Wednesday, October 27, 2021

Jetzt will die EU den polnischen Bluff auffliegen lassen

WELT Jetzt will die EU den polnischen Bluff auffliegen lassen Philipp Fritz vor 2 Std. | Der Europäische Gerichtshof verhängt gegen Polen ein Strafgeld von täglich einer Million Euro. Die Forderung: Polens Regierung muss vom Justizabbau abrücken. Die EU legt damit die Samthandschuhe ab – und zwingt Warschau, sich klar zu positionieren. Mateusz Morawiecki, Ministerpräsident von Polen, und Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission, begrüßen sich beim EU-Gipfel Nachdem der Streit um Polens Gerichte sich über Jahre hingezogen hat und die nationalkonservative Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) weitgehend ungestört ihren Justizabbau vorantreiben konnte, überschlagen sich aktuell die Ereignisse: Am Mittwochnachmittag erklärte der Europäische Gerichtshof (EuGH), dass Polen ein Strafgeld von einer Million Euro zahlen muss – und zwar täglich, so lange die Regierung des Landes einen Luxemburger Richterspruch nicht umsetzt. Konkret geht es um eine Disziplinarkammer am Obersten Gericht in Warschau. Laut EuGH ist ihre Existenz nicht mit europäischen Rechtsnormen in Einklang. Warschau ignorierte bereits im Juli eine einstweilige Anordnung des höchsten europäischen Gerichts. Am 9. September beantragte die EU-Kommission schließlich Finanzsanktionen gegen Polen beim EuGH. Die jetzige Verhängung der Strafe also kommt nicht überraschend, bemerkenswert aber ist der Zeitpunkt. Zuletzt nämlich standen die Zeichen zumindest in Brüssel auf Deeskalation. Beim Gipfel vergangene Woche tat sich der Europäische Rat schwer, eine gemeinsame Position zum Rechtsstaatsstreit mit Polen zu finden. Es war ausgerechnet die scheidende Bundeskanzlerin Angela Merkel, die fortwährenden Dialog anmahnte und der polnischen Regierung somit Zeit erkaufte. „Wir haben große Probleme, aber ich rate dazu, sie im Gespräch zu lösen und Kompromisse zu finden“, sagte sie. Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki nahm diese Aufforderung, im Gespräch zu bleiben, auf seine Art an. Im EU-Parlament warf er der Union „Erpressung“ vor, später in einem Interview mit der britischen „FT“ sprach er von einem „dritten Weltkrieg“. Vom Justizabbau durch seine Regierung rückte er nicht ab. Die vom EuGH nun gegen Polen verhängte Strafzahlung ist der erste große Testfall für die EU seit dem sogenannten Polexit-Urteil des polnischen Verfassungsgerichts vom 7. Oktober. Darin erklärten die Warschauer Richter, dass wesentliche Teile der EU-Verträge nicht mit polnischem Recht vereinbar seien, darunter auch Artikel 19. Jener Artikel schreibt die Autorität des EuGH fest. Demnach muss europäisches Recht in Polen nicht mehr umgesetzt werden. Das Urteil mit der Fallnummer K 3/21 ist in seiner Dimension beispiellos in der Rechtsgeschichte der EU. Tatsächlich aber fällte das polnische Verfassungsgericht bereits im Juli ein Urteil, demzufolge EuGH-Urteile in Bezug auf die fragliche Disziplinarkammer in Polen keine Geltung haben müssen. Experten warnen, dass Polen mit jenen beiden Urteilen jetzt aus der europäischen Rechtsordnung ausschert und gleichzeitig die rechtsstaatlichen Fundamente der EU infrage stellt. Wenn die polnische Regierung im Sinne des von ihr kontrollierten Verfassungsgerichts handelt – laut dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ist es in Teilen illegal besetzt –, dann dürfte sie die Strafzahlung des EuGH so wenig leisten, wie sie bislang EuGH-Urteile zur Disziplinarkammer nicht umgesetzt hat. Die gesamte EU würde juristisch wackliges Terrain betreten, auf dem höchstrichterliche Urteile von Mitgliedsstaaten nicht umgesetzt werden. Die Nachricht aus Luxemburg ist somit auch als Versuch zu interpretieren, einen möglichen Bluff der polnischen Seite auffliegen zu lassen. Wenn die polnische Regierung einknickt, widerspricht sie de facto der Entscheidung ihres eigenen Gerichts. Es ist eine direkte Konfrontation. Darin liegt die Bedeutung der jüngsten EuGH-Entscheidung. Schmerzhafter als täglich eine Million Euro dürfte für Warschau nämlich sein, dass in Brüssel nach wie vor Milliardensummen aus dem Corona-Wiederaufbaufonds zurückgehalten werden.