Monday, November 4, 2024

„Die deutsche Angst vor Trump ist berechtigt – und wir als Amerikaner sollten sie auch haben“

WELT „Die deutsche Angst vor Trump ist berechtigt – und wir als Amerikaner sollten sie auch haben“ Artikel von Ibrahim Naber • 3 Std. • 6 Minuten Lesezeit Die ehemalige US-Botschafterin in Deutschland, Amy Gutmann, sieht in der Präsidentschaftswahl eine Belastungsprobe für die amerikanische Demokratie. Sie warnt vor einem Szenario, das auch für Deutschland gefährlich werden könnte – und verrät, wen sie wählen wird. Im neuen Büro von Amy Gutmann steckt noch immer reichlich Deutschland. Hinter dem Schreibtisch steht ein Foto von ihr mit Bundeskanzler Olaf Scholz, daneben das Bild mit Angela Merkel. Halloween habe sie kürzlich in einem Fußballtrikot von Borussia Dortmund gefeiert, sagt die 74-Jährige beim Treffen mit WELT. Nach zweieinhalb Jahren als US-Botschafterin in Berlin ist Gutmann in diesem Sommer nach Pennsylvania zurückgekehrt. Sie arbeitet als Professorin an der Annenberg School for Communication in Philadelphia – die größte Stadt des umkämpften Bundesstaates Pennsylvania, in dem die US-Präsidentschaftswahl entschieden werden könnte. WELT: Ambassador Gutmann, haben Sie schon gewählt? Amy Gutmann: Noch nicht. Am Dienstag werden mein Mann und ich zu unserem Wahllokal gehen und wählen. Das ist für mich das grundlegendste Recht und die Pflicht jedes Bürgers. WELT: Wen wählen Sie? Gutmann: Ich werde Kamala Harris wählen. WELT: Warum? Gutmann: Zum ersten Mal in der amerikanischen Geschichte gibt es einen Präsidentschaftskandidaten, der die Ergebnisse der vorherigen Wahl geleugnet hat und dies immer noch tut. Ich bin Wissenschaftlerin und Professorin der Demokratie. Ich habe mein Leben der amerikanischen Demokratie zu verdanken. Mein Vater ist aus Deutschland nach Indien und dann in die USA geflohen. Er hat die Einwanderergeschichte Amerikas gelebt. Für mich steht der Erhalt der Demokratie über allem. WELT: Donald Trump spricht bereits von Wahlbetrug in Pennsylvania. Einige befürchten, dass seine Partei derzeit die Grundlage dafür schaffe, am Ende eine gestohlene Wahl zu reklamieren – ähnlich wie 2020. Gutmann: Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass der ehemalige Präsident im Falle einer Niederlage behaupten wird, er habe gewonnen. Beim letzten Mal gab es über 60 Klagen, und alle scheiterten. Wir haben einen wirklich starken Rechtsstaat. Wir, das Volk, müssen diese Rechtsstaatlichkeit unterstützen. Sie ist grundlegend für die Demokratie und unsere Freiheit. Bei der letzten Wahl hat sie funktioniert, und ich denke, sie wird erneut funktionieren. WELT: Klagen sind das eine. Das andere ist die Angst vor einem Gewaltausbruch nach der Wahl, sollte Trump verlieren. Gutmann: Ich bin ein leidenschaftlicher Verfechter von Meinungsfreiheit. Aber Meinungsfreiheit hat auch Grenzen. Man kann das Leben oder die Lebensgrundlage von Menschen nicht bedrohen. Gewalt ist nicht akzeptabel. Wir verlassen uns nicht nur darauf, sondern unterstützen auch unsere Polizei und unser Rechtssystem, um sicherzustellen, dass Menschen, die sich nicht an das Gesetz halten, die Konsequenzen tragen. WELT: 45 Prozent der Amerikaner sind der Meinung, dass die amerikanische Demokratie das Volk im Moment nicht gut vertritt. Was läuft schief in den USA? Gutmann: Das erste ist die Wirtschaft. Wir müssen der Arbeiterklasse besser dienen. Die Ungleichheit in diesem Land hat über Jahrzehnte hinweg enorm zugenommen, und die Arbeiterklasse hat das Gefühl, dass es ihren Kindern und Enkeln vielleicht nicht so gut geht wie ihnen. Das zweite ist die Bildung. Wir müssen das Bildungsangebot für alle verbessern und den Zugang zur Bildung erleichtern. Und hier ist Deutschland ein wirklich wichtiger Vorreiter. In Deutschland ist nicht nur die Hochschulbildung leichter zugänglich, sondern es gibt auch das duale Studium. Der dritte Punkt ist die Ethik. Wir müssen die ethischen Normen des Respekts für die Würde aller Menschen wiederbeleben. Hass sollte in einer Demokratie keinen Platz haben. Ob Antisemitismus oder andere Formen des Hasses, Islamophobie, Rassismus, die schrecklichen Verleumdungen gegen Frauen und die Rechte der Frauen – wir müssen unsere Demokratie verbessern. WELT: Viele Menschen in Deutschland befürchten, dass diese Wahl ihre Zukunft negativ beeinflussen könnte, insbesondere wenn Trump gewinnt. Wie berechtigt ist diese German Angst? Gutmann: In diesem Fall ist die deutsche Angst berechtigt und wir als Amerikaner sollten sie auch haben. Die Deutschen sagten oft zu mir, ohne euch (die Amerikaner, d. red.) würden wir das nicht schaffen. Damit meinten sie zum Beispiel die Unterstützung der Ukraine. Ich sagte dann: Die Amerikaner brauchen auch die Deutschen. Wir brauchen einander, um unsere Demokratien zu stärken und um als Verbündete andere Länder