Monday, January 8, 2024
Zum Tod von Franz Beckenbauer: Leichtfüßig am Ball und auf jeder Bühne
Tagesspiegel
Zum Tod von Franz Beckenbauer: Leichtfüßig am Ball und auf jeder Bühne
Artikel von Robert Ide •
53 Min.
Er wurde als Lichtgestalt verehrt und am Ende seines Lebens doch von vielen verteufelt. Jetzt ist Franz Beckenbauer, die wohl größte Legende des deutschen Fußballs, mit 78 Jahren verstorben.
Er war ein Mensch, von dessen Leben viele Menschen träumten, wenn sie sich ein traumhaftes Leben vorstellten. Leichtfüßig am Ball und auf jeder Bühne, gewandt beim Reden und in der ganzen Welt, berühmt für seinen angeblich bodenständig erworbenen Reichtum und seine wahrhaft liebenswerte Lässigkeit. Franz Beckenbauer wirkte sein Leben lang so gar nicht deutsch. Und war deshalb einer der beliebtesten und berühmtesten Deutschen der Gegenwart.
Nun ist sie gestorben: die Legende, in der viele Fans weltweit nicht nur einen Weltfußballer, Weltmeistertrainer und Weltbotschafter Deutschlands sahen, sondern nicht weniger als eine Lichtgestalt. Eine zum Glück selten zu grell glänzende Erscheinung, auf die am Ende eines fast lebenslangen Lebensglücks doch ein Schatten gefallen war – weil es offenbar selbst ein Beckenbauer nicht vermochte, ein sauberer Junge zu bleiben.
Noch in Jahrzehnten wird er, der Franz, dennoch Stoff liefern für Geschichten und eine Geschichte, die fast zu wunderbar war, um wahr zu werden: vom Arbeiterjungen aus München-Giesing, der, egal wo er aufdribbelte, spielend die Herzen und Träume der Menschen eroberte.
Geboren direkt nach dem Krieg spielte er in München Fußball auf der Asche eines zertrümmerten Landes. Der Sohn eines Postobersekretärs wuchs mit seinem älteren Bruder in ärmlichen Verhältnissen auf. Und arbeitete sich, stets mit Liebe unterstützt von seiner Mutter, bis hoch in die Elite des Wirtschaftswunderlandes, das auch mit Hilfe des Fußballs die eigene, mörderische Vergangenheit gern vergessen wollte.
Als er 17 war, sah ich ihn zum ersten Mal spielen. Der Boden war nass, alle rutschten aus, nur Beckenbauer tanzte über den Platz.
Rudi Houdek, früher Förderer von Franz Beckenbauer
Franz Beckenbauer war früh einer, den wenige vergessen konnten – wenn sie ihn elegant spielen sahen, wenn sie ihn frech daherreden hörten, wenn sie erlebten, wie er durch die Reihen der Gesellschaft tänzelte. Bis an die Spitze, von der er erst in den letzten Jahren seines Lebens fiel.
Beckenbauer hatte die Gabe weniger Menschen, scheinbar mühelos nahezu jede Rolle anzunehmen. Er beehrte Könige zahlloser Länder, die ihn als Kaiser des Fußball verehrten, schenkte afrikanischen Jungen neue Fußballstutzen und sich selbst unablässig neue Werbeverträge, er schrieb nahezu sein ganzes Leben Autogramme und verloste höchstselbst in Berlin die letzten Tickets für die Fußball-WM 2006, die er auf verschlungenen und wohl auch nicht legalen Wegen nach Deutschland gelotst hatte.
Und in jedem dieser Momente purzelten ihm angemessene und wegen kleinerer eingebauter Unangemessenheiten bleibende Worte aus dem Mund. So wie ihm auf dem Rasen stets die richtigen Ideen vom Fuß gegangen waren.
Bei drei Weltmeisterschaften triumphierte er – welcher Fußballer schafft das schon? 1974 bezauberte er die Welt. Der Bayern-Star gestaltete als Libero das Offensivspiel, was ihm letztlich den Spitznamen „Kaiser“ einbrachte. 1990 überraschte er die Welt. Ohne Trainerlizenz führte er die Nationalmannschaft als Teamchef zum Titel; es war die erste deutsch-deutsche Party nach dem Mauerfall.
Zwischendurch machte er den Fußball in Amerika populär. Und immer Werbung, Werbung, Werbung, fast sein ganzes Leben lang, „wofür weiß ich auch gerade nicht“. Er kokettierte mit der eigenen Berühmtheit selbst während des Sommermärchens 2006, das wirklich eines war.
