichen ist das Notopfer, mit dem Habeck sich verzweifelt im Amt zu halten versucht. Aber nicht jedes Opfer wird erhört – weder vom Wähler noch von den lieben Parteifreunden.