Monday, January 29, 2024
Wie ich die Deutsche Bahn wieder schätzen lernte
WELT
Wie ich die Deutsche Bahn wieder schätzen lernte
Artikel von Felix Eick •
3 Std.
Viele meckern über die Deutsche Bahn. Doch was unser Autor in den USA erlebte, glich einem regelrechten Horrortrip. Flixbus schickte ihn binnen 48 Stunden zweimal über Nacht in die Obdachlosigkeit. Selbst in Deutschland könnte so etwas nie passieren.
Ich wandere am Bussteig an der Union Station in Los Angeles seit zwei Stunden zwischen zwei Palmen hin und her. Es ist 2:15 Uhr in der Nacht, ich habe zwei Kapuzen auf, es ist frisch und zugig. Mein Bus nach Phoenix hätte um 0:30 Uhr fahren sollen. Es gibt keine Anzeigetafel, keine Ansagen, die Flixbus-App verschiebt die Abfahrt immer weiter ohne Angabe von Gründen.
Der Security-Mann, der eigentlich zahlreiche Obdachlose vom Gebäude fernhalten soll, ist die einzige Ansprechperson. Er will etwas von einem Platten beim Bus gehört haben. Nach gut zwei Stunden kommt doch ein Bus.
Niemand entschuldigt sich, die Fahrerin kontrolliert in aller Ruhe die Tickets, macht strenge Ansagen, will eine Passagierin, die nachfragt, erst gar nicht mehr mitnehmen. „Es ist nicht meine Schuld“, sagt sie – ein Satz, den ich in den kommenden zweieinhalb Tagen immer wieder hören werde.
Ich setze mich und schlafe sofort ein. Als ich aufwache, stehen wir. Ich blicke mich um und sehe durchs Fenster noch immer die weiß-blau erleuchtete Union Station. In 30 Minuten sind wir geschätzt 400 Meter weit gekommen.
Es ist empfindlich kalt im Bus, der Motor tuckert. Ich gehe zur Fahrerin. Sie weiß nichts, wird auch allein gelassen. Alle harren der Dinge, bis weitere 30 Minuten später die Stimme der Fahrerin aus dem Lautsprecher scheppert: „Der Bus ist ‚broken down‘, die Fahrt gecancelt.“ Es soll ein anderer Bus kommen, allerdings nur, um uns zum Bahnhof zurückzufahren. Das ist absurd, das könnte man laufen, aber wir sollen warten.
Um 3:30 Uhr kommt ein baugleicher Bus. Ein junger Mexikaner bettelt den Fahrer an, mit diesem Bus nach Phoenix zu fahren. „Dieser Bus fährt nicht nach Phoenix“, sagt der Mann dreimal herrisch. Kurz vor 4:00 Uhr steige ich am Bahnhof wieder aus dem Bus.
Flixbus-Horrortrip wird zur wahren Lebensprüfung
Wir werden an einen Schalter geschickt. Der junge Mexikaner kniet vor dem Tresen und weint, er verpasst offenbar eine wichtige Familienfeier in Phoenix. Ich finde seine Frage berechtigt, warum es auf einer solchen Standardstrecke keinen Ersatzbus gibt. Schweigen.
Ich erlaube mir die Frage, ob ein neues Ticket für zehn Stunden später wirklich das Einzige ist, dass man für uns tut. Keine Unterkunft, kein Essen, kein Trinken, keine Entschädigung. Der Mann hinter der Scheibe reagiert nicht einmal: „Next“.
Ich werde später noch merken, wie naiv die Frage war. Ich rufe mir ein Uber, fahre für 25 Dollar in mein Apartment, schlafe eine knappe Stunde und setze mich wieder in die Metro zur Union Station. Viele andere meiner Mitreisenden müssen sich bis 8:35 Uhr rund vier weitere Stunden auf dem Bahnhof herumtreiben.
Mit viel Verständnis und gutem Willen lässt sich vielleicht noch sagen: Gut, kein Ersatzbus, viele besonders unglückliche Zufälle, schlecht bis nicht kommuniziert, bitter gelaufen für mich, aber kann einem, wenn es doof läuft, vermutlich auch in Deutschland passieren.
