Saturday, November 9, 2024
Ende der Ampel: Jedem Zauber wohnt ein Ende inne
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Ende der Ampel: Jedem Zauber wohnt ein Ende inne
Jochen Buchsteiner • 1 Std. • 9 Minuten Lesezeit
Man schreibt Mittwoch, den 6. November 2024. Zwei Dinge stehen schon am Morgen fest. Das erste: In Amerika hat Donald Trump die Präsidentenwahl gewonnen. Das zweite: Im Berliner Kanzleramt werden sich am Abend die Spitzen der Ampelparteien treffen, und vielleicht wird dieser Mittwoch der letzte Tag ihrer Koalition. Zuletzt hat es argen Streit gegeben. FDP und Grüne haben Programmschriften veröffentlicht, die mit dem Konsens des Koalitionsvertrages kaum noch etwas zu tun hatten.
Grüne und Sozialdemokraten folgern aus Krieg und Wirtschaftsflaute, dass nun endlich die Schuldenbremse gelöst werden müsse, die Liberalen halten Schulden für die Erbsünde jeder Wirtschaftspolitik. Jetzt klaffen Löcher im Haushaltsentwurf für 2025, auch für 2024 ist nicht alles geregelt, und die Zeit drängt: Am 14. November soll der Bundestag über den Haushalt entscheiden.
In der SPD schwankt am Morgen nach Trumps Sieg und vor dem entscheidenden Koalitionsausschuss die Stimmung zwischen der grimmigen Ansage, auf alles vorbereitet zu sein, und vorsichtigem Optimismus. Hätte man ihn zu diesem Zeitpunkt gefragt, welche Auswirkungen die Wahl in Amerika hätte, „dann hätte ich gesagt, dass das vielleicht dazu führt, dass der eine oder andere in der FDP jetzt noch umdenkt“, sagt der stellvertretende SPD-Fraktionschef Dirk Wiese im Rückblick. Trump, so der Gedanke, zwinge zum Zusammenhalten.
Sozialdemokraten und Grüne wittern die Chance, jetzt doch noch den Schuldenhahn zu öffnen. Schließlich hat sich die Ampel geeinigt, die Schuldenbremse nur in einem einzigen Fall anzutasten: falls im Ukrainekrieg eine neue Lage entsteht. SPD und Grüne sagen jetzt: Mit Trump ist dieser Fall jetzt da. Ihr Problem: Die FDP verneint.
Scholz lässt Lindner auflaufen
Schon in den letzten Tagen vor der Wahl in Amerika ist das Ringen in Berlin immer härter geworden. Am Sonntag lädt Bundeskanzler Olaf Scholz Finanzminister Christian Lindner zum Abendessen ins Kanzleramt, und Lindner verlangt, im kommenden Koalitionsausschuss nicht nur über den Haushalt zu sprechen, sondern auch über seine jüngsten Vorschläge zu einer „Wirtschaftswende“.
Das 18-Seiten-Papier war nicht nur von Scholz als provokativer Gegenentwurf zu allen Ideen wahrgenommen worden, die bei Sozialdemokraten und Grünen zirkulieren. Auch die Opposition hatte von einem „Scheidungsbrief“ gesprochen. Der FDP-Chef hatte nicht einmal mehr den Versuch gemacht, die krassen wirtschaftspolitischen Differenzen zu kaschieren.
Scholz lässt seinen Minister bei dem Abendessen auflaufen: Er habe nicht vor, über seine Vorschläge zu sprechen. Lindner sieht das als Affront. FDP-Generalsekretär Djir-Sarai beschreibt es so: „Christian Lindner kann doch nicht sehr detaillierte Vorschläge vorlegen, die Deutschland zurück auf Wachstumspfad führen, und dann kommt einfach – nichts. Da geht es doch auch um Glaubwürdigkeit!“ Lindner schlägt nun dem Kanzler erstmals vor, die Koalition zu beenden. Man solle noch gemeinsam die offenen Fragen des laufenden Haushalts regeln und dann einvernehmlich eine vorgezogene Bundestagswahl abhalten.
Wie ein enger Weggefährte Linders erläutert, habe Lindners Plan vorgesehen, Scholz in den nächsten Tagen die Vertrauensfrage im Bundestag stellen und verlieren zu lassen, aber bis zur Auflösung des Bundestages im Januar gemeinsam weiterzuarbeiten.
Scholz lehnt das ab. Der Bruch zwischen den beiden Männern, heißt es im Rückblick der Gastgeber, habe nun erstmals klar zutage gelegen. Am Ende fragt der Kanzler seinen Finanzminister, ob er damit rechnen müsse, dass die FDP noch vor dem Koalitionsausschuss am Mittwoch die Regierung verlassen werde. Nein, sagt Linder. Und bis zum Wochenende? Lindner schweigt.