zu unterstützen, wenn sie von autoritären Herrschern angegriffen werden, wie es in der Ukraine der Fall ist. Als Präsident Biden vor ein paar Wochen Deutschland besuchte, hatte ich die Ehre, ihn zu begleiten. Er sagte zu Bundeskanzler Scholz, Deutschland sei Amerikas stärkster und engster Verbündeter. Das ist wahr, und das muss so bleiben. Es ist unglaublich wichtig für unser eigenes Leben und das Leben unserer Kinder und Enkelkinder. Über 40 Millionen Amerikaner bezeichnen Deutschland als das Herkunftsland ihrer Familie, mich eingeschlossen. Das ist ein riesiger Prozentsatz unserer Bevölkerung. WELT: Trump hat gedroht, die Zölle auf US-Importe auf zehn oder gar 20 Prozent zu erhöhen. Es gibt eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft, die besagt, dass ein solcher Handelskrieg für Deutschland einen Verlust von 180 Milliarden Euro über vier Jahre bedeuten könnte. Ist das in Amerikas Interesse? Gutmann: Nein. Die einfache Antwort ist nein. Es ist eigentlich eine Steuer für Amerikaner mit mittlerem Einkommen und mit niedrigem Einkommen. Die höheren Preise für importierte Waren würden an den Verbraucher weitergegeben werden. Es wird also eine furchtbar hohe Steuer sein, die für die meisten Amerikaner unerschwinglich ist. Das ist eine schreckliche Idee. WELT: Investiert Deutschland genug, um sich selbst und Europa militärisch zu schützen? Gutmann: Deutschland investiert mehr und mehr. Es wird aber erst genug sein, wenn wir der Ukraine helfen können, diesen Krieg zu gewinnen. Und diesen Krieg zu gewinnen, bedeutet, wie wir historisch wissen, wahrscheinlich eine Einigung mit Putin. Aber es muss eine Einigung sein, die es der Ukraine ermöglicht, als sichere, souveräne Demokratie weiterzumachen. WELT: Für wie realistisch halten Sie einen Frieden in der Ukraine im Moment? Gutmann: Im Moment glauben wir, auf Grundlage der uns vorliegenden Beweise, dass Putin nicht vor dem Ergebnis dieser US-Wahl an den Verhandlungstisch kommen wird. Das denken wir seit langem. Deshalb glauben wir nicht, dass es jetzt an der Zeit ist, die Ukraine aufzurufen, sich an den Tisch zu setzen. Denn das würde eine Kapitulation bedeuten, und das ist inakzeptabel. Aber es wird diese Zeit kommen. Und wenn dieser Zeitpunkt gekommen ist, werden wir das unterstützen, was die Ukraine braucht, um als souveräne Demokratie voranzukommen. WELT: Sind Sie zuversichtlich, dass Wolodymyr Selenskyj für den Frieden Gebietsabtretungen akzeptieren würde? Gutmann: Ich bin zuversichtlich, dass Selenskyj tun wird, was notwendig ist, um einer souveränen, demokratischen Ukraine Frieden zu bringen. WELT: Basierend auf Aussagen von Trump und seinem möglichen Vizepräsidenten JD Vance fürchten einige in Europa, die USA könnten die Nato schwächen oder sich sogar aus der Nato zurückziehen. Gutmann: Die NATO ist stärker als je zuvor. Das meine ich damit, wenn ich sage, dass Putin sich verrechnet hat. Niemand konnte sich vor drei Jahren vorstellen, dass Finnland und Schweden der Nato beitreten würden. Die Nato ist für die Vereinigten Staaten von unglaublicher Bedeutung. Wir haben ein Bündnis, das unsere Demokratie schützen wird, und wir werden andere Demokratien schützen. Dafür gibt es eine breite überparteiliche Unterstützung. Die Vorstellung, dass irgendein Präsident an der Bedeutung der Nato für die Vereinigten Staaten zweifeln könnte, ist töricht. Es ist einfach töricht. WELT: Sie haben Ihre Familiengeschichte angesprochen. Ihr Vater ist aus Nazi-Deutschland geflohen. Zwei Ihrer Verwandten waren in Konzentrationslagern. Gutmann: In Buchenwald. WELT: Zuletzt hat der Krieg im Nahen Osten große Anti-Israel-Proteste an Universitäten weltweit ausgelöst, auch in den USA. Wie nehmen Sie die Atmosphäre hier an Ihrer Universität wahr? Gutmann: Am 8. Oktober 2023, dem Tag nach dem größten Terroranschlag auf das jüdische Volk seit dem Holocaust, konnte ich vor dem Brandenburger Tor mit vielen deutschen Freunden vor Tausenden von Menschen sprechen, um Israel zu unterstützen. Das war ungeheuer wichtig für mich. Es ist unglaublich wichtig, anzuerkennen, dass Israel ein Heimatland für das jüdische Volk und ein demokratisches Land ist. Es ist auch wichtig, anzuerkennen, dass alle Demokratien unvollkommen sind. Eines unserer Anliegen ist es, dass Israel mehr für den Schutz der palästinensischen Zivilbevölkerung tun muss. Es hat mir das Herz gebrochen, als ich einige Demonstrationen auf dem Gelände von Universitäten sah, bei denen Dinge wie „Tod den Zionisten“ gerufen wurden. Ich bin ein stolzer Zionist. Aber ein Zionist zu sein bedeutet, das Existenzrecht Israels zu unterstützen. Wir müssen also in der Bildung bessere Arbeit leisten. Und noch einmal: Die Menschen haben ein Recht auf freie Meinungsäußerung, aber wir haben das Recht und die Pflicht zu sagen, warum es so wichtig ist, dass wir Israel verteidigen.