Tuesday, November 12, 2024

Historiker Timothy Garton Ash zur Trump-Wahl: „Wir haben schwere Zeiten vor uns“

FR Historiker Timothy Garton Ash zur Trump-Wahl: „Wir haben schwere Zeiten vor uns“ Artikel von Michael Hesse • 49 Mio. • 9 Minuten Lesezeit Historiker Timothy Garton Ash über Europas Aufgaben nach der Wahl von Donald Trump, seine Angst vor einem Ukraine-„Deal“ und Gefahren für die liberalen Demokratien. Herr Professor Garton Ash, Sie haben das Buch „Freie Welt“ geschrieben. Ist die Wahl Trumps der Anfang vom Ende der liberalen Demokratien und der freien Welt? Das Buch heißt „Freie Welt“ und bewusst nicht „Die freie Welt“. Mit der freien Welt meinten wir den transatlantischen Westen. Er ist sichtbar bedroht. Es ist völlig klar, dass wir in Europa, einschließlich Großbritanniens, viel mehr tun müssen, um uns zu behaupten. Wir wissen nicht, was in vier Jahren sein wird. Es ist gut möglich, dass die amerikanische Demokratie noch funktioniert. Die Hoffnung ist, dass wir in vier Jahren zu einer besseren transatlantischen Zusammenarbeit zurückfinden. Viele Amerikaner, die seit seiner ersten Präsidentschaft wissen, wie Trump agiert, haben ihn wieder gewählt. Ist das nicht eine klare Absage an liberale Strukturen? Viele Wähler in Thüringen und Sachsen haben sich für BSW und AfD entschieden, viele Wähler in Frankreich für Marine Le Pen, viele Wähler in den Niederlanden für Geert Wilders und viele Wähler in Großbritannien für den Brexit und Nigel Farage. Das ist ein Trend, nicht nur in den USA, sondern in den meisten liberalen Demokratien. Es gibt also nicht nur eine geopolitische Analyse: Wir müssen mit unserer Selbstbehauptung beginnen, indem wir die Ukraine unterstützen. Es gibt auch eine innenpolitische Analyse: Was müssen wir Liberale tun, Links-, Mitte-, Rechts-Liberale, damit mehr Wähler zurückkommen? Das ist die Analyse, die wir machen müssen! Dazu gehören sicherlich die Folgen einer neoliberalen Wirtschaftsordnung über mehrere Jahrzehnte. Dazu gehört auch eine selbstkritische Analyse einer überzogenen Identitätspolitik. Das sind meines Erachtens die Felder, auf denen wir uns bewegen sollten, und nicht so sehr in die Richtung: Ach, dieses Amerika ist doch verloren und so anders als wir Europäer! Seit der Finanzkrise 2008 hat die Kritik am Neoliberalismus stark zugenommen, dennoch scheinen die Kräfte des Neoliberalismus ungebrochen. In der Tat. Auch in der nur scheinbar paradoxen Form, dass große Milliardäre wie Elon Musk enge Vertraute von Trump sind, dass er mehr Unterstützung von Milliardären erhalten hat als Kamala Harris. Man spricht hier von Plutopopulismus. Ich sehe hier ein strukturelles Problem. Eines der Geheimnisse der liberalen Demokratie war, dass Reichtum und Macht getrennt waren. Über viele Jahrtausende gingen Reichtum und Macht Hand in Hand. In der liberalen Demokratie waren sie eine Zeit lang getrennt. Gerade in der neoliberalen Ordnung, im globalisierten Finanzkapitalismus kommen sie wieder zusammen. Wir erleben so etwas wie eine Plutokratie, zwar nicht in Reinform, aber doch mit erkennbaren Zügen in diese Richtung. Das ist ein Grundproblem, das Liberale zu wenig angehen, vielleicht aus dem einfachen Grund, weil sie das Gefühl haben, dass sie das Geld des Finanzsektors und der Milliardäre brauchen, um überhaupt Politik machen und Wahlen gewinnen zu können. Welchen Eindruck macht Elon Musk auf Sie? Ist es nicht