Monday, November 18, 2024

Kandidaten-Debatte: Warum die SPD Scholz weder stützt noch austauscht

Handelsblatt Kandidaten-Debatte: Warum die SPD Scholz weder stützt noch austauscht Artikel von Greive, Martin Gillmann, Barbara Neuerer, Dietmar Neuerer, Dietmar Matthes, Sebastian • 3 Std. • 6 Minuten Lesezeit Die SPD zögert die Nominierung von Olaf Scholz als Kanzlerkandidat heraus und bringt ihn damit in die Bredouille. Doch auch Boris Pistorius wäre für den Wahlkampf nicht ideal. Vor seinem Abflug zum G20-Gipfel nach Rio de Janeiro baut sich der Bundeskanzler auf dem Flughafen vor dem Regierungsflieger auf. Bevor es in die südamerikanische Sonne geht, spricht Olaf Scholz (SPD) vor dem wolkenverhangenen Herbsthimmel Berlins davon, wie sich die Welt neu ordnet. Der bevorstehende Gipfel in Brasilien zeige das eindeutig. Aber es dauert nicht lange, bis Scholz in den Niederungen der Innenpolitik ankommt und nach der K-Frage gefragt wird. Ob er unter allen Umständen und trotz immer neuer Rufe aus seiner Partei nach Boris Pistorius an der Kanzlerkandidatur festhalte? Scholz linke Hand spielt während der Frage am rechten Ringfinger, dann sagt er: „Die SPD und ich sind bereit, in diese Auseinandersetzung zu gehen – und um sie zu gewinnen.“ Es ist eine Antwort, die Raum für Fragen lässt. Ist Scholz jetzt gesetzt oder nicht? Warum äußert sich der Kanzler nicht klarer? Während Scholz in der Luft auf dem Weg nach Brasilien ist, gibt Boris Pistorius der ARD ein Interview. Und auch der Verteidigungsminister gibt auf die K-Frage eine Antwort, mit der er sich eine Hintertür offenhält. „Wir haben einen Kanzlerkandidaten, ich gehe fest davon aus, dass Olaf Scholz nominiert wird.“ Die Debatte, ob er noch der richtige Kandidat ist, begleitet Scholz schon eine ganze Weile. Erst war es nur die dritte Reihe, die für Pistorius als Kanzlerkandidat warb. Doch nach einigen Kommunal- und Landespolitikern sprechen sich jetzt auch erste SPD-Bundestagsabgeordnete für den Verteidigungsminister aus. Das Grummeln in der Partei wird lauter „Ich trete klar dafür ein, mit Boris Pistorius als Kanzlerkandidat anzutreten“, sagte der SPD-Abgeordnete Joe Weingarten. „Boris Pistorius wäre meiner Meinung nach bestens geeignet, unsere Partei in den Wahlkampf zu führen“, sagte der Verteidigungsexperte Johannes Arlt dem „Tagesspiegel“. Auch andere Bundestagsabgeordnete fürchten, mit Scholz werde die SPD die Wahl sicher verlieren, äußern sich bislang aber nicht öffentlich. Langsam erinnert der Widerstand der SPD gegen Scholz an den Widerstand der US-Demokraten gegen Joe Biden. Auch da meldeten sich erst Hinterbänkler mit Zweifel an der erneuten Kandidatur des Präsidenten, bis der Kreis der Kritiker immer enger wurde und auch prominente Parteivertreter Biden offen infrage stellten. Noch ist der Kreis um Scholz nicht eng, aber das „Grummeln“ in der SPD, von dem SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich vor einigen Tagen sprach, wird mit jedem Tag lauter. Doch statt den Deckel draufzumachen und Scholz formell zu küren, lässt die SPD die Debatte laufen. Scholz befindet sich dadurch in einem Dilemma. Hält er sich wie vor dem Abflug nach Rio in der K-Frage zurück, heizt er die Debatte über seine Zukunft selbst an. Glasklar äußern kann er sich aber auch nicht. Dann würde sofort Kritik laut, Scholz übergehe die Partei und würge die Debatte ab, indem er sich selbst ausrufe, heißt es aus seinem Umfeld. Hilfreich ist die Debatte für Scholz sicherlich nicht. Mit jedem Tag, der vergeht, gibt es neue Stimmen aus der SPD für Pistorius und gegen ihn. Mit jedem Tag steigt so das Risiko, dass sich in der Partei eine Welle aufbaut, die Scholz hinwegspült. Die Wahrscheinlichkeit ist nicht hoch. „Aber sie ist auch nicht null“, sagt ein Spitzengenosse. Das Zögern der SPD gibt Rätsel auf. Denn alle führenden Köpfe in der Partei haben sich für Scholz ausgesprochen: die beiden Parteivorsitzenden Lars Klingbeil und Saskia Esken, Fraktionschef Mützenich, die SPD-Ministerpräsidenten. Mehr Rückhalt geht nicht, heißt es aus der SPD. Und doch fehlt der formelle Beschluss. Warum? Selbst SPD-Mitglieder sehen Scholz kritisch Zunächst hieß es aus der Partei, man dürfte Scholz nicht vorschnell vom Kanzler zum Kanzlerkandidaten machen, das sähe nach einer Art Schrumpfung aus. Doch spätestens nach dem Auseinanderbrechen der Ampelkoalition hat sich das Argument erübrigt. Mancher in der Partei sagt, es sei klug, nicht vorschnell eine offizielle Entscheidung zu treffen. So könnte die Partei angestauten Frust ablassen, bevor sie in den harten Winterwahlkampf zieht. Und niemand könne hinterher behaupten, es habe nicht einmal die Möglichkeit gegeben, den Kandidaten auszutauschen. Andere meinen dagegen, es gebe schon Restzweifel an Scholz, die angeblich bis hoch in die Parteispitze reichten. Deshalb wolle die SPD mit der Kür noch warten, während die Bundestagsabgeordneten in den kommenden zwei Wochen die Stimmung in ihren Wahlkreisen austesten. Doch was soll dieser Stimmungstest bringen? Dass die Stimmung angesichts der Umfragewerte der SPD von 15 bis 16 Prozent bescheiden ist, ist keine Neuigkeit. Selbst unter den SPD-Anhängern halten laut Deutschland-Trend nur 45 Prozent Scholz für einen guten SPD-Kanzlerkandidaten. 