Als das Leben plötzlich leicht wurde wie ein aufgepumpter Fußball, da merkte Deutschland zum ersten Mal, was es wirklich an sich haben kann, wenn es die weite Welt an sein enges Herz lässt.
Als der Ball rollte bei der WM 2006, die von Beckenbauers Team bis zur Freundlichkeitskampagne für Berlins Grummel-Taxifahrer gründlichst vorbereitet worden war, da fand das plötzlich wieder fahnenschwenkende Land in seiner Mitte ein Idol, das die Welt des Fußballs schon längst für sich entdeckt hatte: Franz Beckenbauer, den nonchalanten Weltreisemeister und Allesgewinner, der mit Politik, Macht und Geld genauso umzugehen vermochte wie mit dem Ball.
Nur wenige durften hinter seine Sonnenbrille schauen
Mit dem Flugzeug jettete der WM-Chef um den Globus als Deutschlands lässig gebräuntes Gesicht, stets die getönte Sonnenbrille auf der Nase, so als komme er gerade von seinem Golfplatz – aber auch, um sich die Welt, die andauernd fragte, was er wohl gerade mache und wie es ihm gehe, wenigstens noch ein bisschen vom Leib zu halten.
Mit dem eigenen Hubschrauber schwebte er dann beim Turnier zwischen den Stadien hin und her, um alle Spiele zu sehen, alle Interviews zu geben, alle wichtigen Hände zu schütteln und zwischendurch auch noch wie nebenbei seine letzte Ehefrau zu heiraten. So flog er locker dem damals schon verhassten Fifa-Präsidenten Joseph Blatter davon – und ließ sich dabei nicht anmerken, wie sehr er gleichzeitig unter dem Tod seiner Mutter litt. Hinter seine Sonnenbrille durften nur wenige schauen.
Franz Beckenbauer war gerade im Jahr 2006 ein Spiegelbild der Sehnsucht nach einem unverkrampfteren Deutschland und nach einem doch noch ehrlichen Fußball. Doch 2015, fast ein Jahrzehnt nach der WM, fiel der Spiegel zu Boden. Beckenbauer geriet in seinem auch von gesundheitlichen und privaten Rückschlägen begleiteten Ruhestand in die Krise.
Und Deutschland musste sich an eine Gewissheit gewöhnen, die es trotz mancher Ahnung nicht wahrhaben wollte: Das Sommermärchen vom hehren Land, das den Fußball und sich selbst leichter macht, ganz ohne Gemauschel – das war auch ein Märchen. 5,5 Millionen Euro hat Beckenbauer für seine Dienste erhalten, wie hinterher herauskam.
Verdient hätte er das womöglich für seine Arbeit, aber die ehrenamtliche Erzählung vom aufopferungsvollen Franz, der sich vom Arbeiterbolzplatz bis auf die Vip-Tribüne der Welt beim WM-Finale hochgearbeitet hatte, ging anders als die wahre Geschichte von Beckenbauer, der sich als Fußballfunktionär auch kaum von den anderen schmiergeldgierigen Fußballfunktionären unterschied.
In der durchkapitalisierten und durchkorrumperten Welt der Sportverbände war und ist der so einfache und deshalb so universelle Sport – zwei Tore, ein Ball, fertig - nicht mehr als eine Ware, erst recht nicht weniger. Der WM-Deal wurde abgewickelt über einen Marketingvertrag mit einem Staatssponsor und verheimlicht – einem Land, das unbedingt an das Gute in ihm und in sich glauben wollte.
So lief nach dubiosen Zahlungen im Zuge der WM-Bewerbung auch ein Strafverfahren gegen Beckenbauer wegen des Verdachts auf Betrug und Geldwäscherei. Beckenbauers Helfer im DFB und auch sein undurchsichtiger Kompagnon Fedor Radmann, der mit ihm in aller Welt Stimmen gesammelt und dabei auch mal Geldbündel in der Badehose dabei hatte, wurden später haftbar gemacht. Beckenbauer selbst legte ärztliche Atteste vor.
Er demütigte den Gegner und dessen Anhänger, hielt Zwiesprache mit dem Volk, selbstbewusst, herausfordernd und vernichtend zugleich.
Der Tagesspiegel über Beckenbauers Auftritt im Pokalfinale 1969
Jahrzehntelange Männerfreundschaften gingen in die Brüche – und auch Deutschlands glanzvolles Bild von Franz Beckenbauer. Seine alten Sätze aus der Traumwelt des Fußballs wirkten später merkwürdig unwürdig: „Dass jeder die Hand aufhält, das macht mich wirklich traurig.“ Was man damals noch nicht wusste: Franz Beckenbauer wusste es aus erster Hand.
