Saturday, March 1, 2025
„Wir gehen gefährlichen Zeiten entgegen“: Experten glauben, Selenskyjs Rauswurf war von Trump geplant
Tagesspiegel
„Wir gehen gefährlichen Zeiten entgegen“: Experten glauben, Selenskyjs Rauswurf war von Trump geplant
Juliane Schäuble • 4 Std. • 7 Minuten Lesezeit
Nach Russlands Vollinvasion auf die Ukraine war Freitag wohl der schwerste Tag im Amt von Präsident Selenskyj. Im Weißen Haus wurde er beschimpft - und dann rausgeworfen. Rekonstruktion eines historischen Desasters.
Schon bei der Begrüßung kommt die Ahnung auf, dass dieser Tag kein guter werden könnte. Da sagt US-Präsident Donald Trump einen Satz, der so gar nicht dem Anlass entspricht.
Gerade ist er aus dem Westflügel des Weißen Hauses gekommen, um den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zu begrüßen. Entlang der Zufahrt hat sich die Ehrengarde mit den Fahnen der 56 Bundesstaaten und Territorien aufgereiht. Neben dem Eingang sind Soldaten positioniert, die die amerikanische und ukrainische Flagge tragen.
Um 11.22 Uhr steigt Selenskyj aus seiner schwarzen Limousine, wie immer in tarnfarbiger Hose und Pulli, um deutlich zu machen, dass er der Präsident eines Landes im Kriegszustand ist. Trump begrüßt ihn kurz, sagt spöttisch: „Sie haben sich heute ganz schön herausgeputzt.“ Und dann nochmal zu den Dutzenden wartenden Journalisten: „Er hat sich heute ganz schön herausgeputzt.“
Selenskyj verzieht das Gesicht zu einer Art Grinsen und zuckt mit den Schultern – was soll er auch erwidern auf so eine unpassende Bemerkung?
Kurz darauf gelingt es dem Gast aus Kiew nicht mehr, so gelassen zu bleiben. Das Gespräch im Oval Office, nach dem eigentlich ein gemeinsames Mittagessen stattfinden und dann das seit Tagen international diskutierte Rohstoff-Abkommen feierlich unterzeichnet werden soll, eskaliert komplett und wird zu einem hitzigen Schlagabtausch – vor laufenden Kameras.
Als es um Putin geht, fällt J.D. Vance Selenskyj ins Wort
Die ersten 35 Minuten verlaufen harmlos, ruhig. Trump und Selenskyj sprechen respektivoll mitmeinander, bis das Thema auf den russischen Präsidenten Wladimir Putin kommt. Da beugt sich Vize-Präsident J.D. Vance, der neben Trump sitzt, vor, streckt die Hände abwehrend aus und fällt Selenskyj ins Wort. Der Ukrainer erklärt gerade, warum die Gewalt nicht einfach aufhöre, wenn ein Waffenstillstand nicht militärisch abgesichert sei. Und dass sich Putin in der Vergangenheit nicht an Vereinbarungen gehalten habe.
Selenskyj, so behauptet Vance, verhalte sich „respektlos“, weil er im Oval Office „vor amerikanischen Medien“ verhandeln wolle. Kurz darauf fährt er ihn an: „Haben Sie heute überhaupt schon mal Danke gesagt?“
Trump selbst lässt seinen Vize gewähren, teilt dann selbst gegen Selenskyj aus. Dieser riskiere „Millionen Menschenleben und den Dritten Weltkrieg“, dabei müsse die Ukraine „dankbar“ für die US-Unterstützung sein. Er schließlich sei es gewesen, der Selenskyj erst zu einem „harten Kerl“ gemacht hätte. Nun müsse der Ukrainer einem Abkommen mit Putin zustimmen - „oder wir sind raus“.
Dann beendet der US-Präsident das Gespräch. Selenskyjs Demütigung ist damit aber noch nicht vorbei.
Wie die CNN-Korrespondentin Kaitlan Collins später berichtet, berät Trump anschließend mit seinen engsten Beratern, darunter Vance, Außenminister Marco Rubio und Finanzminister Scott Bessent im Oval Office. Im Anschluss erklärt er, Selenskyj sei „nicht in der Lage zu verhandeln“, und weist Rubio sowie seinen Nationalen Sicherheitsberater Michael Waltz an, die Botschaft zu überbringen: Es sei Zeit für Selenskyj zu gehen. Es ist ein Rauswurf von höchster Stelle.
Das Mittagessen stand schon bereit
Die ukrainische Delegation hält sich da noch in einem separaten Raum auf, in der Erwartung, dass man zum Lunch wieder zusammenkomme – das Essen wartet bereits auf Servierwagen. Aber Selenskyj und sein Team werden an diesem Tag nicht im Weißen Haus speisen.