gefährlich, wenn Leute wie er in die Politik drängen? Sehr gefährlich! Angefangen bei Twitter. Wie Sie wissen, habe ich viele Jahre zum Thema Meinungsfreiheit gearbeitet. Twitter war neben Wikipedia eine der relativ wenigen wirklich großen positiven Errungenschaften des Internetzeitalters. Twitter war so etwas wie eine globale Agora, eine globale Öffentlichkeit, ein Ort des Habermas’schen öffentlichen Diskurses. Elon Musk ist dabei, das zu zerstören. Aus Twitter ist „Xitter“ geworden, was man im Englischen unterschiedlich aussprechen kann, als „Zwitter“, aber auch als „Shitter“. Das ist eine Katastrophe. Nicht nur für die amerikanische, sondern auch für unsere freiheitlichen Demokratien ist das extrem schädlich. Hinzu kommt, dass dieser Mann fast direkt im Wahlkampf versucht hat, Stimmen zu kaufen. Nicht ganz so wie Russland in Moldawien, aber das Angebot von einer Million Dollar als Preis in einer Lotterie, die in Richtung Trump gehen sollte, war sehr gefährlich. Diese Mischung aus Plutokratie und Populismus ist das Schlimmste, was es im Westen gibt. Die amerikanischen Institutionen scheinen einem Stresstest unterzogen zu werden. Trump weigert sich, am Ende seiner Amtszeit das Weiße Haus zu verlassen, das Kapitol wird massiv angegriffen. Was macht Sie optimistisch, dass die Institutionen eine weitere Amtszeit überstehen werden? Was macht Sie optimistisch, dass ich in dieser Frage optimistisch bin? In der Analyse bin ich überhaupt nicht optimistisch, im Gegenteil, ich glaube, wir dürfen uns keine Illusionen machen, wir haben eine sehr schwierige Zeit vor uns. Angefangen natürlich mit den Zöllen, laut Trump sind die „tariffs“ das schönste Wort in der englischen Sprache. Das sind zwei miteinander verbundene Themen, Europa und die Unterstützung der Ukraine, der Protektionismus, die Frage der Zukunft der amerikanischen Demokratie. Ich spreche zu Ihnen aus einem Land, in dem die Demokratie, das kann man jetzt wirklich sagen, die Bedrohung durch den Populismus in der Zeit von Boris Johnson wirklich überlebt hat. Das Paradoxe ist, dass die Gewaltenteilung, die Unabhängigkeit der Gerichte, die Neutralität der Bürokratie sich als überlebensfähig erwiesen haben, und das in einem Land, in dem es keine geschriebene Verfassung gibt. In dem Land, in dem es eine geschriebene Verfassung genau zu diesen Themen gibt, in den Vereinigten Staaten, ist sie ernsthaft bedroht. Wie wir inzwischen gehört haben, hat Trump praktisch alle drei Gewalten mehr oder weniger in seiner Hand. Das Weiße Haus, den Kongress, beide Häuser, und einen Supreme Court, der mit ihm sympathisiert. Und wir wissen, dass Trump vorhat, die Bürokratie, den Verwaltungsapparat des Staates, schnell und radikal in seinem Sinne zu politisieren. Aber es gibt noch einige wichtige Gegenkräfte, Checks and Balances, die Medien sind noch wirklich frei. Zweitens die Bundesstaaten. Amerika hat ein föderales System. Und drittens die öffentliche Meinung, die Hälfte der Bevölkerung, die nicht für Trump gestimmt hat. Zusammengefasst ist das die größte Bedrohung für die amerikanische Demokratie seit 200 Jahren. Viele sagen, Trump sei ein Faschist. Sie auch? Dahinter verbergen sich eigentlich zwei Fragen: Ist es analytisch sinnvoll, den Vergleich mit dem Faschismus zu ziehen? Wie bei allen historischen Vergleichen ist es wichtig, die Ähnlichkeiten, aber auch die Unterschiede zu sehen. War und ist es