Tuesday, November 12, 2024

Kanzlerkandidatur: In der SPD rollt eine Pistorius-Welle an – kippt Scholz?

STERN Kanzlerkandidatur: In der SPD rollt eine Pistorius-Welle an – kippt Scholz? Julius Betschka/Martin Debes/Miriam Hollstein/Florian Schillat • 12 Std. • 7 Minuten Lesezeit Whatsapp-Chats, zornige Mitglieder, Forderungen zum Kandidatentausch. In der SPD wächst die Angst, mit Olaf Scholz die Wahl zu verlieren. Die Rufe nach Boris Pistorius werden lauter. Boris Pistorius sitzt Olaf Scholz im Nacken. Buchstäblich. Wenn der Kanzler am Mittwochmittag seine Regierungserklärung abgibt, wird sein Verteidigungsminister nur eine Armlänge vom Kanzlerstuhl entfernt auf der Regierungsbank hinter ihm Platz nehmen. Aber auch im übertragenen Sinn bekommt Scholz den Atem des Parteifreunds gerade im Nacken zu spüren. Noch sitzt der 64-jährige Pistorius in der zweiten Reihe. Doch es häufen sich die Stimmen in der Partei, die fordern, dass er nach vorn treten soll und Kanzlerkandidat anstelle des Kanzlers werden solle. Der Minister von Scholz' Gnaden ist – jetzt, wo es um alles geht im Rennen um die nächste Regierung – zu einem Konkurrenten für den Kanzler geworden. Olaf Scholz hat den Malus des Gescheiterten Kann Scholz die SPD noch in den vorgezogenen Bundestagswahlkampf führen, mit dem Malus des gescheiterten Ampel-Chefs, des unbeliebtesten Kanzlers aller Zeiten? Wäre nicht Pistorius, der Beliebtheitsminister, der vielversprechendere Kandidat? Noch haben sich die Sozialdemokraten nicht offiziell festgelegt, obwohl sie Montag die Chance dafür gehabt hätten. Erstmals seit dem Ampel-Bruch kamen Präsidium und Parteivorstand zusammen. Ein förmliche Festlegung pro Scholz hätte die Debatte womöglich gestoppt – doch die Spitze scheute einen Beschluss. In welche Richtung die Reise geht, ob ein kurzfristiger Kandidatentausch stattfindet: darüber dürfte nun auch Scholz' Performance bei der Regierungserklärung entscheiden. Die Diskussion ist gefährlich für die Partei, weil sich ein Spalt auftut, der ein paar Jahre vergessen schien, zwischen oben und unten, zwischen Establishment und Basis. Überall dort, wo die Sozialdemokraten gerade zusammenkommen, um über die Lage zu beraten, bricht er wieder auf. So wie am Donnerstag vergangener Woche, als die SPD-Spitze eine Mitgliederschalte mit Lars Klingbeil und Saskia Esken machte. Der Unmut war groß, mehrere Mitglieder stellten dem Vernehmen nach offen die Frage, ob man Pistorius nicht noch aufstellen könne. Die Frage des Tauschs hat längst auch die Bundestagsfraktion erreicht. Unter Abgeordneten kursiert eine Whatsapp-Nachricht eines ehemaligen Mitarbeiters in der Parteizentrale. "Solidarität mit einer Person, mit dem jetzigen Kanzler Olaf Scholz ist ein hohes Gut", heißt es in der Nachricht. "Ein noch höheres Gut ist die Verantwortung gegenüber unserer Partei, unseren Werten diese legitimiert durch gute Wahlergebnisse auch für die Menschen umsetzen zu können. Diese Verantwortung wahrzunehmen ist nicht einfach, ist aber eine Verpflichtung für unsere Parteispitze. Und diese Verantwortung bedeutet, die Partei muss Olaf überzeugen den Weg für einen Neuanfang frei zu machen." Auch an der Basis mehren sich schon seit Tagen die Stimmen, die nach einer Neuaufstellung rufen. Den Anfang machten zwei Genossen aus Hamburg und damit ausgerechnet aus jener Stadt, die Scholz lange als Erster Bürgermeister regierte. "Die SPD hat eine Chance und sollte sie nutzen", schrieben Tim Stoberock und Markus Schreiber, beide Mitglieder der Hamburgischen Bürgerschaft, am Montag auf Instagram und posteten ein Bild von Pistorius dazu. Scholz habe es nicht geschafft, "die Menschen mitzunehmen und Führungsstärke zu kommunizieren". Boris Pistorius hingegen