Tuesday, November 12, 2024

Achtung, Herr Scholz: Sechs untrügliche Beweise für die Mündigkeit der Bürger

FOCUS online Gastbeitrag von Gabor Steingart - Achtung, Herr Scholz: Sechs untrügliche Beweise für die Mündigkeit der Bürger Gabor Steingart (Berlin) • 1 Std. • 3 Minuten Lesezeit Olaf Scholz sieht sich als Klassenlehrer der Nation und unterschätzt dabei die Intelligenz der Bürger. Diese reagieren schlitzohrig und mündig, wie die jüngsten Wahlen und Umfragen beweisen. Die Wähler sind bei den Eliten seit jeher nicht gut beleumundet. „Das beste Argument gegen die Demokratie ist ein fünfminütiges Gespräch mit einem durchschnittlichen Wähler“, sagte einst der britische Premier Winston Churchill. Auch der linke Elitist Karl Marx war kein Fan der Volksherrschaft, weshalb er der Diktatur der Kommunistischen Partei den Vorzug gab. Als Chefredakteur der Rheinischen Zeitung soll er an seine Tür einen Zettel mit der Aufschrift geklebt haben: „Hier endet die Demokratie.“ Auch Olaf Scholz hat keine hohe Meinung von den Bürgern Warum das wichtig ist: Auch Olaf Scholz hat keine hohe Meinung von den Bürgern. Der erhobene Zeigefinger könnte sein Logo sein. Neuwahlen wollte er am liebsten hinauszögern. Das Bürgerlein brauche Weihnachtsruhe. Das Bürgerlein müsse erst noch verarbeiten. Scholz sieht sich nicht als der Stellvertreter des Volkes, sondern als dessen Klassenlehrer. Diese Denkweise ist weit verbreitet, aber falsch. Das Volk, von Heinrich Heine zärtlich „der große Lümmel“ genannt, ist schlauer als viele Politiker meinen. Die Meinungsforschung und die jüngsten Wahlen liefern uns sechs untrügliche Beweise für die Mündigkeit der Bürger. #1 Substanz lässt sich durch Starpower nicht ersetzen Die Versuche, die US-Wahl durch ein Großaufgebot an Stars und Sternchen zu drehen, gingen nach hinten los. Die Parteinahme von Taylor Swift, Beyoncé und Jennifer Lopez zugunsten von Kamala Harris galt für Millionen von Wähler als Beleg dafür, dass die demokratische Partei eher in Hollywood zuhause ist als in den Arbeiterbezirken von Detroit, Pittsburgh oder in der Bronx. Trump hatte ein leichtes Spiel, das für sich zu nutzen: „We don’t need a star because we have a policy.“ #2 Wähler bestehen auf ökonomische Prioritäten Die Wähler sind mehrheitlich nicht betriebswirtschaftlich ausgebildet, aber kennen die volkswirtschaftlichen Prioritäten. Sie reagieren allergisch auf die Überpriorisierung von Klima-, Identitäts- oder Sozialpolitik, weil sie zuerst ihren ökonomischen Status und dann die CO2-Bilanz ihres Landes verbessern wollen. Die Unternehmen sind nicht ihre Feinde, sondern ihr Arbeitgeber. Hier werden sie nicht abgezockt, wie die Linke meint, sondern hier erleben sie ihre Selbstwirksamkeit. Und falls nicht? Dann wechseln sie nicht die politische Grundüberzeugung, sondern die Firma. #3 Klimaschutz nicht obsolet Vorsicht Fehlurteil: Im Umkehrschluss bedeutet das nicht, das Volk sei sozial hartherzig, sprachlich unsensibel und ökologisch desinteressiert. Es ging bei den jüngsten Wahlen in den USA und Europa nicht um das Ende des Klimaschutzes, sondern um ein Rebalancing, eine Neugewichtung des politischen Portfolios. Parteien, die jetzt auf weniger Umweltschutz und den Vorrang des Verbrennermotors setzen würden, landen in der Bedeutungslosigkeit. Sie verlieren erst die Jugend und dann die Mehrheit. #4 Bürger sind keine Schulden-Puritaner Die Wähler sind nicht zimperlich, wenn es darum geht, die Verschuldung zu expandieren. Die seit 1917 bestehende und mittlerweile über 100-mal erhöhte „Debt Ceiling“ in den USA, die Schuldenbremse in Deutschland und die Maastricht-Kriterien in der Eurozone sind in keinem Land der westlichen Welt mehrheitsfähig. Genetisch stammen die Wähler eher von Keynes ab als von Lindner, was bedeutet: Das konjunkturelle Strohfeuer wird als wärmend empfunden. Nur wehe, es facht die Inflation an und macht die Währung weich. Dann droht der Bürger den Schuldenpolitikern mit Höchststrafe: der Abwahl. #5 Der Parteipolitiker darf grob sein, der Staatsmann nicht Das musste jetzt Olaf Scholz erfahren. Seine vom Teleprompter abgelesene, also vorsätzlich derb formulierte Abrechnung mit dem eigenen Finanzminister, feuert auf ihn zurück. Die Aussagen, Lindner sei „kleinkariert“ und „parteipolitisch“, wurden von den Bürgern als wenig staatsmännisch und daher unseriös wahrgenommen. Scholz, der mit seiner Philippika vom Betroffenen der FDP-Machtpolitik zum Akteur werden wollte, hat sich verkalkuliert. Der Schwarze Peter für den Zusammenbruch der Regierung wanderte von Habeck (Heizungsgesetz) über Lindner (Schuldenbremse) zum Grobian Scholz. #6 Abwehrreaktion bei medialer Bevormundung Die Rolle der Medien wird mittlerweile vom Wähler genauso kritisch gesehen wie die von Politikern. Zeitungen und TV-Sender sollen informieren und inspirieren, aber nicht indoktrinieren. Offene Wahlempfehlungen – mit denen sich die Redaktion zum Büchsenspanner des Politikers macht – sind auch in den USA aus der Mode gekommen. Dem Negativismus vieler Medien, die als Angstverkäufer unterwegs sind und der Sehnsucht nach Zuversicht keinen Raum lassen, entziehen sich ausweislich des Reuters Digital News-Report immer mehr Menschen durch „Media Avoidance“, der Vermeidung von Medienkonsum. Ihr Motto: Lieber weniger wissen, als schlecht schlafen. Fazit: Wähler und Wählerinnen sind alles mögliche – schlitzohrig, anstrengend, frech und auch widersprüchlich. Nur dumm, das sind sie nicht. Kurt Tucholsky: „Das Volk versteht das meiste falsch, aber fühlt das meiste richtig.“