Tuesday, November 12, 2024
Neuwahl-Debatte in Deutschland: So wird das nichts
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Neuwahl-Debatte in Deutschland: So wird das nichts
Artikel von Florian Harms • 1 Std. • 6 Minuten Lesezeit
Kanzler Scholz hat keine Mehrheit mehr, sträubt sich aber gegen schnelle Neuwahlen.
Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
auf die Woche der politischen Eruptionen folgt eine Woche der Taktik. Minderheitskanzler Olaf Scholz hat sie mit seinem sonntagabendlichen Fernsehinterview bei Frau Miosga eingeläutet, in dem er sich als staatstragender Verantwortungspolitiker zu inszenieren versuchte und die Schuld am Bruch seiner Koalition abermals FDP-Prinzipienreiter Christian Lindner in die Schuhe schob.
Seither wird eine sonderbare Debatte über die bürokratischen Fallstricke einer Bundestagswahl geführt: Das staunende Publikum erfährt, dass die drittgrößte Wirtschaftsnation der Welt angeblich nicht in der Lage ist, zügig eine bundesweite Abstimmung zu organisieren. Politiker und Kommunalbeamte, Bundes- und Landeswahlleiter, Papierfirmen und Druckereiverbände überbieten sich in gegenseitigen Vorwürfen und (er)finden allerlei Gründe, warum man die 61 Millionen wahlberechtigten Bundesbürger keinesfalls (oder eben doch) schon im Januar statt erst im März an die Urnen rufen kann: Geht nicht! Geht doch! Ist zu kompliziert! Lässt sich nicht akkurat durchführen! Könnte ja irgendwo haken!
Hört man diesem Chor der Einwände zu, kann man sich fragen: Wie blickt man wohl in Krisenstaaten wie Argentinien, Mexiko oder Moldau, die trotz enormer Widrigkeiten kürzlich erfolgreiche Wahlen abgehalten haben, auf die deutsche Weinerlichkeit? Und gelangt zu dem Schluss: Die gefährlichste Krankheit hierzulande ist nicht irgendein Virus, sondern das Bedenkenträgertum. Statt Lösungen zu finden, suchen wir Probleme. Solange wir uns unbekümmert im Wohlstand aalten, konnten wir uns das erlauben. Jetzt, wo die Welt im Krisensturm erzittert, wird es zum Existenzrisiko.
Trotzdem reagiert die Politik, wie sie immer reagiert, wenn es um die Macht geht: Die Parteien haben sich in ihren politischen Schützengräben verschanzt, feuern aufeinander und schmieden nur noch kurzfristige Schlachtpläne. Dabei wähnen sich CDU und CSU dank ihres aufgemöbelten Grundsatzprogramms und der geklärten Personalfrage am besten vorbereitet und drängen auf einen baldigen Wahltermin. Kanzlerkandidat Friedrich Merz gibt sich in Vorbereitung aufs höchste Regierungsamt verbal präsidial, lässt jedoch seine Heckenschützen Giftpfeile auf den Noch-Kanzler schießen, weil der sich bisher nicht zu einer schnellen Vertrauensfrage im Bundestag durchringen will. In der SPD ist Hektik ausgebrochen, weil entgegen Scholz' Beteuerungen weder der Spitzenkandidat noch das Wahlprogramm zweifelsfrei feststehen. Solange die Sozialdemokraten jedoch schwanken, gestalten sich Verhandlungen mit der Union schwierig, welches Ampelprojekt mithilfe der Opposition noch gerettet werden soll: das Rentenpaket? Die Krankenhausreform? Die Regeln zur europäischen Asylpolitik? Der neue Wehrdienst?
Viel wird nicht mehr gehen, soviel steht fest. Wenn überhaupt, wird sich Oppositionsführer Merz seine Zustimmung zu dem einen oder anderen Ampelvorhaben nur als Gegengeschäft für einen schnellen Neuwahlfahrplan abringen lassen. Es geht im Berliner Regierungsviertel jetzt nicht mehr um Inhalte, es geht um Machttaktik.