könne "neue Zuversicht vermitteln", weil er "für ein Machen und eine klare Sprache" stehe: "Dies kann aber nur funktionieren, wenn Olaf Scholz einsieht, dass er mit seinem Verzicht der Sozialdemokratie hilft und mit einer weiteren Kandidatur uns allen schadet. Scholz müsse Pistorius jetzt als Kanzlerkandidaten vorschlagen und "damit unserem Land einen Dienst erweisen". Im stern schaltet sich auch der erste Landrat in die Debatte ein. "In unruhigen Zeiten, gerade dann wenn Menschen verunsichert sind, bedarf es klarer Linien und Entscheidungen", sagt Thomas Will, Landrat im Kreis Groß-Gerau und Kreisvorsitzender der SPD. "Diese Eigenschaften sehe ich aktuell am besten bei Boris Pistorius. Er verfügt über Regierungsverantwortung und eine hervorragende internationale Reputation". Und Giorgio Nasseh, Kreistagsabgeordneter in Groß-Gerau, sagt dem stern: „Boris Pistorius ist der beliebteste Politiker Deutschlands, und das als Verteidigungsminister – einem Amt, das viele seiner Vorgänger wie Rudolf Scharping, Franz Josef Jung und Christine Lambrecht zu Fall brachte. Mitten in einer sicherheitspolitischen Krise führt Pistorius das Ministerium sicher und besonnen, was ihn aus meiner Sicht zu einem idealen Kanzlerkandidaten der SPD macht.“ Noch sind es Sozialdemokraten, die in Berlin kaum jemand kennt. Aber die SPD-Spitze dürfte noch wissen, wie schnell eine Debatte entstehen kann, die sich nur schwer kontrollieren lässt. Dem Sturz von Andrea Nahles 2019 ging eine Revolte an der Basis voraus, dem Widerstand gegen die Große Koalition 2017 ebenfalls. Neue Umfragezahlen von Forsa dürften die Debatte befeuern. Demnach wollen knapp 60 Prozent der SPD-Anhänger Pistorius als Kanzlerkandidat, nur 30 Prozent sind für Scholz. In der Kanzlerfrage hätte Pistorius auch gegenüber Friedrich Merz einen klaren Vorsprung: 39 Prozent der Deutschen wünschen sich demnach den Sozialdemokraten, nur 25 Prozent Merz. Fakt ist: Schon kurz nach seinem Amtsantritt im Januar 2023 kletterte der Niedersachse Pistorius in den Popularitätsumfragen auf Platz eins – und ist seither dort nicht mehr wegzubekommen. Auch sein Kurs, das Land auf einen möglichen Krieg vorzubereiten, findet immer mehr Zustimmung. Laut einer aktuellen Umfrage der Körber Stiftung hält jeder zweite Deutsche Pistorius' Forderung, statt zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts künftig drei bis dreieinhalb Prozent für die Verteidigung auszugeben, für richtig. "SPD wird mit Scholz keine Wahl mehr gewinnen" Für den Chef des Meinungsforschungsinstitut Insa, Hermann Binkert, ist die demoskopische Lage eindeutig. „Die SPD wird mit Scholz keine Wahl mehr gewinnen“, sagte er dem stern. Daraus folge: „Damit ist fast jeder andere besser.“ Die SPD habe etliche populärere Politiker, die mehr Stimmen ziehen könnten, vor allem natürlich ihren Verteidigungsminister. Der Vorteil von Boris Pistorius sei: „Er wird sogar von vielen Wählern anderer Parteien sehr positiv gesehen.“ Aber auch SPD-Chef Lars Klingbeil erreiche deutlich bessere Werte als Scholz. Binkert räumte ein, dass Pistorius mit dem Thema Ukraine-Krieg verbunden sei, vor allem wegen der Aussage, dass Deutschland wieder kriegstüchtig werden müsse. Dennoch zeige die Erfahrung, dass die Wähler Themen nicht unbedingt mit der Person verbinden würden. „Im Jahr 2013 war zum Beispiel die Euro-Rettungspolitik von Angela Merkel sehr unpopulär“, sagte Binkert. „Trotzdem kam die Union unter ihr bei der Bundestagswahl auf ein starkes Ergebnis.