Was dann aber folgt, wird zum Horrortrip und zur wahren Lebensprüfung. Denn Flixbus sollte mich einen Tag später noch eine zweite Nacht in die Obdachlosigkeit schicken. In einem der zivilisiertesten Länder der Welt, einem Vorbild für die freie Welt. Dieser Zweitages-Trip sollte mir letztlich vor allem auch verraten, warum man doch recht froh mit der zugegeben auch dysfunktionalen Deutschen Bahn und Deutschland überhaupt sein kann.
Ich komme also nach 17 Stunden, zwölf zu spät, im eigentlich nur 590 Kilometer entfernten Phoenix an. Ich verliere zusätzlich Zeit, weil die neue Verbindung mehr Stopps und Pausen einlegt. Ein 70-Dollar-Ticket für ein Eishockey-Spiel am Mittag ist verfallen, ich fahre nur noch in meine Airbnb-Unterkunft.
„Der Bus nach LA fährt 40 Minuten später“
Mein Gastgeber wundert sich über meine Eile unter die Dusche und ins Bett zu kommen. Etwas ungläubig schaut er, als ich skizziere, warum ich in den vergangenen 36 Stunden vier bis fünf Stunden schlecht im Bus geschlafen, schlecht gegessen, sehr viel irgendwo herumgestanden oder herumgelungert habe.
Ich schlafe zehn Stunden durch, bin so weit wieder hergestellt und kehre zu meinem eigentlichen Programm zurück: eine anspruchsvolle Bergwanderung, ein Basketball-Spiel der Phoenix Suns und insgesamt 40.000 Schritte, um dann erschöpft um 23 Uhr den Bus zurück nach L.A. zu nehmen. So zumindest der Plan.
Ich bin rechtzeitig an der Station, habe eine Stunde Puffer. Es scheint alles etwas besser organisiert zu sein als in Los Angeles. Es gibt eine Wartehalle, aus der zehn „Türen“ zu den Bussteigen führen. Dann kommt sogar eine Ansage: „Der Bus nach L.A. fährt 40 Minuten später“.
Ich poste aus Spaß bei Instagram: „Wir starten mit 40 Minuten Verspätung.“ Immerhin: Es gab eine Ansage, ich habe ein gutes Gefühl. Eine Stunde verstreicht. Ich schaue in die App: Ein „Delayed – 0:06“ suggeriert Genauigkeit. Doch nichts, die Abfahrtszeit wird nicht mehr angepasst. Stattdessen bekomme ich eine entlarvende SMS: „Deine Fahrt hat eine Verspätung von 14 Minuten“.
Es ist 0:30 Uhr, ich hole mir mein erstes Snickers und mein erstes Wasser an einem der Automaten. Meine Kreditkarte wird später fünf Flaschen Wasser und vier Snickers nachweisen – meine Überlebensration, denn um die Busstation herum gibt es nichts zu kaufen.
Ein eine Meile entfernter Burger King hat um 21 Uhr geschlossen. Ein Getränke-Automat ist zudem kaputt. Es wird zu meiner Aufgabe in dieser Nacht, die Leute davor zu warnen, Geld hineinzustecken. Es erhärtet sich der Eindruck: Nichts funktioniert hier.
Der letzte Flixbus nach L.A.
Und dann kommt der Schock: Der Bus fällt aus. Wegen einer „mechanischen Sache“. Rund 50 Wartende ringen mit ihren Händen, schauen verzweifelt auf die Frau am Kundenservice-Schalter. Spätestens jetzt merke ich, es geht noch schlimmer als auf der Hinfahrt.
Ich bekomme nicht einmal ein Ticket für den nächsten Bus, sondern werde mir selbst überlassen. Die Frau am Schalter beginnt Briefumschlag-große Zettel zu verteilen. Darauf stehen zwei Telefonnummern für „FLIX“ und „GREYHOUND“. Man muss dazu sagen, ich habe bei Flixbus gebucht, doch Greyhound als „Operator“ bekommen. Die Flix SE (vormals Flixmobility GmbH), die hinter Flixbus steht, hatte den US-Bus-Pionier 2021 gekauft. Wo also anrufen?
Ich habe fünf Prozent Akku auf dem Telefon, hatte gedacht, im Bus laden zu können. Es gibt eine zwei Meter lange Steckerleiste, dort scharen sich nun alle und schreien durcheinander, lassen Lautsprecher krächzen. Einige müssen sich erst noch ein Ladekabel oder einen Adapter an einem Automaten für zehn bis 40 Dollar kaufen. Ich denke: „Aha, dafür ist gesorgt“.