Scholz macht sich jetzt nach einigen Berichten dran, eine Rede in drei Varianten vorzubereiten. Angeblich eine für den Fall einer Einigung, eine für den Fall, dass Lindner hinschmeißt, und eine für den Fall, dass er selbst den Minister entlässt.
Ob Lindner mit dem Vorsatz zum Koalitionsbruch in die folgenden Verhandlungen geht, weiß nur er allein. Ein führender FDP-Mann, der regelmäßig mit dem Vorsitzenden telefoniert, sagt jedenfalls am Mittwochmorgen voraus, dass die „Trümmertruppe“ die laufende Woche nicht überstehen werde.
„Es wird zu Ende gehen, heute, morgen oder Freitag.“ Offen bleibt, ob seine Prophetie auf einer schon getroffenen Entscheidung Lindners beruht oder auf einer unaufhaltsamen Dynamik. Er könne „intellektuell nicht mehr zusammenbringen“, wie sich aus den unterschiedlichen Positionen noch ein Kompromiss zimmern lasse, sagt der FDP-Mann.
Der Kanzler verlangt Klarheit
Hinter verschlossenen Türen steigt der Druck. Zweimal trifft sich Scholz im Laufe des Mittwochs mit Lindner und Wirtschaftsminister Robert Habeck. Am frühen Nachmittag legt er einen eigenen Vier-Punkte-Plan vor, der zwar einige Vorschläge aus Lindners Wirtschaftspapier aufgreift, aber auch die Forderung enthält, eine Haushaltsnotlage zu erklären und dadurch die Schuldenbremse zu lösen. Unter anderem sollen damit drei zusätzliche Milliarden für die Ukraine finanziert werden.
Scholz wird hier schon massiv. Man brauche jetzt „Klarheit“, sagt er zu Lindner. Wenn der Finanzminister nicht bereit sei, diesen Weg mitzugehen und neues Geld aufzunehmen, könne man den Koalitionsausschuss am Abend gleich absagen. Lindner sagt nicht Ja und nicht Nein. So nehmen es jedenfalls seine Gesprächspartner wahr.
Die Grünen beanspruchen für sich, alles getan zu haben, um die Koalition zu retten: Sie hätten einen Plan ausgearbeitet, mit dem sich der Haushalt 2025 beschließen lasse, ohne die Schuldenbremse zu lösen. Habeck hatte schon in den Tagen davor bekannt gemacht, dass er bereit sei, aus dem von ihm verwalteten Klima- und Transformationsfonds zehn Milliarden Euro bereitzustellen.
Das Geld war ursprünglich als Subvention für die geplante Chipfabrik von Intel bei Magdeburg geplant, aber das Unternehmen war abgesprungen. Im Kern wollen die Grünen zwar wie der Kanzler die Schuldenbremse lockern, aber gleichzeitig wollen sie alles vermeiden, was aussehen könnte, als würden sie durch unannehmbare Forderungen die FDP in den Koalitionsbruch treiben.
Eisige Stimmung
Gegen sechs Uhr abends eröffnet der Kanzler die Sitzung des Koalitionsausschusses. Fast alle sind schon seit den Sondierungsgesprächen vor drei Jahren per Du. Manche empfinden diese „Zwangsduzerei“ zwar als lästige Marotte des Kanzlers und meckern heimlich darüber, aber nur ein Einziger widersetzt sich offen: Rolf Mützenich spricht die Kollegen von der FDP per Sie an. So erscheinen in den Berichten aus dieser Sitzung alle Akteure per Vornamen.
„Der Olaf“, heißt es von Teilnehmern, geht in der Sitzung von Anfang an direkt auf den Kern zu. Schon in seinen Eröffnungssätzen fordert er, wegen Trump und der Ukraine die Haushaltsnotlage auszurufen. Jemand von der FDP beschreibt die Situation in der Rückschau als eisig: „Normalerweise beginnen solche Treffen, indem der Kanzler die aktuelle politische Lage referiert. Doch Scholz sagte, man müsse heute nicht stundenlang diskutieren, er wolle nur bestimmte Dinge hören.“
Habeck redet nach ihm. Es gehe zwar auch ohne Notlagenbeschluss, aber im Prinzip unterstütze er die Position des Kanzlers. Dann ergreift Lindner das Wort und hält zuerst einen Vortrag über Wege zur Dynamisierung der Wirtschaft. Nicht alle verstehen, ob er sich zur Forderung des Kanzlers klar äußert.
Bald hat Außenministerin Annalena Baerbock das Wort und schildert die Lage in der Ukraine. Nach der Wahl Trumps stehe die bisherige Unterstützung infrage, weshalb mehr Geld in das Land fließen müsse. Wieder stellen SPD-Vertreter die Forderung nach einem Notlagebeschluss in den Raum.