Trumps 27-jährige Sprecherin Karoline Leavitt wird am Abend im TV-Interview kühl lächelnd dazu sagen: Der Präsident habe sein Mittagessen genossen. „Er hat heute im übertragenen und wörtlichen Sinne das Mittagessen von Präsident Selenskyj gegessen.“
Präsident Trump hat heute im übertragenen und wörtlichen Sinne das Mittagessen von Präsident Selenskyj gegessen.
Karoline Leavitt, die Sprecherin des Weißen Hauses
Noch bevor der ukrainische Präsident wieder in seine Limousine steigt, schreibt Trump auf der Plattform „Truth Social“, er habe festgestellt, Selenskyj sei „nicht bereit für einen Frieden“ unter amerikanischer Beteiligung. „Er hat die Vereinigten Staaten in ihrem geschätzten Oval Office nicht respektiert.“ Der Ukrainer könne „zurückkommen, wenn er für den Frieden bereit ist“.
Aber kann er das wirklich? Wird es einen nächsten Versuch geben, was muss dafür geschehen – und was ist da eigentlich gerade passiert?
Das politische Washington ist an diesem Freitag wie selten in Aufruhr, diskutiert die Folgen des Esklats. Zum Beispiel im Hudson Institut, einem konservativen Thinktank unweit der amerikanischen Regierungszentrale. Dort sollte Selenskyj eigentlich drei Stunden nach dem Oval-Office-Treffen auftreten. Erst heißt es, der Termin sei abgesagt, dann soll er auf einmal doch stattfinden.
Europäische Botschafter und ukrainische Würdenträger haben sich eingefunden, die vorderen Stuhlreihen sind für sie reserviert. Alles ist gerichtet: Häppchen, Softdrinks und Wein stehen bereit, Geräte liegen aus, mit denen die Gäste über Kopfhörer Ukrainisch ins Englische übersetzt bekommen, die Kameras sind aufgestellt.
Am Sonntag soll es einen Ukraine-Gipfel in London geben
Doch um 15:25 Uhr tritt ein Hudson-Vertreter ans Mikrofon und erklärt, Selenskyj werde leider nicht kommen. Die meisten Anwesenden bleiben trotzdem, es gibt viel zu besprechen.
Auf die Frage, was nun passieren wird, sagt ein Botschafter nach kurzem Zögern: „Wir werden jetzt ein, zwei Tage ins uns gehen und dann versuchen, die Reset-Taste zu drücken.“
Am Sonntag hat der britische Premierminister Keir Starmer zum Ukraine-Gipfel nach London geladen. Starmer war wie zuvor auch der französische Präsident Emmanuel Macron Teil einer diplomatischen Offensive Europas, um Trump davon zu überzeugen, die Ukraine nicht fallen zu lassen. Große Ergebnisse können sie nicht vorweisen, aber der Eindruck war: Die Europäer sind wieder im Spiel. Und dann das.
Wir gehen gefährlichen Zeiten entgegen.
Ein europäischer Botschafter
Ein anderer Botschafter beschreibt die Lage mit ernster Miene. „Wir gehen gefährlichen Zeiten entgegen. Wenn Europa sich jetzt nicht endlich berappelt und selbst für seine Verteidigung sorgt, sehe ich schwarz.“ Auch so werde es sehr schwer, denn das transatlantische Verhältnis sei zerbrochen.
Die Ukrainer, so der Diplomat, würden weiterkämpfen – sie hätten ja zuletzt schon keine Waffenlieferungen mehr aus den USA erhalten.
Ein übler Verdacht: War der Eklat geplant?
Eine Frage, die Washington spaltet, ist derweil die, ob der Eklat im Oval Office geplant war. Im rechten Sender Fox News kann man am späteren Abend Sätze hören wie den der Moderatorin Laura Ingraham, dass es „hilfreich für das amerikanische Volk“ gewesen sei, das alles im Fernsehen zu sehen.
Klar ist: Trump und Vance versuchten, Selenskyj als undankbaren Partner vorzuführen. Nach Hohn und Spott verlangten sie, dass er sich bei den USA für die militärische Unterstützung bedanke - und behaupteten fälschlicherweise, er hätte das noch nie getan.
Und dann ist da dieser Satz, den Trump den Journalisten nach dem denkwürdigen Auftritt noch zurief. Kurz nach dem Knall, Selenskyj ist noch im Raum, sagte der US-Präsident der „Washington Post“ zufolge: „Das wird großartig fürs Fernsehen.“
Mehrere Anwesende bei Hudson geben sich im Gespräch mit dem Tagesspiegel überzeugt, dass mindestens Vizepräsident Vance seine Attacke geplant hat – um die MAGA-Basis (nach dem Slogan „Make America Great Again“) zufriedenzustellen. Nicht jeder kann indes so offen sprechen wie Robert McConnell, Mitgründer der Nichtregierungsorganisation „U.S.-Ukraine Foundation“ und unter dem früheren Präsidenten Ronald Reagan Staatssekretär im Justizministerium.