politisch nützlich, den Begriff Faschist zu verwenden, wie es John Kerry und Kamala Harris getan haben? Zur ersten Frage würde ich sagen: Ja, wir sollten uns vor dem Faschismus-Vergleich nicht scheuen, auch wenn er – gerade in Deutschland – in den letzten Jahrzehnten oft überstrapaziert wurde. Ich erinnere mich noch gut an die 70er Jahre in Deutschland, wo fast jeder als Faschist bezeichnet wurde. Ich bin der festen Überzeugung, dass es politisch wenig bringt, diesen Begriff zu verwenden. Wir sollten vielmehr an die Ursachen gehen und schauen, wie wir diese Wählerinnen und Wähler zurückgewinnen können. Sicher nicht, indem wir sie als Faschisten beschimpfen. Trump wird sich wohl zunächst auf die Innenpolitik konzentrieren. Aber was bedeutet es für Europa, jetzt Trump auf der einen und Putin auf der anderen Seite zu haben? Wie stabil ist die Europäische Union, um diesem Druck standzuhalten? Zunächst eine metahistorische Antwort: Wir befinden uns in einer Phase, in der Integrations- und Desintegrationskräfte, zentripetale und zentrifugale Kräfte miteinander konkurrieren. In fünf oder zehn Jahren werden wir sehen, welche dieser Kräfte in Europa die Oberhand gewonnen hat. Aber das Phänomen an sich ist neu. Vor zehn, fünfzehn Jahren hätte man das nicht betonen müssen, da waren die Integrationskräfte immer stärker als die Desintegrationskräfte, das gilt auch für die Zeit der Eurokrise. Jetzt liegt es an uns! Wenn wir die Chance der doppelten Krise, Putin auf der einen Seite, das Vorpreschen in der Ukraine, machen wir uns da keine Illusionen, gerade in der Perspektive von Trump und dem sogenannten Deal und seinem Protektionismus, seinem transatlantischen Verhalten, seiner Skepsis gegenüber der Nato, wenn wir uns nicht zusammenreißen, dann geht es in Richtung Desintegration. Warum genau? Wenn ich mir Deutschland anschaue, ein halbes Jahr, bis eine neue Regierung steht, wirklich? Ist das ernst gemeint? In einem so kritischen Moment? Das ist doch absurd. Wenn die Zeit der Ampel-Koalition vorbei ist, sollte man doch so schnell wie möglich Neuwahlen haben und eine neue Regierung bilden. Frankreich hat eine wirklich schwache, instabile Regierung mit einem schwachen Macron, Großbritannien versucht nach dem Brexit vielleicht einen Reset mit Kontinentaleuropa, aber doch auch eine special relationship mit den USA zu haben. Dann Giorgia Meloni in Italien und dann die Trump-Partei: So etwas gibt es jetzt in Europa: Victor Orbán, Fico, vielleicht Meloni, Wilders, Kaczynski, Marine Le Pen, Nigel Farage. Das schwächt Europa. Es sieht nicht gut aus, aber es liegt an uns. Deutschland macht keinen guten Eindruck, VW in der Krise, die Ampel ist Geschichte. Wie sehen Sie das Land? Ja, es sieht instabil aus, ganz klar. Und ich bin sehr gespannt auf die Memoiren von Angela Merkel ( lacht ). Die Frage ist, wie man aus dieser tiefen Krise des korporatistischen, neomerkantilistischen Wirtschaftsmodells herauskommt, das 25 Jahre lang gut funktioniert hat: billige Energie aus Russland, Sicherheit aus den USA, große Exporte nach China. Wir alle kennen diese Geschichte. Die Frage ist: Wie kommen wir da raus? Und da braucht es radikale Reformen. Und dazu braucht es eine neue Regierung. Nicht nur Europa, auch die Ukraine steht unter großem Druck. Was ist mit dem „Deal“, den Trump angeblich im Kopf hat, mit einer entmilitarisierten Zone: Welche Folgen hätte das? Ich bin