Ein ganzer Wartesaal telefoniert hektisch. Ich werde ebenfalls hektisch und habe das Gefühl, ein Rennen um die Tickets zu verlieren. Denn um 2:25 Uhr soll noch ein letzter Bus nach L.A. fahren. Es ist klar: Alle wollen ein Ticket für diesen Bus. Es ist auch klar: Es sind zu viele Leute im Warteraum, nicht alle werden eines bekommen.
Ich entscheide mich, auch weil das alle tun und scheinbar etwas erreichen, die Greyhound-Nummer zu wählen. Es folgen ewige Belehrungen über Rechte und eine mögliche Aufzeichnung des Gesprächs. Ich gebe Buchungsnummern ein, vertippe mich. Ich höre endloses Hotline-Gedudel. Immer wieder bricht die Verbindung ab.
Schließlich meldet sich eine Frau mit spanischem Akzent. Ich schildere meine Situation, gebe diverse Daten an. Nach zehn Minuten sagt sie: „Ah, Sie haben bei Flixbus gebucht, dann kann ich leider nichts für sie tun.“ Meine Bitten helfen nichts. Sie sagt es wieder: „Es ist nicht meine Schuld“.
Ich muss gegen die Verzweiflung kämpfen, atme durch und wähle die Flixbus-Nummer. Wieder die gleiche Hotline-Kakofonie, bevor diesmal allerdings kein Gespräch, sondern immer wieder eine tote Leitung folgt. Ich vertue weitere 15 Minuten mit dieser Nummer.
Die nächste Flixbus-Baustelle
Ich frage viel herum, alle sind hilfsbereit, aber oft auch hilflos. Eine ältere Frau sagt mir: „Diese Nummern sind ‚shit‘, gib mir mal dein Telefon, ich tippe die richtige ein.“ Sie drückt, sobald die entsprechende Passage beginnt, wild Nullen und Einsen und überspringt so einige Minuten Tonband. In mir keimt neue Hoffnung, doch beim dritten Versuch, lande ich wieder bei Greyhound und ich merke, wie die Frau in der Hotline auch einfach nicht mehr weiß, was sie sagen soll.
Ich buche mir vorsorglich ein Ticket für 8:20 Uhr und decke damit die nächste Flixbus-Baustelle auf: die IT. Das Geld wird bei Paypal sofort abgebucht, Ticket oder Bestätigung erhalte ich nicht. Ich gehe wieder in die App, plötzlich wird ein verfügbares Ticket für den Bus um 2:25 Uhr angezeigt, zuvor war das Feld stets grau hinterlegt und mit „Sold out“ versehen.
Ich klicke sofort darauf, ich will nur noch weg. Die Seite stürzt dreimal ab, doch schließlich werden 113 Dollar abgebucht, mehr als doppelt so viel wie zuvor. Wieder erhalte ich kein Ticket.
Ich frage eine Frau mit Kind, ob wenigstens sie ein Ticket ergattert hat. Sie bejaht, ich beglückwünsche sie und frage, wie sie es geschafft hat. Über die App sagt sie. Sie zeigt mir, was ich tun muss. Nun verfüge ich über ein Ticket, für das ich zumindest nicht zusätzlich zahlen musste.
Gleichzeitig habe ich erneut meine Rechte für eine Entschädigung abtreten müssen. Zudem wird mir bewusst, dass das Vertrauen in die Kundenservice-Mitarbeiterin und ihren unsäglichen Zettel mir zum Verhängnis wurden. Ich hätte vielleicht früher ein „kostenloses“ Ticket für den 2:25-Bus bekommen können. Jetzt ist die Frau im Feierabend.
Der 2:25-Bus kommt um 3 Uhr, steht dann aber ewig vor Tür 2. Alle stellen sich in die Schlange und hoffen erneut. Dann dringt durch: Der Fahrer fehlt. Um 4 Uhr kommt eine Fahrerin, sie ist die Erste, die mehr als Dienst nach strenger Vorschrift macht. Sie hätte mich mit meinem Paypal-Beleg mitfahren lassen.
Aber natürlich haben eine Familie und eine alte Frau für die verbliebenen vier Plätze Vorrecht. Das erste Mal hatte ich zumindest das Gefühl, dass jemand etwas für mich tut. Bisher hatte ich den Eindruck, selbst in der Bringschuld zu sein. Ein Moment, der mich trotz allem tröstet.