Es war ein Hinterhalt.
Robert McConnell, Mitgründer der Nichtregierungsorganisation „Friends of Ukraine Network“
„Es war ein Hinterhalt mit dem Ziel, das amerikanische Volk glauben zu machen, dass die Ukraine undankbar ist und unsere Unterstützung nicht verdient“, sagt McConnell. Auf die Frage, was das Endziel sei, sagt Ukraine-Unterstützer McConnell: „Trump will seine Beziehung zu Putin festigen, denn Russland ist für die USA der größere Markt.“
Zeichen für eine Neuorientierung des russisch-amerikanischen Verhältnisses gab es in dieser Woche mehrere: Erst stimmten die USA gemeinsam mit Russland gegen eine UN-Resolution zum Krieg in der Ukraine. Und am Freitag wird bekannt, dass erstmals wieder ein russischer Botschafter nach Washington entsandt wird.
Dass es der Trump-Regierung gar nicht um die Ukraine, sondern nur um Russland gehe, glaubt auch einer der EU-Botschafter. „Trump ist die Ukraine egal, auch wenn er den Rohstoff-Deal gerne abschließen würde“, sagt er und fügt hinzu: „Ich bin seit Jahrzehnten im diplomatischen Dienst und habe wirklich vieles gesehen. Aber ein derartiges Ausmaß an Erpressung, wie es die US-Regierung in den Verhandlungen mit der Ukraine an den Tag legt, habe ich noch nie erlebt.“
Eigentlich sollte als Ergebnis des Selenskyj-Besuchs am Freitag ein Deal stehen, der Washington einen teilweisen Zugang zu den Bodenschätzen der Ukraine gewähren würde und gleichzeitig ein erster Schritt hin zu einem Friedensabkommen mit Russland sein könnte. Nach Selenskyjs Auffassung hätte es im Gegenzug klare Zusagen der USA gegeben, ein solches Friedensabkommen militärisch absichern zu helfen.
Der Rohstoff-Deal wird am Freitag nicht unterzeichnet
Nur: Genau das will Trump nicht. Bei der Pressekonferenz mit dem britischen Premier Starmer am Donnerstag hat er eine entsprechende Frage einfach nicht beantwortet. Der Deal wird zumindest am Freitag nicht unterzeichnet
Nach dem abgesagten Hudson-Termin taucht Selenskyj am Abend dann doch noch einmal auf: Das geplante Interview mit Fox News findet statt. Aber wer mit einer Entschuldigung des ukrainischen Präsidenten gerechnet hat, wird enttäuscht, auch wenn Selenskyj sichtlich bemüht ist, die Situation zu bereinigen.
Als der Moderator Bret Baier ihm einen Tweet des demokratischen Senators Chris Murphy vorliest, und ihn fragt, ob auch er wie Murphy einen „Hinterhalt“ der Trump-Regierung vermute, antwortet Selenskyj: „Ich weiß es nicht. Es war eine sehr schwierige Situation, denn wir waren sehr offen.“
Trump wird das aller Voraussicht nach nicht beruhigen. Vor seinem Abflug nach Florida am späteren Nachmittag ruft er den wartenden Reportern sichtlich erregt zu, alles, was er wolle, sei ein Deal, ein sofortiger Waffenstillstand. Aber Selenskyj wolle keinen Frieden, sondern nur „kämpfen, kämpfen, kämpfen“.
Als er danach gefragt wird, ob er den ukrainischen Präsidenten loswerden wolle, antwortet Trump: „Ich möchte jemanden, der Frieden schließt.“ Dann klettert in den Präsidenten-Hubschrauber Marine One und entschwindet in sein Wochenende.
Wie es weitergeht, ist offen. Ein Botschafter sagt, es bleibe kaum eine andere Möglichkeit, als dass der französische Präsident Emmanuel Macron und der britische Premier Keir Starmer noch einmal nach Washington kommen. Sonst könne das keiner, fügt der Diplomat hinzu. „Deutschland fällt ja gerade aus.“
Der amerikanische Krisenanalyst Ian Bremmer wagt eine düstere Vorhersage. „Trump wird nun höchstwahrscheinlich über die Köpfe der Ukraine und der Nato-Verbündeten hinweg einen Deal mit Putin abschließen.“
Der Freitag bedeute eine „Katastrophe für Selenskyj auf höchstem Niveau und eine entscheidende Abkehr Trumps von seinen Nato-Verbündeten, den Europäern“, so Bremmer.
Trump habe den Europäern klargemacht, dass sie in der Ukraine auf sich allein gestellt seien. Diese würden die Dringlichkeit zwar begreifen. „Aber das bedeutet nicht, dass sie die Fähigkeit oder den Willen haben, die Amerikaner zu ersetzen.“