Saturday, May 20, 2023
Eine Analyse von Hubert Kleinert - In ihrer Berliner Blase übersehen die Grünen einen wichtigen Punkt
FOCUS online
Eine Analyse von Hubert Kleinert - In ihrer Berliner Blase übersehen die Grünen einen wichtigen Punkt
Artikel von Von FOCUS-online-Gastautor Hubert Kleinert • Gestern um 14:27
Baerbock und Habeck gehören zu den Eckpfeilern der Ampel-Koalition - Doch die Grünen-Basis hat so ihre eigenen Vorstellungen imago images/Chris Emil Janßen
2021 träumten die Grünen mit Annalena Baerbock vom Kanzleramt. Doch die Kandidatin stolperte über eigene Fehler. Nun ringt Vizekanzler Robert Habeck um sein politisches Überleben – und das seiner Partei. Wie konnte das geschehen?
Es mag sein, dass das schwache Wahlergebnis der Grünen in Bremen auch hausgemachte Gründe hatte. Doch der Absturz in der Wählergunst der Hanseaten, die über Jahrzehnte eine Grünen-Hochburg bildeten, reiht sich ein in die Befunde der Demoskopen, die seit Wochen verkünden, dass die Attraktion der Partei schwinde. Auch bei der Berlin-Wahl hatte es ja Einbußen gegeben. Erinnern wir uns: Es war im Herbst 2018, als der fast märchenhafte Aufstieg der Grünen begann, der ihnen nach herausragenden Resultaten bei den Landtagswahlen in Bayern und Hessen bei der Europawahl 2019 ein Ergebnis von 20,5 Prozent bescherte – deutlich vor der SPD. Und dieser Trend hielt an.
Nicht einmal Corona konnte die Grünen bremsen. Nachdem die Partei seit den Neunzigern bei Bundestagswahlen stets irgendwo zwischen sechs und elf Prozent eingekommen war, schien 2021 sogar eine eigene Kanzlerkandidatur aussichtsreich. Zur grünen Kanzlerin kam es dann zwar nicht. Annalena Baerbock scheiterte – auch an eigenen Fehlern. Kaum aber war die Ampelkoalition in Berlin installiert, setzten die Grünen erneut zu demoskopischen Höhenflügen an, die bis weit ins Jahr 2022 anhielten.
Auch die durch Putins Angriffskrieg völlig veränderte politische Agenda schien der Partei nichts anhaben zu können. Im Gegenteil: Bei der Unterstützung der Ukraine trat die Außenministerin mit einer Klarheit und Entschlossenheit auf, die beim Kanzler selbst manchmal vermisst wurde. Und auch Vizekanzler Habeck kam trotz schwierigster Problemlage nach dem Aus für das Russengas mit seiner Versicherung, man werde ganz „unideologisch“ alle Alternativen durchprüfen, recht gut über die ersten Monate.
Wie der Absturz der Grünen begann
Es war dann im letzten Herbst, als die Aura des großen Kommunikators eine erste Delle bekam. Als es um eine Verlängerung der Restlaufzeiten für die letzten drei deutschen Atomkraftwerke ging, sorgte der Wirtschaftsminister mit unklaren Äußerungen über „Reservebetrieb“ statt„Streckbetrieb“ für einige Verwirrung, die schließlich erst durch ein Machtwort des Kanzlers beseitigt wurde. Als dann vor wenigen Wochen die letzten Atommeiler wirklich abgeschaltet wurden, waren die Grünen bereits in eine kommunikative Defensive geraten. Inzwischen leuchtete es einer Mehrheit der Deutschen nicht mehr ein, in der derzeitigen Situation lieber wieder mehr Kohle zu verstromen, als ein bisschen länger die Atomkraft zu nutzen. Die treuherzige Versicherung der Umweltministerin („Wir brauchen die Atomkraft nicht“) nutzte da wenig.
Sie hat die Zweifel, ob das Großprojekt der Energiewende wirklich gut durchdacht ist, eher verstärkt. So richtig in die Bredouille aber kamen die Grünen dann mit Habecks Heizungsplänen. Mit der Aussicht, schon ab 2024 bei Anschaffung einer neuen Heizung zum Einbau einer Wärmepumpe gezwungen zu werden, hat der Wirtschaftsminister gewaltigen Unmut im Lande hervorgerufen. Die Kosten und die sozialen Konsequenzen spielen dabei ebenso eine Rolle wie die Kurzfristigkeit und die Sorge vor fehlenden Kapazitäten der Heizungsbauer. Flugs war das alte Bild von der Verbotspartei Grüne wieder da.
Habeck erinnert an einen ehemaligen grünen Vizekanzler
Es ist kaum zu bestreiten, dass das kommunikative Agieren des Wirtschaftsministers nicht eben geschickt genannt werden kann. Die Menschen mit der Ankündigung alleinzulassen, zu den sozialen Abfederungen werde man noch Lösungen finden, war für die politische Akzeptanz eines solchen Großvorhabens nicht hilfreich. War das allein schon abträglich genug, kam dann die Entdeckung der engen verwandtschaftlichen und sonstigen Verbindungen zwischen Politik, grün ausgerichteter Energiewirtschaft und Wissenschaft hinzu.
Dass von einem beamteten Staatssekretär, der selbst aus der Lobbyorganisation und Denkfabrik Agora Energiewende kommt, bei der Besetzung der hoch dotierten Stelle des Direktors der bundeseigenen Deutschen Energieagentur Dena simple Compliance-Regelungen nicht beachtet worden sind, die bei jedem Wirtschaftsunternehmen heute zum Standard gehören, war ebenso peinlich wie der Umgang damit.