“ Auffällig ist, wie viele in der SPD derzeit schweigen anstatt das Feuer der Kandidatenfrage öffentlich wieder auszutreten. Einer der Wenigen ist Sebastian Roloff, Mitglied im SPD-Parteivorstand. „Es ist einigermaßen absurd, etwa drei Monate vor der Wahl eine Personaldebatte zu führen“, sagte er dem stern. Roloff stellt sich hinter Kanzler Scholz, der sich mit seiner Bilanz, „die deutlich besser ist als ihr Ruf und seinen Plänen für das Land“ der Wiederwahl stelle. „Wir sind jetzt im Wahlkampf“, so der Bundestagsabgeordnete aus München. Die beiden Hamburger Genossen, die Pistorius forderten, wurden von Aydan Özoguz gemaßregelt. "Die Hamburger Landesgruppe im Bundestag steht fest an der Seite unseres Bundeskanzlers", schrieb sie als Antwort auf Instagram: "Kandidierendendebatten in der Öffentlichkeit sind nicht sonderlich hilfreich." Doch die Vizepräsidentin des Bundestags gilt, seit sie einen antisemitischen Post repostet hat, selbst als schwer angeschlagen. Ursprünglich wollten die Sozialdemokraten erst im Juni auf einem Nominierungsparteitag offiziell ihren Kanzlerkandidaten küren. SPD-Generalsekretär Matthias Miersch gab nun „Ende Januar, Anfang Februar“ aus – alles sei momentan im Fluss. Doch auch dieses Zeitfenster erscheint nun ambitioniert, da sich die Fraktionsspitzen von SPD und Union am Dienstag nach stern-Informationen auf den 23. Februar für Neuwahlen verständigt haben. Folglich müsste auch ein Kandidatenwechsel rasch vollzogen werden, zumal sich der SPD-Vorstand zwei bis drei Wochen vor der offiziellen Nominierung einen Kandidaten empfiehlt. Eine Entscheidung pro Scholz – oder gegen ihn – rückt also immer näher. Das spricht zwar nicht zwingend gegen Pistorius, aber auch nicht unbedingt für ihn. Zunächst müsste er ins Rennen einsteigen, später noch gewählt werden. Vor allem unter SPD-Linken könnte es der robuste Verteidigungsminister, der Deutschland wieder „kriegstüchtig“ machen wollte, schwer haben. In den Bereichen innere und äußere Sicherheit hat er sich zwar unlängst profiliert, auch als langjähriger Innenminister Niedersachsens, doch gilt er beispielsweise bei der Wirtschafts- oder Gleichstellungspolitik noch als unbeschriebenes Blatt. Pistorius dementiert, aber... Und Pistorius selbst? Nach außen arbeitet der Verteidigungsminister seine Diensttermine ab. Am Mittwochnachmittag empfängt er seine luxemburgische Amtskollegin Yuri Backes im Verteidigungsministerium. Am Sonntag, dem Volkstrauertag, wird er im Bendlerblock mit einer Rede der im Dienst gefallenen und verstorbenen Bundeswehrsoldaten gedenken. Für die immer wieder auftauchenden Gerüchte hat er bereits vor Monaten eine Formulierung gefunden, die er seither in Varianten nutzt. Formal ist es ein Dementi. Aber ein vielschichtiges. Zuletzt sagte Pistorius es am Montag auf einer Veranstaltung der "Süddeutschen Zeitung": "Wir haben einen Bundeskanzler, und der ist der designierte Kanzlerkandidat". Und weiter: "Ich sehe niemanden in der Partei, der daran etwas verändern möchte." Was Pistorius nicht sagt: Dass er nicht Kanzler werden wollen würde. Wenn man ihn bitten würde. Dafür kämen aber nur zwei Männer infrage: SPD-Chef Lars Klingbeil oder Olaf Scholz selbst. Und damit einer, der nicht als besonderer Fan des Niedersachsen aufgefallen wäre. Und einer, der sich selbst immer noch und trotz allem für den besten aller Kanzler hält. Ohne gebeten zu werden, wird Pistorius keinen Vorstoß wagen. Er mag ambitioniert sein: Ein Intrigant und Kanzler-Meuchler ist er nicht. Und er kann warten. Sollte es Scholz bei der nächsten Bundestagswahl hinwegfegen, braucht die SPD einen neuen starken und erfahrenen Mann. Bis die Entscheidung gefallen ist, wird Scholz den heißen Atem des Konkurrenten immer wieder spüren. So auch Mitte Dezember. Rund um den Tag, an dem Scholz im Bundestag mit der Vertrauensfrage sein Scheitern als Ampel-Chef eingestehen muss, will die SPD in Hannover Pistorius für den Bundestag nominieren.