47 Prozent sind dagegen der Meinung, er sei kein guter Kandidat. Doch trotz dieser Umfragen spricht wenig dafür, dass Pistorius Scholz noch ersetzt. Zwar ist Pistorius quasi seit Amtsantritt im Januar 2023 als Verteidigungsminister der beliebteste Politiker im Land. Der Kanzler rutscht dagegen in Politiker-Rankings der Meinungsforschungsinstitute immer weiter ab. Bei einer jüngsten Insa-Umfrage kam er zuletzt auf den vorletzten Platz der 20 beliebtesten Politiker. Nur AfD-Mann Tino Chrupalla ist noch unbeliebter. Pistorius bringt viele Eigenschaften mit, die Scholz abgehen, spricht Wähler emotional an, wirkt bodenständig. Der Verteidigungsminister ist für Teile der SPD so zu einer Projektionsfläche geworden, als eine Art letzte Rettung für den anstehenden Bundestagswahlkampf, in dem der Partei eine historische Schlappe droht. Durch den Verlust vieler Wählerstimmen und die Wahlrechtsreform droht sich die SPD-Fraktion von derzeit 207 auf knapp über 100 Sitze zu halbieren. Würde Pistorius die SPD um wenigstens ein paar Prozentpunkte nach oben hieven, würde die Fraktion nicht so dezimiert. Scholz’ Nimbus als Wahlkämpfer Doch auch wenn die Ampelkoalition inzwischen zerbrochen ist, tauscht man einen amtierenden Kanzler nicht einfach so aus. Und: Scholz hat die SPD 2021 schon einmal zu einem nicht für möglich gehaltenen Wahlsieg geführt. Dieser Nimbus existiert trotz aller Ampelquerelen. Scholz und sein Umfeld gelten zusammen mit Parteichef Klingbeil als gut geölte Machtmaschine, deren Kampagnenfähigkeit auch in der Union gefürchtet wird. Auch der Verweis auf die USA zieht nicht mehr. Nachdem die Demokraten kurzfristig ihren Präsidentschaftskandidaten ausgetauscht hatten, gab das der Partei einen Schub. Am Ende jedoch verlor Kamala Harris die Wahl gegen Donald Trump. Vor allem aber spricht viel gegen Pistorius. Trotz seiner Beliebtheit könnte er mit seinen Forderungen nach höheren Verteidigungsausgaben und einer stärkeren Unterstützung der Ukraine für viele Deutsche unwählbar sein, wenn er als Kanzlerkandidat erst einmal voll im Mittelpunkt steht, heißt es in der SPD. Gerade in Ostdeutschland sehen viele die Unterstützung für die Ukraine kritisch. „Pistorius braucht hier gar nicht aufzulaufen, dann verlassen alle Zuhörer sofort den Saal“, sagt ein ostdeutscher SPD-Politiker. Ein anderer meint, ein größeres Wahlgeschenk als Pistorius als Kanzlerkandidat könne man dem russlandfreundlichen Bündnis Sara Wagenknecht (BSW) kaum machen. Und selbst Scholz-Kritiker verweisen darauf, Pistorius verstehe zwar viel von Innen- und Sicherheitspolitik, sei aber in vielen anderen Politikfeldern wie der Sozial- und Wirtschaftspolitik weniger bewandert. Auf die käme es im anstehenden Wahlkampf aber auch maßgeblich an. Zudem bleibt die Frage, welcher einflussreiche SPD-Politiker Scholz stürzen soll. SPD-Chef Klingbeil könnte es vielleicht, hat selbst aber kein Interesse daran. Im Falle einer Regierungsbeteiligung müsste er einem Kanzlerkandidaten Pistorius dann den Vortritt bei der Wahl des Ministeriums lassen und wäre in der Post-Scholz-Ära nur die Nummer zwei in der SPD. Selbst zu kandidieren, ergibt für Klingbeil auch keinen Sinn. Er ist erst 46 Jahre alt und könnte sich laut Parteifreunden gut vorstellen, in einer großen Koalition Außenminister zu werden. Aus diesem Amt heraus könnte er in vier Jahren viel besser um das Kanzleramt kämpfen als in der jetzigen Ausgangslage. So dürfte es am Ende trotz allem auf Scholz hinauslaufen. Manch einer in der SPD räumt ein, den perfekten Zeitpunkt für seine Kür habe die Partei bereits verpasst. Dieser wäre in den Tagen direkt nach dem Koalitionsbruch gewesen, als Scholz nach seiner Abrechnung mit Ex-Finanzminister Christian Lindner (FDP) kurzzeitig die Herzen seiner Partei zuflogen. Pistorius sagte am Sonntag, spätestens bis zum Parteitag am 11. Januar werde die SPD eine Entscheidung treffen. Viele in der SPD halten das für zu spät. Eine Entscheidung müsse schneller her. Am 30. November hält die SPD eine „Wahlsieg-Konferenz“ ab, mit dem Kanzler als Hauptredner. Bis dahin, so heißt es, sollte „der Wahlsieger gekürt sein“.