Nach dem Verständnis der FDP ist von den geforderten Milliarden aber nur ein geringer Teil für die Ukraine vorgesehen und ein deutlich größerer für das Stopfen von Haushaltslöchern, „um notwendige Entscheidungen nicht treffen zu müssen“, wie es Lindner später ausdrückt. Bei der FDP argumentieren unter anderem Justizminister Marco Buschmann und der Fraktionsvorsitzende Christian Dürr, für die Ukraine sei genug Geld da, weil die G-7-Gruppe ja beschlossen habe, 50 Milliarden Dollar aus eingefrorenem russischen Staatsvermögen zu finanzieren.
Eine Annäherung ist nicht in Sicht
Die Diskussion wird immer heißer. Die Außenministerin, die gerade aus Kiew zurück ist, wirbt in flammenden Worten um neues Geld. Jemand von der FDP wirft ein, wenn dem Kanzler die Ukraine so wichtig sei, solle er doch aufhören, die Lieferung des deutschen Marschflugkörpers Taurus zu blockieren. Dafür gibt es Zustimmung von den Grünen.
Eine Annäherung ist nicht in Sicht, und irgendwann kommt Lindner auf den Punkt. „Lieber Olaf“, soll er den Kanzler gefragt haben, „heißt das: Wenn ich nicht zustimme, bin ich entlassen?“
Scholz reagiert zuerst nicht und arbeitet als Sitzungsleiter weiter die Rednerliste ab. FDP-Fraktionschef Dürr ist dran und beginnt auch zu reden, da unterbricht ihn Lindner. „Lieber Christian“, soll er gesagt haben, bevor es weitergehe, wolle er eine Antwort von „Olaf“. Entlassung oder nicht? Und er fügt hinzu, er begehe wohl keine Indiskretion, wenn er verrate, dass er dem Kanzler schon am Sonntag vorgeschlagen habe, für 2024 noch einen Nachtragshaushalt zu beschließen und sich dann einvernehmlich zu trennen. Was der Kanzler denn dazu meine?
Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken lacht laut auf, und Scholz gibt eine Antwort in zwei Teilen. Auf die Frage, ob er Lindner entlassen wolle, sagt er, der Worte seien genug gewechselt, nun wolle er Taten sehen. Und auf die Frage, ob eine einvernehmliche Trennung möglich wäre, gibt er zurück, auch er begehe jetzt wohl keine Indiskretion, wenn er wiederhole, was er Lindner schon am Sonntag geantwortet habe: Nein, diesen Weg könne er sich nicht vorstellen.
Und dann kommt der Bruch
Der Eklat ist da. Die FDP beantragt eine Sitzungspause und verlässt den Raum. Wenige Minuten später ploppt eine Eilmeldung der „Bild“-Zeitung auf den Handys der Teilnehmer auf: Lindner habe Scholz Neuwahlen vorgeschlagen. Jemand hatte eine Indiskretion begangen, wer ist nicht klar.
Als die Sitzung weitergeht, verkündet Lindner, er werde „den Weg neuer Schulden nicht mitgehen“. Scholz antwortet, dass er das bedauere, aber „Christian“ in diesem Fall nicht mehr seinem Kabinett angehören könne. Am Donnerstag werde er beim Bundespräsidenten seine Entlassung in die Wege leiten. Der Bruch ist da, die Sitzung beendet.
Alle sind schon im Aufbruch, da bittet der Kanzler die übrigen FDP-Minister noch um ein kurzes Gespräch unter vier Augen. Justizminister Buschmann antwortet kühl, das könne er sich ohne Lindner nicht vorstellen.
Scholz insistiert: Das gehöre sich so, und zumindest einige der drei Liberalen ziehen sich separat für einige Minuten mit ihm zurück. Verkehrsminister Volker Wissing wird später bestätigen, dass Scholz ihm in diesen Minuten angeboten hat, in seinem Kabinett zu bleiben. Er nimmt an und verlässt die FDP.
Gleich danach stellt sich Scholz vor die Kameras und hält die Rede, die er für den Fall der Entlassung vorbereitet hat. Lindner und Habeck dagegen stellen sich erkennbar improvisierend vor die Mikrofone.
Hat der Kanzler den Bruch geplant? Hat Scholz schon am Sonntagabend, nach seinem Vieraugengespräch mit Lindner, beschlossen, das Ende nach eigenem Drehbuch zu gestalten? Bei der FDP wird jedenfalls bezweifelt, dass er mehr als eine Rede parat hatte. „Der Kanzler hatte ganz bestimmt Zeit, sich auf drei Reden vorzubereiten“, heißt es sarkastisch.