Bevor Beckenbauer als Kaiser abdanken musste, war er auf dem Gipfel – und er hielt sich dort oben wie kaum ein anderer. Atemberaubend war sein Aufstieg, ganz klein angefangen hatte alles beim SC München 06. Mit seiner Straßenmannschaft schoss er Stoffknäuel über zerbombte Bürgersteige. Dann dribbelte er im Verein vor, spielte fortan mit echten Bällen. Sein erster Trainer war ein Soldat, der im Krieg ein Bein verloren hatte und trotzdem weiterspielte, mit Krücken. Einer seiner Vorbilder, einer seiner vielen Begleiter.
Vier Treppen rannte der kleine Beckenbauer hinab auf den Fußballplatz vor seiner Tür. Sein Vater wollte das nicht, aber die Mutter, die gutmütige Antonie, ließ ihn gewähren. Tag für Tag wetzte er die Holzstufen runter durch das dunkle Haus, von Mal zu Mal wurde er schneller, wendiger. „Ich hatte Angst bei den Funzeln, hinter jedem Pfeiler habe ich jemanden vermutet“, berichtete Beckenbauer später seinem Biografen Torsten Körner. Vier Treppen tiefer wartete die Freiheit. Der kleine „Franzi“, so hieß er in der Familie, lief der Angst davon, auch dem Vater. Nur der Ball blieb an seinem Fuß kleben.
„Als er 17 war, sah ich ihn zum ersten Mal spielen. Der Boden war nass, alle rutschten aus, nur Beckenbauer tanzte über den Platz“, erzählte später Rudi Houdek, einer seiner Unterstützer. Der Fleischfabrikant aus Starnberg lud den Jungen zum Kaffee ein, half ihm beim Aufstieg mit ersten Verträgen – und wurde später Wurstlieferant der Nationalmannschaft.
Einige erkannten Beckenbauers Talent früh, förderten es und hatten später viel davon. Bayern-Impresario Robert Schwan etwa, sein langjähriger Manager und – will man Weggefährten glauben – sein Ersatzvater. Der brachte ihm Disziplin bei, Pünktlichkeit, Korrektheit nach außen. Spießige Tugenden des Erfolgs. Beckenbauer hatte sie bis zuletzt verinnerlicht. Denn so weich er zuweilen nach außen wirkte, so hart arbeitete er an sich selbst und im Zweifel auch gegen andere.
Schon als Fußballer setzte er immer seinen Willen durch. Als Libero öffnete er das Spiel aus der Abwehr heraus. „Immer wenn er von hinten kam, mussten wir vorne Platz machen“, erinnerte sich Günter Netzer. Und die Spieler taten es, sie erkannten die Eleganz an, mit der er den Ball behandelte, während er mit erhobenem Kopf das Feld bestellte. Sie akzeptierten sogar seine Härte, die keine Könige neben dem Kaiser duldete.
Rainhard Libuda, dem Publikumsliebling des FC Schalke 04, zog der Münchner Regisseur im Pokalfinale 1969 an der Hose, um ihn aufzuhalten. Fortan war Beckenbauer der Buhmann – bis zu jener Szene, die der Tagesspiegel damals so beschrieb: „Statt sich schuldbewusst zu ducken, nahm Franz den Ball genau in jener Ecke, wo das Geschrei am vernichtendsten klang, und jonglierte ihn von einem Fuß zum anderen, auf den Kopf und wieder auf den Fuß. Beckenbauer führte seine Privatvorstellung etwa 40 Sekunden lang fort und schob dann den Ball zur Seite wie einen leeren Suppenteller. Schalker und Bayern und 64.000 Zuschauer starrten wie gelähmt auf Beckenbauer. Er demütigte den Gegner und dessen Anhänger, hielt Zwiesprache mit dem Volk, selbstbewusst, herausfordernd und vernichtend zugleich.“
Es war diese Unnahbarkeit, die Beckenbauers Aura auch später nährte - und sein gleichzeitiges öffentliches Bemühen, einer zum Anfassen zu bleiben. In diesem Widerspruch lag – neben seiner fußballerischen Kunst – seine Faszination. „Wenn es Götter gibt, ist er einer, der von Gott begünstigt wird“, sagte einmal Wolfgang Schäuble über ihn. Als Sport- und Innenminister hatte der Politiker lange mit Beckenbauer zu tun, als Fußballfan sowieso.