Verwandtes Video: Baerbock bei Klimadialog in Berlin: "Erneuerbare Energien" ist das große Thema (ProSieben)
Die Konsequenz, die Abberufung von Patrick Graichen, war unvermeidlich. Man muss die Fehler im Hause Habeck nicht zum Riesenskandal aufblasen. Aber das Handling erinnert ein wenig an die selbstgewisse Pose eines früheren grünen Vizekanzlers, der zu Beginn der „Visa-Affäre“ 2005 den Journalisten zurief: Sie können ja meinen Rücktritt fordern.
Klientelpolitik für Woke
Eben noch anscheinend auf dem Weg zur Volkspartei, sehen sich die Grünen jetzt plötzlich mit dem Vorwurf konfrontiert, „Klientelpolitik für Wohlhabende und Woke“ („FAZ“) zu betreiben. Wie konnte es so weit kommen?
Der erste Grund hat mit den Ursachen des grünen Aufstiegs der letzten Jahre zu tun. Das grandiose Anwachsen der Wählergunst ergab sich mehr aus medial vermittelten Stimmungskonjunkturen und den Schwächen der politischen Konkurrenz als aus gewachsener innerer Überzeugung vom grünen Programmvorrat. Vor dem Hintergrund deutlich gestiegener Aufmerksamkeit für das Klimathema taten sich die oppositionellen Grünen mit ihrer Kritik an der vermeintlichen Tatenlosigkeit der Regierung Merkel leicht. Erst recht, nachdem sie mit einem professionell auftretenden Führungsduo den Spitzenplatz in Sachen politischer Inszenierungskunst erlangt hatten. Darüber sind gewaltige Erwartungen entstanden.
Dabei war von Anfang an recht wahrscheinlich, dass sie sich in der Regierungsrolle mit diesem Druck schwertun würden. Der zweite betrifft die Gesellschaft. Wir wissen seit vielen Jahren, dass das ökologisch-sozial-moralische Lebensgefühl, das viele zur Wahl der Grünen bewegt, keineswegs mit derselben praktischen Veränderungsbereitschaft im Alltagsleben einhergeht. Erst recht nicht, wenn es teuer wird. Das nicht ausreichend zu sehen und in den Strategien der politischen Kommunikation zu berücksichtigen – diesen Vorhalt wird man den Regierungsgrünen nicht ersparen können.
Hinzu kommt, dass viele Spitzengrüne in ihrer Berliner Kommunikationsblase offenbar nicht mehr recht sehen, wie in der Mehrheitsgesellschaft gedacht und gefühlt wird – vom Auto bis zu Wokeness und Gendersprache.
Programmatische Risikofaktoren
Der dritte trifft den Programmvorrat der Partei selbst. Die Grünen sehen sich als Avantgarde einer Energiewende, die nicht weniger als den Umbau der Grundlagen einer prosperierenden Volkswirtschaft betreiben und dabei gewaltige Strukturumbrüche angehen will. Vor allem sie sind es gewesen, die durchgesetzt haben, dass in Deutschland der Verzicht auf die Nutzung fossiler Energieträger parallel zum Ausstieg aus der Atomenergie betrieben wird. Kein anderes vergleichbares Industrieland auf der Welt hat einen solchen Weg eingeschlagen.
Dieser Weg muss nicht falsch sein, bloß weil andere ihn nicht gehen. Aber es ist doch erstaunlich, dass es seit der Entdeckung der Brisanz der Erderwärmung in den späten 1980er Jahren keine einzige ernsthafte Grundsatzdebatte bei den Grünen darüber gegeben hat, ob es tatsächlich möglich ist, Kohle- und Atomausstieg parallel zu betreiben, ohne die Sicherheit der Energieversorgung zu einigermaßen bezahlbaren Preisen zu gefährden. Mit all den Folgen für den Industriestandort Deutschland. Auch nach dem Aus für das billige Erdgas aus Russland hat man keine Veranlassung gesehen, das Thema neu aufzurollen.
Der Eindruck, bei der Energiewende handele es sich um eine Operation am offenen Herzen mit hohen Kosten, aber ungewissem Ausgang, ist für die Grünen hochgefährlich. Und das ist nicht der einzige programmatische Risikofaktor. Wohl hat die Partei schon vor Jahren Abschied genommen von einer Migrationspolitik der offenen Grenzen. Doch in der Praxis sind die Grünen bei der Zuwanderungsbegrenzung oft nur als
Bremser aufgetreten – etwa bei der Ausweitung der Liste sicherer Herkunftsländer. Auch hier lauern Fallstricke, sollte der Zustrom von Flüchtlingen anhalten.
Höhenflug der Grünen ist zunächst vorbei
Die Grünen sind in ihrer Geschichte schon häufiger abgeschrieben worden. Schon deshalb sollte man mit Prognosen vorsichtig sein. Und auch mit 10 bis 15 Prozent würde sich die Partei noch weit oberhalb der Margen bewegen, die sie in der Regierung Schröder/Fischer erreichen konnte. Bei der ersten Regierungsbeteiligung im Bund gingen nach 1998 zunächst sechzehn Wahlen nacheinander verloren, bis die Bundestagswahl 2002 dann eine Trendwende brachte.
Ziemlich sicher aber ist der Höhenflug zunächst vorbei. Gut möglich, dass auch die Wahlen in Hessen und Bayern angesichts der hohen Ausgangswerte vom letzten Mal Verluste bringen werden. Und im Osten tun sich die Grünen seit jeher schwer. Die Träume von einer grünen Kanzlerschaft 2025 sind jedenfalls erst einmal ausgeträumt.