erschrocken. Ich habe viel Zeit in der Ukraine verbracht, war seit Beginn des großen Krieges sechsmal dort, zuletzt im September. Die Vorstellung, dass dieser Krieg mit einer solchen Niederlage endet ... Machen wir uns nichts vor, Verlust von 20 Prozent des Territoriums plus Neutralisierung: Das nennt Frau Wagenknecht „Frieden“. Das ist kein Frieden! Das ist eine Niederlage. Das ist Unsicherheit für die Ukraine und für ganz Europa. Das ist nur eine Atempause von ein paar Jahren, bis Putin es wieder versucht. Hochrangige ukrainische Politiker und Militärs räumen in Gesprächen ein, dass eine Rückeroberung der besetzten Gebiete auf absehbare Zeit nicht möglich ist. Es geht also vor allem um Sicherheit, und dazu braucht es mehr und nicht weniger militärische Unterstützung der Ukraine durch Europa, um die Frontlinie zu stabilisieren und Putin das Gefühl zu geben, dass er nicht mehr gewinnt. Zweitens brauchen wir eine Einladung an die Ukraine, der Nato beizutreten, wofür Großbritannien, Frankreich und Polen sind und wogegen die USA und das Deutschland von Olaf Scholz sind. Man kann das nicht morgen machen, aber man muss konkrete Schritte machen, damit das Land Schritt für Schritt in Sicherheit kommt. Das war das Geschenk der Geschichte an Westdeutschland in den 50er Jahren, nach einem Krieg, den Deutschland begonnen hatte. Wollen Sie als Deutsche der Ukraine verweigern, was Sie selbst bekommen haben? Ich hoffe, dass diese Frage im deutschen Wahlkampf sehr direkt gestellt wird. Trump gilt als chaotisch und unberechenbar; es gibt viele internationale Krisen und Konflikte. Besteht die Gefahr eines Weltkriegs? Erstens: Um die Gefahr eines Weltkriegs abzuwenden, müssen wir in Europa der Ukraine zu einem guten und dauerhaften Frieden verhelfen. Zweitens ist Trump natürlich unberechenbar. Dass es einen großen Krieg durch ihn geben wird, glaube ich aber nicht, weil es bei ihm einige Dinge gibt, wo er über viele Jahre relativ konsequent war. Das eine ist der Protektionismus, seine Vorliebe dafür reicht bis in die 1980er Jahre zurück. Er mag aber auch keine Kriege im Ausland, an denen die USA beteiligt sind: Ukraine, Naher Osten, Afghanistan, Irak. Er würde die USA eher zurückziehen, als sich dort zu engagieren, die Gefahren unter ihm sind nicht zu unterschätzen, aber diese Gefahr scheint mir bei ihm eher nicht gegeben zu sein. Zumal es auf der anderen Seite eine Achse zwischen China, Russland, Iran und Nordkorea nicht gibt. Das ist viel transaktioneller und klarer konditioniert. Ich sehe weder ein kriegerisches Amerika noch eine kriegsbereite Achse auf der anderen Seite. Was lehren uns die Osteuropäer, wie man Demokratie verteidigt? Eine schöne Frage, gerade für mich. Polen war Anfang letzten Jahres eine illiberale Demokratie. Eine liberale Demokratie in Zerfall. Das ist kein Dauerzustand, das ist eine Phase, sie war viel stärker bedroht, als es die amerikanische Demokratie heute ist. Aber in einer doch unfreien Wahl am 15. Oktober letzten Jahres haben die Polen das Ruder herumgerissen, dank einer geeinten Opposition mit einer guten aktiven Führung und einer unglaublichen Wahlbeteiligung, der höchsten in der Geschichte Polens. Mehr Frauen als Männer gingen wählen, mehr junge als ältere Menschen. Jetzt gehen die Polen den umgekehrten Weg. Statt einer Entdemokratisierung erleben wir eine Re-Demokratisierung. Das Beispiel Polen zeigt uns, wie es gehen kann.