Sunday, November 10, 2024
Der Bundespräsident reagiert unsouverän auf Kritik
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Der Bundespräsident reagiert unsouverän auf Kritik
Artikel von Jürgen Kaube • 1 Std. • 3 Minuten Lesezeit
Ohne falsche Rücksichtnahme: Marko Martin während seiner Rede in Schloss Bellevue
Der Bundespräsident applaudierte nicht. Er hatte den Redner, Marko Martin, eingeladen, zum 35. Jahrestag des 9. November 1989 im Schloss Bellevue zu sprechen. Martin, Journalist, Schriftsteller und zeithistorischer Autor zahlreicher Sachbücher, nahm sich die Freiheit, offen zu reden. Er hielt dem Bundespräsidenten vor, was dieser als Außenminister betrieben hatte: eine naive Politik gegenüber Wladimir Putin; den Versuch, Nord Stream 2 zu einer Grundlage der deutschen Energieversorgung zu machen; ein Abwiegeln der Sorgen in osteuropäischen Ländern gegenüber Russland. 2016 hatte Steinmeier NATO-Manöver in Nordpolen als „Säbelrasseln“ bezeichnet. Da hatte Putin die Krim schon überfallen, und der Krieg in der Ostukraine war im Gange. Später fiel der abfällige und gleich wieder bedauerte Begriff „Kaliberexperten“ für Teilnehmer an der Diskussion über Waffenlieferungen an Kiew.
Weshalb das alles bei einer Feierstunde der Wiedervereinigung? Marko Martin betrachtete solche Irrtümer als symptomatisch für die SPD. Schon Egon Bahr habe die polnische „Solidarność“, deren Streik 1980 auslöste, was neun Jahre später zum Mauerfall und Einsturz der Sowjetunion führte, als Gefahr für den Weltfrieden bezeichnet. Das war unter Linken nicht unüblich. Man sah die deutsch-deutsche Entspannungspolitik durch die katholischen Werftarbeiter gestört. Martin zitierte die chauvinistische Frage Peter Rühmkorfs, wer denn jetzt den Mut aufbringe, den Polen Arbeit und Disziplin zu verordnen.
Die Intellektuellen erschweren alles?
Heute haben wir den Krieg in der Ukraine und eine SPD, in der dem Putin-Freund Gerhard Schröder gerade vom neuen Generalsekretär Matthias Miersch wieder die Türen zur Partei geöffnet worden sind. Von Rolf Mützenich, dem Fraktionsführer im Bundestag, wissen alle, dass er die Bundesrepublik weniger als Verbündete der Ukraine sieht denn als Vermittler im Konflikt. Das sieht darüber hinweg, wie sehr die militärische Unterstützung und der diplomatische Erfolg zwei Seiten derselben Medaille sind. Martin beklagte die Mentalität derer, die keinen Sinn für die Sicht der osteuropäischen Staaten haben, keinen Sinn dafür, dass die Ukraine auch für unsere Freiheit kämpft, so wie es die Polen getan hatten.
Nach der Rede, so Martin, sei der Bundespräsident aufgebracht gewesen. Er fühlte sich diffamiert. Er habe gesagt, die Politiker versuchten Probleme zu lösen, aber die Intellektuellen erschwerten alles.
Aufgebrachtsein steht dem Nachdenken entgegen. Die Beschwerde Steinmeiers setzt zum einen voraus, dass Martin etwas Falsches gesagt hat. An der knappen Maxime „Wir bekommen Gas von den Russen, exportieren nach China und werden beschützt von den Vereinigten Staaten“, die er der großen Koalition unter Angela Merkel und dem damaligen Außenminister Steinmeier vorhält, ist aber nichts Falsches. Es wurde nach ihr gehandelt.
Dem eigenen Selbst ins Auge schauen
Weshalb also kann der Bundespräsident seiner gestrigen Person nicht in die Augen schauen, die er auf freundlichsten Fotos mit Putin, Lawrow, Medwedew sieht? Gewiss, er war der oberste deutsche Diplomat. Aber hat er es mit der Freundlichkeit nicht doch übertrieben? Sollen wir ihm abnehmen, gelernt zu haben, wenn er im Zorn auf den Schriftsteller selbstgerecht bleibt?
Zum anderen findet der Bundespräsident, wenn wir Marko Martin glauben können, dass die Intellektuellen unsachgemäß stören. Das ist überraschend. Denn meistens tun sie das ja gar nicht. Oder empfindet er die Einlassungen des von ihm bewunderten Heinrich Böll zum Kampf gegen Linksterrorismus in den Siebzigerjahren auch als so eine unsachgemäße Störung?
Jetzt hat einmal einer gestört, indem er in einer Feierstunde auf unangenehme Tatsachen hingewiesen hat. Die souveräne Antwort seitens Steinmeiers wäre gewesen, sich zu erklären. Und zwar diesseits von Formeln wie „Heute haben wir einen anderen Kenntnisstand“, so als hätte der von 2014 oder 2016 nicht ausgereicht, um über Putin Bescheid zu wissen. So, als wäre es kein politischer Wille gewesen, sondern ein leicht verzeihliches kognitives Defizit.
Viele Politiker machen dieser Tage keine gute Figur. Sie wirken wie Allegorien der Ausrede. Ausflüchte, wohin man schaut, verpackt in Anrufungen des Amtseides und der Verantwortung. Immer haben sie bis dahin nahezu alles richtig gemacht. Stets müssen sie im Grunde nichts dazulernen. Natürlich sind sie durch das Erzählen solcher Märchen nicht unehrlicher als der Rest der Gesellschaft. Aber sie tun so und herrschen beispielsweise einen Autor an, nur weil der ausgesprochen hat, was nicht nur viele denken, sondern was zutrifft und zumindest diskutiert werden kann.