Aus der Sicht der Liberalen will Scholz den Eindruck zerstreuen, dass er die Dinge am Mittwochabend zum Äußersten trieb. Er will, so heißt es, beweisen, dass Lindner unrecht hat, wenn er ihm einen „kalkulierten Bruch der Koalition“ vorwirft.
In der SPD lässt man Vorwürfe einer Inszenierung nicht gelten. „Wenn ein Bundeskanzler in so einer Lage nicht auf jeden Ausgang vorbereitet ist, dann ist er auf dem falschen Posten“, sagt Parteichefin Esken. Aber hatte der Kanzler nicht in vollem Bewusstsein die rote Linie der FDP überschritten, als er Lindner vor großer Runde zwingen wollte, die sogenannte Notlage mitzutragen? Esken wiegelt ab. Beim sogenannten „Doppelwumms“ zu Zeiten der Energiekrise habe die FDP doch auch mitgemacht: „Das widerspricht nicht den Grundsätzen der FDP und ist vom Grundgesetz auch ganz klar so abgedeckt.“
Eine Zustimmung zu Lindners Wirtschaftspapier, sagt Esken noch, wäre ein „historischer Fehler“ gewesen, weil „die Solidarität in unserem Land gegen die Solidarität mit der Ukraine gegeneinander ausgespielt“ würde.
Auch die FDP bestreitet, am Bruch schuld zu sein. Generalsekretär Djir-Sarai versichert, Lindner habe sein Wirtschaftspapier nicht als „Diktat“ eingeführt, sondern als Verhandlungsgrundlage, und sei bis zum Schluss zu einem Kompromiss bereit gewesen. Diesen hätte er notfalls auf einem Sonderparteitag durchgesetzt.
Nach seiner Rede wird Scholz in der SPD-Fraktion mit eruptivem Beifall empfangen. Erleichterung entlädt sich, dass er die Partei von der FDP erlöst hat. Manche versichern, dass man natürlich mit ihm an der Spitze in den Wahlkampf ziehen werde. Fraktionschef Rolf Mützenich behauptet im Fernsehen, Lindners „plötzlicher“ Vorschlag von vorgezogenen Wahlen und der Leak in der Verhandlungspause seien ein „klarer Vertrauensbruch“ der FDP gewesen, den der Kanzler gar nicht anders hätte beantworten können.
Noch am Mittwochabend kündigt Scholz an, erst Mitte Januar die Vertrauensfrage stellen zu wollen, um so den Weg für Neuwahlen im März freizumachen. In seiner Rede hatte er Lindner vorgeworfen, „kleinkariert taktiert“ und nur auf das Überleben der FDP geschielt zu haben.
Macht der Kanzler jetzt dasselbe für die SPD? Will er mit dem späten Wahltermin nur Zeit gewinnen, in der sich seine Partei aus dem Umfragetief herausarbeiten kann? Der stellvertretende Fraktionschef Wiese weist den Vorwurf zurück: „Die SPD ist so gut sortiert, dass sie jederzeit bereit für einen Wahlkampf ist.“
Die CDU macht Druck
Entscheidend für den Zeitplan seien vielmehr die Projekte, die nach den Worten des Kanzlers „keinen Aufschub dulden“. Derer gibt es viele, und einige von ihnen könnten auf eine Mehrheit hoffen, von Maßnahmen gegen die kalte Progression bei der Einkommensteuer bis zum Bau neuer Gaskraftwerke. Auch die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems steht noch an.
Wiese spricht von einem „geordneten Prozess“, der jetzt nötig sei. Auch, so heißt es in der SPD, wolle man allen Parteien die Möglichkeit geben, sich auf Neuwahlen einzustellen: Listen aufstellen, Hallen mieten, Parteitage abhalten.
Aber darauf können die anderen Parteien gut verzichten. Sowohl bei den Liberalen als auch bei der Union heißt es, alle notwendigen Gesetze ließen sich auch in den 21 Tagen beschließen, die dem Parlament nach einer Vertrauensfrage bleiben. Wahlkampfbereit sei man auch. Warum also die Vertrauensfrage nicht sofort stellen, in dieser Woche, und das Programm bis Weihnachten abarbeiten?
Vor allem die Union setzt jetzt die Daumenschrauben an. Nur wenn Scholz die Vertrauensfrage vorzieht, will sie gesetzgeberisch mitarbeiten. Wenn etwas liegen bleibe, zum Beispiel die Korrektur der kalten Progression, könne man das nach einem Wahlsieg schnell erledigen. Schließlich, heißt es bei der Union, seien die Umfragen eindeutig: Die Bürger wollen wählen, und zwar schnell.