Das ist nach den monatelangen Ampelquerelen verständlich, klug ist es trotzdem nicht. Vielmehr böte die Zäsur des Regierungsbruchs die Gelegenheit, wenigstens kurz innezuhalten und grundsätzlich darüber nachzudenken, inwiefern die Politik der vergangenen 10, 20 Jahre das Land aufs falsche Gleis gesetzt hat. Lange rätseln muss man nicht. Die Vernachlässigung der Bundeswehr, des sozialen Wohnungsbaus, der Energiewende und des Grenzschutzes sind sowohl Angela Merkel als auch Olaf Scholz, der früher Merkels Finanzminister war, zu Recht vorgeworfen worden.
Ein Grundproblem, das alle genannten Herausforderungen verschärft hat, ist wesentlich mit der sozialdemokratischen Politik verbunden. Mit Ausnahme der schwarz-gelben Koalition zwischen 2009 und 2013 sitzt die SPD nun seit 26 Jahren in der Bundesregierung. Seit fast drei Jahrzehnten stellt sie Minister, Staatssekretäre, Referats- und Behördenleiter und zeitweise auch den Kanzler. Dabei hat sie manches zum Guten bewegt, anderes nicht, vor allem jedoch hat sie eines bewirkt: Die Genossen haben die Sozialausgaben des Staates exorbitant in die Höhe getrieben. Vom Rentenkassenzuschuss bis zum Bürgergeld: Auf sage und schreibe 212 Milliarden Euro belaufen sich die jährlichen Kosten für Soziales mittlerweile, mehr als ein Drittel des Bundeshaushalts.
Damit nicht genug: Die SPD-Anführer Scholz, Mützenich und Klingbeil wollen ihre Füllhornpolitik erklärtermaßen weitertreiben und täten nichts lieber, als die Schuldenbremse zu lockern, um endlich wieder so hemmungslos Geld ausgeben zu können wie vor dem Verfassungsgerichtsurteil.
Man kann dem eitlen Ex-Finanzminister Lindner vieles vorwerfen. Aber sein Beharren auf der Binsenweisheit, dass der Staat angesichts der global anschwellenden Schuldenkrise nur so viel ausgeben sollte, wie er einnimmt, verdient eher Respekt als Schelte. Soeben erst hat der Internationale Währungsfonds vor der globalen Schuldenspirale gewarnt; Ökonomen schließen Staatspleiten nicht mehr aus. Braucht es hierzulande mehr Geld für Bundeswehr, Ukraine-Hilfe, Klimaschutz, Bahn und Sozialwohnungen, muss folglich an anderer Stelle gespart werden. Zum Beispiel beim Bürgergeld, bei den Renten, beim Straßenbau und im Subventionsdickicht.
Doch diesen Verteilungskonflikt mit ihrer alternden Wählerschaft und mit den sozialpolitischen Lobbyverbänden scheuen die SPD-Genossen. Die Führungsgremien der einst mutigsten Partei Deutschlands entpuppen sich als Duckmäuser-Versammlungen. Öffentlich eingestehen mag das selbstverständlich weder Scholz noch Mützenich noch Klingbeil. Stattdessen wird man sich heute im Bundestag erbitterte Wortgefechte mit CDU, CSU, AfD und womöglich auch der FDP zur Frage liefern, wann genau denn nun gewählt werden soll. Man wird über schwierige Papierlieferungen für Wahlzettel disputieren und darüber, ob es im Januar nicht viel zu kalt für den Wahlkampf ist. Und falls die Gefahr besteht, dass einem schnellen Wahltermin doch nichts im Wege steht, wird man in bester deutscher Tradition kurzerhand neue Bedenken finden. Wäre ja gelacht, wenn sich Lösungen nicht durch neue Probleme ersetzen ließen!