Schäuble, der vor wenigen Tagen verstorben ist, hat Beckenbauers öffentliche Doppelschichtigkeit einmal so beschrieben: „Nach dem WM-Gewinn 1990 als Trainer ist er allein durchs Stadion gelaufen, in sich gekehrt mit den Händen in den Taschen. Und dann das Gegenteil im Aktuellen Sportstudio, da hat er den Ball von einem Weißbierglas auf die Torwand geschossen. Und der war drin.“ Nicht zu fassen, dieser Franz, wieder mal.
Das Phänomen Beckenbauer zu erklären, fiel selbst vielen schwer, die ihn jahrzehntelang begleiteten. Jeder, der es versuchte, sprach von Freundlichkeit, Fleiß, Bescheidenheit im Umgang, Mut zu harten Entscheidungen in richtigen Momenten, natürlich auch Glück. Aber das Geheimnis hinter dem vielen, was über ihn bekannt war und was jeder über ihn zu wissen glaubte, blieb bis zum Schluss verborgen.
Auch weil Beckenbauer gerne mal schwieg, wenn andere mit ihm und über ihn redeten. Nach offiziellen Terminen lächelte er, schrieb Autogramme, eine Viertelstunde lang, eine halbe Stunde, noch länger, wenn es sein musste – bis keiner mehr was von ihm wollte. Und dann is a Ruah.
Bis zum Schluss blieb die Lebenswelt seine Familie – seine beiden jüngeren Kinder, für die er als Rentner endlich da sein konnte (im Gegensatz zu seinen älteren, die er kaum aufwachsen gesehen hatte) und die ihn als Teenager in enge emotionale Pflege nahmen. Im Salzburger Land lebte er mit seiner Familie, spielte Fußball im Wohnzimmer und freute sich, wenn dabei ein Glas zerschepperte.
Das Internet-Zeitalter ließ er über sich hereinbrechen, ohne daran teilzuhaben. Während andere auf dem Handy daddelten, wehrte er mit beiden Händen ab. „Da schaue ich zur selben Zeit aufs Meer hinaus, entspanne mich, meine Gedanken fließen. Was bitte schön ist wichtiger?“
Franz Beckenbauer war lieber ein Beobachter seiner Umgebung, hatte Spaß an den Details um sich herum. Einmal schüttelte er sich vor Lachen, als er einem Berliner – vergeblich – zu erklären versuchte, wie man eine Weißwurst richtig isst. Mit diebischer Freude summte er die eigene Handymelodie mit – sie spielte das Lied, mit dem er 1966 die Charts gestürmt hatte: „Gute Freunde kann niemand trennen.“
Am Schluss eines Arbeitstages, und dies waren auch als globaler Jetsetter viele in Beckenbauers Leben, gönnte er sich den Genuss der Gewissheit, etwas geschafft zu haben. Dazu eine Zigarre im Hotel, ein Glas Rotwein, ein leises Lächeln kaum lauter als die Stille, die ihn am Schluss immer mehr umgab.
„Er kann manchmal sehr verschlossen sein“, sagte Heidi Beckenbauer, seine dritte Ehefrau. Dabei lebte ihr Mann fast sein gesamtes Leben öffentlich. Erfolg und Affären, Glück und Scheidungen waren dem Publikum stets bekannt. Auch sein Rückzug am Schluss wurde weithin verfolgt: wie sich viele Freunde und Bekannte von ihm abwendeten, weil er zu den Korruptionsvorwürfen schwieg. Wie er zwei Herz-OPs überstand, mit Hüftproblemen kämpfte, ihm die Augen mehr und mehr versagten, er nicht mehr Ski fahren konnte. Wie auch noch sein Sohn starb, mit nur 46 Jahren an Krebs.
In den letzten seiner 78 Lebensjahre zog sich Franz Beckenbauer in sich zurück. Zum ersten Mal. Er glaubte sowieso an Wiederauferstehung – „vielleicht ja als Pflanze“.
Wenn Idole fallen und Fußball-Kaiser abdanken, dann verliert die Öffentlichkeit ein Stück freudiger Erinnerung. Die WM 2006 war ein Ereignis der Weltläufigkeit, das nach außen leuchtete und nach innen einte. Es schuf ein neues Bild von Deutschland und zunächst ein noch größeres von Franz Beckenbauer. Nur die Frage, wie das Märchen Wahrheit werden konnte, wurde im Moment des Glücks lieber nicht gestellt. Am Ende hat sich Deutschland ein wenig zu leicht genommen.
Das immerhin hat Franz Beckenbauer nie getan. Denn das Schwerste im Leben ist ihm gelungen: es leicht zu machen.