Andererseits steht nun endgültig fest, dass ich die zweite Nacht in zwei Tagen ohne Dach, Essen, Trinken und Schlaf verbringe. Ich bin 22 Stunden wach, war den ganzen Tag auf den Beinen und habe fünf Stunden, bis hoffentlich mein Bus fährt. Ich schreibe meinem Kollegen, dass ich meine Schicht am nächsten Tag leider nicht um 14:30 Uhr antreten kann, zum Glück kann er einspringen.
Nur Obdachlose mit Ticket dürfen bleiben
Ich beobachte die Situation um mich: In jedem Winkel liegen Menschen auf Jacken, Decken, Koffern oder dem bloßen kalten Steinboden und versuchen zu schlafen. Darunter sind Kleinkinder und alte Frauen.
Ein Vater zieht sich bis aufs Unterhemd aus, damit sein Kind und seine Frau möglichst viel zum Unterlegen haben. Er verschränkt die Arme, krümmt sich auf den unbequemen Gittersitzen zusammen und zittert vor Kälte. Die Armlehnen sind so angebracht, dass man sich nicht hinlegen kann.
In einer anderen Ecke liegt ein geschätzt siebenjähriges Mädchen auf dem Boden und schläft. Es wäre fast ein Wunder, wenn sie nur mit einer Erkältung davonkommt. Ich selbst schlafe auf den unbequemen Gittersitzen keine Minute. Ich halte mich mit Gesprächen wach und lerne den in Dauerschleife laufenden Wetterbericht von Akkuweather auswendig.
Zu allem Überfluss findet ein Schichtwechsel bei der Sicherheit statt. Der neue Mitarbeiter ist offenbar sehr motiviert: Etwa einmal pro Stunde weckt er alle und lässt sich die Tickets zeigen. Er will Obdachlose aufspüren; besser gesagt: Nur Obdachlose mit Ticket dürfen bleiben.
Kurz vor 7 Uhr dämmert es. Meine Hoffnung, dass das verrammelte Café vielleicht vor meiner Abfahrt öffnet, zerschlägt sich. Immer wieder gehe ich zu den Automaten, zumal ich auch für die siebenstündige Rückfahrt Kalorien und Flüssigkeit brauche.
Um 7:50 Uhr kommt die Ansage, dass sich die ersten vor der verhexten Tür 2 mit Ticket Aufstellung nehmen sollen. Als ich um 9 Uhr tatsächlich in meinen Bus steige, stehen die Menschen dort immer noch. Es gibt ein „Mechanical Issue“. Immerhin einmal habe ich so etwas wie Glück.
Kein Anspruch auf Entschädigung von Flixbus
Im Bus beginne ich mit den Beschwerden bei Flixbus. Ich mache Screenshots all meiner Belege, Tickets und Mails, schildere meinen Fall. Ich lade alles in einen Chat, ein „Experten-Agent“ soll sich dann bei mir melden. Das Fenster lasse ich offen, nach zwei Stunden ist der Chat jedoch abgestürzt. Beim zweiten Mal passiert das Gleiche.
Ich schreibe eine Mail an Flixbus, schon am Abend kommt die automatische Antwort, dass leider kein Anspruch auf irgendeine Entschädigung besteht. Dazu hätte ich die Fahrt stornieren müssen, doch mangels Alternative ging das nicht.
Vom nahegelegenen Flughafen zu fliegen, wäre kaum schneller, dafür deutlich teurer gewesen. Eine Zugverbindung gibt es gar nicht. Am Ende ist es Paypal, das mir zumindest die beiden Zahlungen für die nie erhaltenen Tickets zurückholt. Doch für insgesamt 22 Stunden Verspätung, zwei Nächte auf Bahnhöfen, Ausgaben für Essen, Trinken, Uber, das verpasste Eishockey-Spiel, mögliche gesundheitliche Folgen und absolute Erschöpfung sehe ich keinen Cent.
Diese Nächte haben mir viel über Amerika verraten, als Verbraucher bist du ein Nichts. Von Entschädigung ab 60 Minuten Verspätung, Wasserausgabe und ähnlichem, das ich in Deutschland schon erlebt habe, können Amerikaner nur träumen. Am Ende bleibt ein positives Gefühl: Die Deutsche Bahn kann mich nicht mehr schocken.